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# taz.de -- Leipziger Künstler und Elektro-Produzent: Mit obskuren Klängen di…
> Lorenz Lindner produziert kopfstarke elektronische Musik. Im Ausland wird
> er dafür geschätzt, hierzulande ist er noch zu entdecken.
Bild: Lorenz Lindner. Manchmal aber auch: Mix Mup.
„Ich habe immer Phasen, in denen ich als Musiker bestimmten Genres verfalle
und als Maler bestimmten Farben.“ Idealerweise strebt der Leipziger
Künstler und Elektronikproduzent Lorenz Lindner die strikte Trennung an:
Als Musiker und DJ nennt er sich Mix Mup oder Molto, bildende Kunst kreiert
er unter seinem bürgerlichen Namen.
„Aber eigentlich ist das Mischen ein Produktionsmerkmal von mir. Ich
interessiere mich für Zwischenräume. Vermarktungstechnisch ist das
natürlich nicht ganz clever, aber ich bin halt ein Sturkopf.“ Ein ziemlich
poetischer Sturkopf, muss man ergänzen. Ein Sturkopf, dessen Sturköpfigkeit
absolut beflügelnd und immer grenzüberschreitend wirkt, egal ob der
35-Jährige beim Jazzfestival Kopenhagen live abstrakte Elektronik spielt
oder in der legendären New Yorker Radiosendung „Beats in Space“
House-Platten auflegt.
„Giallo“ heißt eines von Lindners eigenwilligen Mischwerken, ein Gemälde,
zu sehen auf seiner Homepage, so benannt nach den
Hardboiled-Thriller-Filmen aus dem Italien der sechziger und frühen
siebziger Jahre, für deren Soundtracks und Tonspuren er sich begeistert.
Ursprünglich hatte Lindner eine Grundierung aus gelber Farbe angelegt, und
damit die vergilbte Technicolor-Farbenpracht jener B-Movies assoziiert.
Obendrauf setzte er eine dicke Schicht Rot. Die tut richtig weh. Aus dem
Zusammenhang reißen, in den Zusammenhang schmeißen, diese Arbeitsweise hört
man auch aus der Musik von Lindner. Sie führt zu schwer ausrechenbaren,
daher aber umso reizvolleren Ergebnissen.
„Versatile International Service“ heißt Lindners neues zweites, unter dem
italophilen Signet Molto entstandenes Album. 18 Stücke sind darauf
enthalten, instrumentale Musik, die ausladend atmosphärisch erzählt, obwohl
sie sparsam produziert ist und mit Lücken operiert. Etwa in dem
neunminütigen Track „Flexible Säulen“, der sich aus einer isolierten
Synthie-Hallfahne entwickelt und einen Telefonklingelton einsam bimmeln
lässt, während Klopfgeräusche, Geigerzählerbrummen und tuschartige
Percussion scheinbar aus weiter Ferne erklingen, aber immer bedrohlicher,
immer näher kommen.
## Auftragsarbeit fürs Radio
Komponiert wurden die Tracks aber zunächst als Auftragsarbeit für den
Bayerischen Rundfunk. „Versatile International Service“, der Titel klingt
nicht nur funktional, damit hat Lindner auch den Ansatz von „Library Music“
übernommen, einer Urform der funktionalen Klangkulisse. So wurde in den USA
und in Großbritannien Musik genannt, die als „Bett“, als Untermalung für
Filme, TV- und Radiosendungen verwendet wurde. Meist sind das kurze
Sequenzen, die als Unterstützung für einzelne dokumentarische Szenen oder
im Einsatz als Pausenmusiken gedacht waren.
Die Werke dieser heute vergessenen Studio- und Auftragsmusiker erschienen
auf anonymisierten Schallplatten, auf deren Cover-Rückseiten in
tabellarischer Form Musikfarbe, Länge des Stücks und Art der
Instrumentierung verzeichnet waren. Und, ganz wichtig, es gab auf dem Cover
jeweils einen „Raum für Notizen“, eine leere Fläche, gedacht für
schriftliche Anmerkungen von Radio- und Filmproduzenten.
Lindner appropriiert Library Music für einen raffinierten Ausflug in
elektroakustische Klangwelten. Mit „Versatile International Service“
versieht er die Gebrauchsmusik außerdem mit seiner eigenen Handschrift.
„Ich bin in Frankreich unterwegs gewesen, habe dort beim Wandern mit einem
Aufnahmegerät auf Stöckchen und Hölzern improvisiert. Das habe ich dann in
Leipzig weiterverwendet, mich in eine Stimmung versetzt, andere Spuren
drüber gespielt. Alles ist first take. Alles Rauschen, alle
Begleitgeräusche habe ich beibehalten. Normalerweise werden diese
rausgefiltert oder übertüncht. Bei mir entsteht durch das Rauschen gerade
Dichte.“
Zur Einstimmung auf seine Arbeit hörte sich Lindner in Großbritannien durch
eine Sammlung von Library Music. Zu ihrer Entstehungszeit besaß dieses
„Genre“ keinerlei Mehrwert, inzwischen aber hat es sich auch durch die
forcierte Nischenwirtschaft im Netz zum begehrten Sammelobjekt entwickelt.
Lorenz Lindner wiederum misst dem Sammeln keinerlei Wert bei. „Ich sammle
Sachen, die als Müll deklariert sind. Lieber lege ich mir eine Kiste mit
zehn alten Schrottplatten zu als ein Album, das 40 Euro kostet“, sagt er.
Lindner sampelt von den alten Platten etwa Drumsounds, aus denen er dann
Loops formt.
## Mindestens einmal monatlich raven
Eigenwillig an Lindners eher für den Dancefloor gedachten Arbeiten unter
dem Namen Mix Mup sind nicht nur die obskuren Klangquellen, sondern auch
der Aufbau seiner Tracks. Lindners Musik holt die Tänzer nie sofort ab, er
zieht sie langsam in seinen Soundscape, erschafft eine feierliche Stimmung.
Lieber nimmt Lindner dabei Umwege in Kauf und landet mit seiner Musik doch
direkt im Herzen. „Mir selbst gefallen die DJs und Tracks auf dem
Dancefloor am meisten, zu denen man erst Vertrauen aufbauen muss. Ich finde
es wagemutiger, House, eben nicht vorzuprogrammieren und formstreng
durchzudeklinieren.“
Lindner ist eng mit der kleinen, aber feinen Leipziger Elektronikszene
verbunden, mit seinem Seelenbruder, dem Produzenten Kassem Mosse (aka
Gunnar Wendel), der Lindners Molto-Album auf dem eigenen Label Ominira
veröffentlicht, kollaboriert er regelmäßig als MM/KM. „Es gibt in Leipzig
einen gewissen Luxus der Geschwindigkeit. Der Puls im Alltag geht
langsamer, ich kann daher in Ruhe arbeiten. Das ist nichts, was sich
erkennbar sofort in meinem Sound niederschlägt, aber es erlaubt mir eben,
mir mehr Zeit zu lassen. Niemand verlangt etwas von mir, es klopft nicht
ständig an meine Studiotür.“
Die Idee von Rave hat Lindner verinnerlicht: Wenn er nicht selbst auflegt
oder spielt, hat er es sich zum Vorsatz gemacht, mindestens einmal im Monat
zu raven. „Es funktioniert als Illusion unheimlich gut. Was mich daran
fasziniert, es wird ein Raum geschaffen, zu dem jeder Zugang hat,
idealerweise tanzen Fremde miteinander. Es ist ein temporärer
Ausnahmezustand, wenn es gut war, fällt man danach in ein Loch.“
Sehr wichtig ist Lorenz Lindner der Austausch mit dem Ausland. Das sagt er
nicht nur so, Lindner ist im Erfurt zu DDR-Zeiten aufgewachsen, da blieb
das Ausland unerreichbar. „Ich war immer ein großer Musikfan. Meine Eltern
hatten Bekannte, die aus dem Westen Platten geschickt haben, und wir hatten
zu Hause auch Kassetten, mit denen wir aus dem Westradio fleißig
aufgenommen haben. Alles war limitiert, und ich habe mir Songs immer und
immer wieder angehört, alles ganz genau analysiert.“
Mit Kassem Mosse hat Lindner als Mix Mup soeben das
Skateboard-Konzept-Minialbum „have you seen them“ beim Londoner Label The
Trilogy Tapes veröffentlicht, und für das belgische House-Label Meakusma
nahm Lindner vor wenigen Monaten „Beach Hotel De Haan“ auf, herausfordernde
Tanzmusik mit einem lässigen Twist. „Meine Aufgabe ist es, weltoffene Musik
zu machen. Der Rechtsradikalismus im Osten lähmt, davon werde ich mich aber
nicht beeindrucken lassen. Leipzig und seine gegenkulturellen Orte stellen
sicher, „dass es kein zweites Dresden gibt,“ erklärt Lorenz Lindner und ist
plötzlich sehr bestimmt.
10 Jan 2016
## AUTOREN
Julian Weber
## TAGS
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