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# taz.de -- Flüchtlingscamp in Berlin-Kreuzberg: Krieg den Hütten
> „Wir haben sie gebaut, wir reißen die Hütten auch wieder ab“, sagt ein
> Flüchtling. Doch nicht alle geben das Camp freiwillig auf – nun wurde es
> geräumt.
Bild: Gehen oder nicht gehen? Streit auf dem Oranienplatz am Dienstag.
BERLIN taz | Um 6.55 Uhr am Dienstagmorgen kommt die SMS: „Alarm! Der
Oranienplatz wird geräumt.“ Seit Monaten fürchteten viele in Berlin,
Innensenator Frank Henkel (CDU) werde seine Drohung wahr machen und das
Protestcamp der Flüchtlinge in Kreuzberg schließen. Jetzt scheint es so
weit zu sein. Doch die Lage an diesem Morgen ist kompliziert: Nur ein paar
Zivilpolizisten sind vor Ort – es sind Flüchtlinge, die die Zelte und
Hütten des Camps abreißen, das in den 18 Monaten seines Bestehens zum
Symbol für die Flüchtlingsproteste schlechthin geworden ist.
Mit Hämmern, Brechstangen und bloßen Händen reißen sie Bretter von den
Wänden, ziehen Planen von den Dächern und werfen Möbel heraus. Bagger
greifen die Trümmer und fahren sie zu zwei riesigen Schuttcontainern. Die
Stimmung ist aufgeheizt. Längst nicht alle Flüchtlinge sind damit
einverstanden, den Platz aufzugeben.
„Hört auf“, brüllt ein Mann eine Gruppe an, die sich gerade eine Holzhüt…
vornimmt.
„Bete für ein besseres Leben, statt darum hierzubleiben“, entgegnet ihm ein
anderer.
„Ich lande auf der Straße und das wisst ihr.“
„Alles was wir wissen, ist: Das Spiel hier ist vorbei, Bruder.“
Im Oktober 2012 hatten Flüchtlinge aus ganz Deutschland den Platz besetzt.
Sie forderten ein Ende der Residenzpflicht, der Abschiebungen, gleiche
Sozialleistungen und ein Recht auf Wohnung. Kurzum: Sie protestierten gegen
das deutsche Asylsystem. Und hatten dabei durchaus Erfolg. Doch in zwei
Wintern haben sie sich in quälenden Streits zermürbt. Die Welle der
Solidarität ebbte ab, konservative Medien verlangten immer lauter die
Räumung des Platzes. Doch der Senat zögerte, die Polizei zu schicken – noch
immer gab es in der Stadt zu viel Sympathie für das Anliegen der
Flüchtlinge.
## Die Lampedusas
Sieben Wochen hat Berlins Integrationssenatorin Dilek Kolat mit den
Flüchtlingen über die Räumung verhandelt. Doch ihr Angebot – Unterkunft
plus eine „wohlwollende Prüfung“ der Anträge auf Asyl oder Aufenthaltsrec…
– war für Teile der Campbewohner unannehmbar. Eine Ausnahme bildete eine
Fraktion, die in Italien bereits Asyl erhalten hat: die sogenannten
Lampedusas – benannt nach dem Ort, wo sie in Europa landeten. Sie dürfen
sich eine Zeit lang legal in Deutschland aufhalten, fordern aber vor allem
eine Arbeitserlaubnis. Der Senat setzte diese unterschiedlichen Interessen
der Flüchtlinge gezielt ein.
Wortführer der Lampedusas ist Bashir, ein massiger Mann aus Nigeria. Er hat
die Verabredung mit dem Senat unterzeichnet – gegen den Willen der Mehrheit
der Verhandlungsdelegation. Heute ist er der Wortführer des Abreißtrupps.
„Wir haben die Hütten gebaut, wir reißen sie auch wieder ab“, bekräftigt
er. Ein Umstehender nickt. „Ich war Elektroingenieur in Niger, ich kann für
mich sorgen“, sagt er. „Wir haben keinen Bock mehr, auf diesem Platz zu
leben und zu hoffen, dass die Leute uns Kleingeld zuwerfen.“
Von der einstigen Geschlossenheit der Bewohner ist nur noch wenig übrig.
Die Gruppe um Bashir knöpft sich die nächste Hütte vor. Einzelne versuchen
den Abriss aufzuhalten. „Lasst uns arbeiten“, brüllt einer der Afrikaner
und schubst die Blockierer weg. Später wird die Polizei einschreiten, weil
sich einzelne Bewohner in den letzten Hütten verschanzen.
Der ganze Frust der letzten zwei Jahre bricht jetzt durch. Wild hämmern die
Flüchtlinge auf die Hütten ein, als seien die schuld an verpassten Chancen,
verlorener Zeit.
„Die sind ja wie im Rausch“, sagt eine deutsche Unterstützerin. Immer mehr
Menschen kommen, alarmiert von der SMS-Kette. Sie sehen zu, wie der
Müllberg langsam wächst, einige haben Tränen in den Augen. „Wir können
nichts machen, oder?“, fragt eine junge Frau in die Runde. „Nein“, sagt e…
Zuschauer. „Scheiße.“ Andere versuchen noch schnell, Dinge
zurückzubekommen, die sie den Flüchtlingen geliehen hatten.
## „Die wurden gekauft“
Vor seiner Hütte steht Prince, 24, beige Lederjacke, weißer Kragen. Er
stammt aus Ghana. Seine Hütte hat er letztes Jahr gebaut, sie ist eine der
schönsten und stabilsten auf dem Platz gewesen. „200 Euro habe ich
ausgegeben“, sagt er. Elektrokabel von Bauhaus, Dachpappe, Isolierstoff.
Warum er nicht auf das Angebot des Senats eingehen will und in eine der
Notunterkünfte zieht? „Wenn wir erst da sind, gibt es keinen Protest mehr“,
sagt er. „Dann interessiert sich niemand für uns. Ich bin Schweißer, aber
jetzt ist mein Leben, hier zu stehen und zu warten. Ich will arbeiten, hier
bleiben dürfen. Und dafür müssen wir kämpfen.“
„Unsinn“, kommentiert Bashir. „Die Proteste gehen weiter. Wir sind nicht
der Platz, wir sind die Verbindung zwischen uns. Wenn der Senat uns nicht
gibt, was er versprochen hat, werden wir aus den Heimen heraus genauso
demonstrieren wie hier.“
Prince glaubt das nicht. Der Senat habe sich die Gruppe um Bashir mit
Zugeständnissen gekauft. „Die Polizei hätte das nicht so einfach räumen
können“, sagt er. „Die Leute hätten sich mehr gewehrt.“ Er selbst will
seine Hütte verteidigen, „aber wenn der Bagger kommt, gehe ich weg, das ist
ja lebensgefährlich.“
Der Bagger rückt näher, schon schiebt er die Holzhütte zusammen, die der
von Prince am nächsten steht. Ein Bauarbeiter mit orangefarbener Weste
macht dem Fahrer Zeichen. Der Bezirk hat sie beauftragt. „Wir dachten, es
gibt bestimmt Probleme, aber es ist ja alles ganz friedlich“, sagt er.
„Eigentlich sollten die Flüchtlinge ja selber abbauen, aber wir helfen mit,
dann geht es schneller.“ In zwei, drei Stunden sei alles erledigt, schätzt
er.
Die Hütte, die der Bagger zusammenschiebt, ist vor dem Abbau nicht
geöffnet, geschweige denn geleert worden. Was passiert mit den Sachen? „Das
wird alles in die Unterkunft gebracht.“ Der Bagger greift in den Haufen und
fährt Richtung Müllcontainer, an der Schaufel hängen Schlafsäcke,
Isomatten, Kleidung. Und das? „Das war auch vorher schon Müll.“
## So ein „Drecksplatz“
Am Rande des Platzes steht der Kreuzberger CDU-Abgeordnete Kurt Wansner. Im
letzten Jahr hatte er Unterschriften für die Räumung des „Drecksplatzes“
gesammelt und war dafür von der linken Szene bedroht worden. Jetzt gibt er
dem ZDF ein Interview. „Das ist das Beste, was denen passieren konnte“,
sagt er. „Sie kriegen jetzt endlich richtige Betten. Wer will denn so
wohnen?“ Aber wenn doch nicht alle gehen wollen? „Das ist doch immer so.
Das ist bei uns in der Partei auch so, da muss sich die Minderheit der
Mehrheit beugen.“
Jan kann darüber nur lachen. Er ist ein Unterstützer der Campbewohner. „Der
Senat lässt die Flüchtlinge die Drecksarbeit machen. Die ganzen
Verhandlungen liefen auf diese Spaltung hinaus“, sagt er. Für viele der
Flüchtlinge sei aber nach wie vor „völlig offen“, was mit ihnen geschehen
soll.
Später steht Prince, der Schweißer aus Ghana, neben einem Haufen, der vor
Kurzem noch sein Haus war. Darunter sind Möbel und Kleidung zu sehen. Will
er nichts retten, bevor der Bagger kommt? „Den Schrott brauche ich jetzt
auch nicht mehr“, sagt er bitter. „Was ich brauche, ist eine Idee, wie mein
Leben jetzt weitergehen soll.“
Dieser Artikel wurde am 9. April um 10.07 Uhr geändert.
8 Apr 2014
## AUTOREN
Christian Jakob
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