| # taz.de -- Migration und Rassismus: Sind die neunziger Jahre zurück? | |
| > Auch wenn sie jetzt wieder Flüchtlingsheime anzünden und Flüchtlinge | |
| > angreifen – das Deutschland von einst kriegen die Rassisten nicht zurück. | |
| Bild: Flüchtlingsunterkunft in Berlin | |
| Oft stand in der taz, dass Deutschland dazugelernt habe. Dass es heute | |
| anders umgehe mit denen, die kommen, obwohl es immer mehr werden. | |
| Solidaritätsinitiativen allerorten, weniger Schikanen in Asylgesetzen, | |
| Bekenntnisse der Mitte zur Einwanderungsgesellschaft. | |
| Die Ereignisse der letzten Zeit lassen daran zweifeln. Die Zahl der | |
| Angriffe auf Flüchtlinge und ihre Unterkünfte hat sich in den letzten zwei | |
| Jahren jeweils etwa verdoppelt. Jetzt ist April, und es dürfte schon mehr | |
| Anschläge gegeben haben als im ganzen Jahr 2014. Sind die Neunziger zurück? | |
| Freital in Sachsen, letzte Woche: Hunderte ziehen durch die Stadt, rufen: | |
| „Wer Deutschland nicht liebt, soll Deutschland verlassen.“ | |
| Leipzig, am letzten Samstag: Ein junger Syrer wird in den Hals geschossen, | |
| er stirbt fast. Die Polizei gibt den Vorfall erst zwei Tage später bekannt. | |
| Statt auf Nachfrage den Schuss gleich zu bestätigen, warnt sie erst mal vor | |
| „voreiligen Schlüssen“, dass die Täter „Deutsche“ seien. | |
| Berlin, am Montag: Die Linken-Vorsitzende Katja Kipping fordert die | |
| Bundesregierung auf, mehr dagegen zu unternehmen, dass Linken-Politiker | |
| wegen ihrer Pro-Einwanderungs-Haltung Morddrohungen bekommen. | |
| Dresden, am Montag: Zehntausend Pegida-Demonstranten wünschen die | |
| „Volksverräter“ zum Teufel. | |
| Berlin, am Dienstag: Ein Heim für unbegleitete minderjährige Flüchtlinge | |
| brennt aus. Die Ursache ist noch unklar. Niemand wurde verletzt, doch das | |
| Haus ist unbewohnbar. Auch eine Containerunterkunft in Hamburg-Hammerbrook | |
| brennt aus, auch hier sind die Gründe unklar, auch hier leben unbegleitete | |
| minderjährige Flüchtlinge. | |
| Kittlitz, Brandenburg, am Mittwoch: Der Ortsbeiratsvorsitzende tritt nach | |
| Drohungen wegen eines Flüchtlingsheims zurück. | |
| ## Die Gewalt nimmt zu | |
| Ist das wieder das Deutschland, vor dem alle Angst haben – auch der Staat | |
| selbst? Bricht eine neue Zeit der Pogrome an? Und wenn ja: Wie geht es dann | |
| weiter? Die Zahl der Flüchtlinge hat sich von 2007 bis 2014 verzehnfacht. | |
| Bis Ende 2015 könnte sie sich verzwanzigfacht haben. Auch die deutlich | |
| höhere Zahl während des Krieges in Jugoslawien hat Deutschland gut | |
| verkraftet – gleichwohl nutzen die Nazis die Zunahme als Rechtfertigung für | |
| ihre Gewalt. | |
| Doch es gibt auch eine Öffnung. Ob diese den Namen Willkommenskultur | |
| verdient hat, sei dahingestellt. Doch wo sich früher nur winzige Grüppchen | |
| um Flüchtlinge kümmerten, ist heute das Ausmaß von Solidaritätsinitiativen | |
| kaum zu überblicken. Während früher Medien auch für die allerhärtesten | |
| Abschiebeschicksale kaum zu interessieren waren, findet sich heute in den | |
| Zeitungen fast jeden Tag eine Geschichte über Asylsuchende. | |
| 1992 verweigerte Helmut Kohl die Teilnahme an der Trauerfeier für die Opfer | |
| von Mölln – er wolle keinen „Beileidstourismus“ betreiben. Merkel hat | |
| letzten Endes für die NSU-Opfer einen Staatsakt veranstaltet; als Ostern in | |
| Tröglitz das Flüchtlingsheim brannte, war Stunden später der | |
| Ministerpräsident vor Ort. Fast alle großen Medien sind in Sachen | |
| Flüchtlinge auf einen vergleichsweise freundlichen Kurs geschwenkt. Für | |
| Pegida haben sie nur Spott übrig. Es war der Generalsekretär der CDU, der | |
| ein Einwanderungsgesetz vorgeschlagen hat, das nun greifbar nahe scheint. | |
| Die störrische, völkisch motivierte Gegnerschaft zur Migration ist nicht | |
| mehr haltbar. | |
| Trotzdem ähnelt die Gewalt gegen Migranten mittlerweile der in den | |
| Neunzigern. Gleichzeitig haben die Migranten - und die Flüchtlingskämpfe - | |
| die Gesellschaft unumkehrbar modernisiert. Weite Teile der Gesellschaft | |
| akzeptieren heute Migration, auch wenn selbst das sich liberal wähnende | |
| Lager durchaus seine Probleme damit hat – zu besichtigen immer dann, wenn | |
| im eigenen Viertel Flüchtlingsheime eröffnen. | |
| Doch was uns erwartet, ist keine rassistische Hegemonie, nicht einmal in | |
| ostdeutschen Käffern, sondern eine wachsende Polarisierung: zwischen denen, | |
| die die Vorstellung von einem offenen Deutschland nicht ertragen, und den | |
| anderen, die für eben dieses einstehen. | |
| Kann man etwas gegen das Auseinanderdriften tun? Ja. Solange der Bund sich | |
| weigert, die Kommunen, die die Flüchtlinge aufnehmen müssen, ausreichend zu | |
| finanzieren, ist es nicht verwunderlich, wenn die Nazis behaupten, für das | |
| Jugendzentrum sei kein Geld da, für Asylbewerber aber schon. Und: Das | |
| Versagen der Justiz bei der Verfolgung rechter Gewalt, Paradebeispiel ist | |
| die katastrophale NSU-Aufarbeitung, muss ein Ende haben. | |
| ## Polarisierung aushalten | |
| Die große Frage aber lautet, wie der eine Teil der Gesellschaft mit dem | |
| anderen umgehen soll. Man wird aushalten müssen, dass die Spannung zunimmt. | |
| Der Riss geht selbst mitten durch die Union. Ihre einst offen | |
| fremdenfeindlichen Positionen dürften die Täter von Hoyerswerda und | |
| Lichtenhagen bestärkt haben. Heute ist die Situation ambivalenter: Die | |
| Wirtschaft dringt darauf, mehr Einwanderung zuzulassen, völkischer Sound | |
| ist auch bei vielen Konservativen nicht mehr en vogue. Dabei geht es der | |
| Wirtschaft um Arbeitsmigration, Flüchtlinge sind weniger ihr Thema. „Auf | |
| der Straße“ aber wird die Frage der Internationalisierung Deutschlands vor | |
| allem am Beispiel der nichteuropäischen Flüchtlinge verhandelt. Deshalb | |
| richtet sich die Gewalt vor allem gegen sie. | |
| Während am Dienstag in Berlin und Hamburg Flüchtlingsheime brannten, | |
| veranstaltete Bundesinnenmininister de Maizière eine Konferenz, um ein | |
| Einwanderungsgesetz zu verhindern. Gleichzeitig strickt er an einem neuen | |
| Gesetz zur Masseninhaftierung von Flüchtlingen, er ist eine treibende Kraft | |
| der EU-Abschottung und mitverantwortlich dafür, dass immer wieder aufs Neue | |
| Hunderte Flüchtlinge im Mittelmeer ertrinken. Teile der sächsischen CDU | |
| zeigen Verständnis für Pegida, die CSU ist in Teilen von der AfD nicht zu | |
| unterscheiden. Doch man kann über Einwanderung nicht so streiten wie über | |
| Kohlekraft oder Hartz IV. Nirgendwo sonst ist der Grat zum | |
| Vernichtungswillen so schmal wie in der Migrationsdebatte. | |
| Die Union wird sich ihre zukünftigen Signale überlegen müssen. Der | |
| politische Preis für ihre Ambivalenz in Sachen Einwanderung jedenfalls wird | |
| angesichts der zunehmenden Gewalt gegen Migranten steigen. | |
| 16 Apr 2015 | |
| ## AUTOREN | |
| Christian Jakob | |
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