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# taz.de -- Essay zu Flüchtlingspolitik: Aufklärung vor Europäern retten
> Nicht nur Geflüchtete sind in Gefahr. Auch die Ideale des Kosmopolitismus
> und Humanismus müssen vor der EU-Migrationspolitik gerettet werden.
Bild: „Kaum ein Recht wurde so verletzt wie das Recht auf Bewegungsfreiheit.�…
In seiner Schrift [1][„Zum ewigen Frieden. Ein philosophischer Entwurf“]
von 1795 bemerkt Immanuel Kant, dass alle „Weltbürger“ ein Recht auf
Bewegungsfreiheit haben sollten, ein Recht, das er in der gemeinsamen
Eigentümerschaft an der Erde auf Seiten der ganzen Menschheit verankert.
Heute können wir uns kaum ein Recht vorstellen, das so umfassend verletzt
worden ist wie das Recht auf Bewegungsfreiheit.
Migrant_innen sind gewissermaßen die Überbringer der Botschaft Kants
hinsichtlich des kosmopolitischen Rechts, sich furchtlos und frei über
Grenzen hinweg zu bewegen, während die vor der Haustür Europas
stattfindende humanitäre Katastrophe einen europäischen, letztlich einen
Verrat an den Prinzipien der Aufklärung darstellen.
Kant schlägt einen „Kosmopolitismus“ als Leitprinzip vor, um Menschen vor
Krieg zu schützen und gleichsam ein Recht zu etablieren, das moralisch auf
dem Prinzip universeller Gastfreundschaft zu begründen wäre. Durch die
Förderung von Sozialität und Menschlichkeit symbolisiert der
Kosmopolitismus eine transkulturelle Kompetenz der Aushandlung kultureller
Differenz, einen Schritt über ein enges territoriales Verständnis von
Identität und Zugehörigkeit hinaus.
Trotz nationaler, religiöser, ethnischer und geschlechtsspezifischer
Differenzen begründen, auf der Grundlage ihrer geteilten Vergangenheiten
und miteinander verwobenen Zukünfte, alle Menschen eine einzige globale
Gemeinschaft. Kant zufolge handeln Weltbürger vom pluralistischen
Standpunkt der Menschheit aus als kollektive Akteure und nicht aus der
Position egoistischer Individuen heraus.
Basierend auf der normativen Befürwortung eines expansiven globalen
Bewusstseins, lehnt ein Kosmopolitismus enge und beschränkte territoriale
Loyalitäten ab. Von uns als Bürger_innen liberaler Demokratien wird
erwartet, dass wir Verantwortung jenseits der Schranken unseres eigenen
beschränkten Eigeninteresses übernehmen – dies insbesondere im Hinblick auf
wachsende globale interdependente Abhängigkeiten. Das normative Ideal des
Aufklärungskonzepts des Kosmopolitismus ist das Streben nach einer
perfekten Zivilunion der Menschheit.
## Sterben lassen zur Sicherung der Grenzen
Die jüngsten Tragödien an den Küsten Europas signalisieren wiederum ein
Scheitern der Aufklärung und deren Prämissen „Menschlichkeit“ und
„Humanismus“. Erneut sind wir Zeugen einer Krise der europäischen
Ambitionen, der Garant globaler Gerechtigkeit, Menschenrechte und
Demokratie zu sein. Die Enttäuschung über Europa in Folge des Kolonialismus
und des Holocausts rückt nochmals ins Blickfeld und ruft zur Reflexion auf.
Die gegenwärtige Grenzpolitik der EU, so muss unumwunden bemerkt werden,
läuft darauf hinaus, Migrant_innen im Namen der Sicherung der europäischen
Grenzen sterben zu lassen.
## An Bedingungen geknüpfte Gastfreundschaft
In seiner dekonstruktiven Lesart der kantischen kosmopolitischen Ethik legt
Jacques Derrida dar, dass die kant’sche Gastfreundschaft letztendlich nur
eine eingeschränkte Geltung habe, da sie an die fragwürdige Bedingung
geknüpft bleibe, dass die Gäste sich benehmen. Derrida spürt hier Elemente
einer Feindseligkeit auf, die ein intrinsischer Teil der kant’schen
Reflexionen über Gastfreundschaft sind und spricht in diesem Zusammenhang
von der „Hostpitalität“, also feindseligen Gastfreundschaft – der
„bedingten Gastfreundschaft“ Kants.
Nach Derrida würde eine wahrhaft kosmopolitische Ethik absolute
Gastfreundschaft beinhalten, die bedingungslos sein müsse und die sich
nicht dadurch eingeschränkt zeige, dass die Gäste Kriterien oder Pflichten
erfüllen müssten, um eben jene Gastfreundschaft zu genießen.
Die Verwundbarkeit der dem Meer schutzlos Ausgelieferten zeugt von der
Tatsache, dass die progressiven Ziele der Aufklärung in Europa, ihrem
angeblichen Geburtsort, bedroht sind. Um der weitreichenden Verdrossenheit
über die hohen Prinzipien der Aufklärung entgegenzuwirken, müssen drum die
Normen des Kosmopolitismus und des Humanismus vor der zynischen
Vorgehensweise der Migrationspolitik der EU gerettet werden.
Die jüngsten Schiffsunglücke im Mittelmeer sind eine grausige Erinnerung
daran, dass im postkolonialen Europa nicht nur Geflüchtete sondern die
Aufklärungsideale selbst in Gefahr sind.
5 May 2015
## LINKS
[1] http://philosophiebuch.de/ewfried.htm
## AUTOREN
Nikita Dhawan
## TAGS
Jacques Derrida
Humanismus
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