# taz.de -- Von der Leyen und ihre rechten Partner: Brandmauer in Trümmern | |
> Ursula von der Leyen spielt Rechtsstaatlichkeit gegen transatlantischen | |
> Dogmatismus aus – und kooperiert auf dieser Basis mit Rechtsextremen. | |
Im Dezember 2023 bot Bundeskanzler Olaf Scholz dem ungarischen Autokraten | |
Victor Orbán an, doch einfach mal [1][für eine Kaffeepause raus zu gehen], | |
während die übrigen EU-Länder die Ukraine zur Beitrittskandidatin | |
erklärten. Orbán verließ während des EU-Gipfels tatsächlich den Raum und | |
legte kein Veto ein. Diesen Verfahrenstrick bezeichnete der ukrainische | |
Botschafter Oleksii Makeiev später als [2][„diplomatische | |
Meisterleistung“]. | |
Man will sich die Augen reiben bei der Idee, dass der rechte Hardliner und | |
Putin-Unterstützer Orbán sich durch ein kindliches „Guck mal kurz weg“ hat | |
überzeugen lassen. Hat er natürlich nicht. Wer da im Hintergrund die Fäden | |
zog, war in erster Linie EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen | |
(CDU). Ob es sich dabei um eine diplomatische Meisterleistung handelt – nun | |
ja. Der EU-Grünen-Abgeordnete Daniel Freund bezeichnete den Vorgang als | |
Kuhhandel. Von der Leyen hatte nämlich wenige Tage vor besagtem EU-Gipfel | |
den Geldhahn aufgedreht: 10,2 Milliarden Euro für Ungarn. Immerhin etwa 6 | |
Prozent des ungarischen Bruttoinlandprodukts. | |
Diese 10,2 Milliarden Euro sind Teil jener EU-Fördergelder, die eigentlich | |
eingefroren wurden, weil Ungarn gegen eine Reihe rechtsstaatlicher | |
Grundregeln verstößt. 2022 hatte das EU-Parlament dem Land [3][den Status | |
der Demokratie abgesprochen]. Bis auf eine Justizreform im Mai 2023 | |
herrschen nach wie vor autoritäre Verhältnisse. Trotzdem wurden die | |
Sanktionen gegen Ungarn im Dezember 2023 also teilweise aufgehoben. Und das | |
zufällig vor einem EU-Gipfel, bei dem man die ungarische Regierung milde | |
stimmen wollte. [4][Gegen von der Leyen läuft wegen des Vorfalls denn auch | |
eine Klage] vor dem höchsten EU-Gericht, initiiert von | |
EU-Parlamentarier*innen. Sie habe sich von Orbán erpressen lassen, | |
kritisierte die Opposition. Auch als Bestechungsversuch ihrerseits ließe | |
sich die Sache deuten. | |
## Solidarität – ja. Waffen – nicht unbedingt | |
Der Vorgang ist keine Lappalie – und in seiner Logik kein Einzelfall, | |
sondern Inbegriff der europäischen Prioritätensetzung. Man darf als | |
Regierung eines Mitgliedsstaats autoritär, antidemokratisch und offen | |
rechtsextrem sein, solange man sich den außen- und wirtschaftspolitischen | |
Leitlinien anpasst. Dass auf dieser Basis rechtsstaatliche Verfehlungen | |
hingenommen werden, ist gefährlich. | |
Natürlich braucht ein angegriffener Staat wie die Ukraine Solidarität und | |
Unterstützung. Doch ist die Solidartität der EU-Mitte-Parteien erstens | |
nicht nur hehre Absicht, sondern auch geostrategisches Interesse. Zweitens | |
beinhaltet das bloße Ansinnen an sich noch keine tragfähige Strategie, aus | |
der sich die vorbehaltslose Zustimmung aller Staaten ergeben kann. Viele | |
EU-Bürger*innen wünschen sich eine diplomatische Lösung. Ob weitere | |
Waffenlieferungen und EU-Beitrittsverhandlungen der vielversprechendste Weg | |
für eine Beendigung des Krieges sind, ist nicht ausgemacht. Auch bleibt | |
fragwürdig, ob die Ukraine den demokratischen Mindeststandards einer | |
EU-Mitgliedschaft entspricht: Seit dem russischen Angriff wurden in der | |
Ukraine [5][Pressefreiheit und Oppositionsarbeit gefährlich behindert], | |
auch Korruptionsprobleme gibt es weiterhin. | |
Die Unbedingtheit, mit der die Europäische Volkspartei (EVP) ihre | |
Ukraine-Linie durchpeitscht, ist also schon für sich genommen unangemessen. | |
Darüber hinaus aber fungiert diese dogmatische Linie den EU-Ländern | |
offenbar als Tauschpfand gegen demokratische Standards. Das Eine wird gegen | |
das Andere ausgespielt. Orbán darf weiter undemokratisch sein, wenn er bei | |
der Ukraine mitmacht. | |
## Hände schütteln mit Meloni | |
Dass es unantastbare – und fragwürdige – Grundpfeiler in der EU gibt, die | |
über der Demokratie stehen, wurde schon während der Finanzkrise in den | |
2010er Jahren deutlich, insbesondere an Griechenland. Alexis Tsipras, von | |
2015 bis 2019 griechischer Ministerpräsident, stufte die Grundbedürfnisse | |
der Griech*innen höher ein als die Interessen privater Gläubiger und | |
hatte sich an die unverhandelbare EU-Säule der Besitzverhältnisse gewagt – | |
was ihn zur ultimativen persona non grata in der EU machte und scheitern | |
ließ. | |
Mit den Rechten Giorgia Meloni (Fratelli d'Italia), Victor Orbán (Fidesz) | |
und bis 2023 auch mit der polnischen PiS-Partei arrangiert man sich im | |
Vergleich ganz gut. Sogar sehr gut. Unter der italienischen | |
Ministerpräsidentin Meloni wird gleichgeschlechtlichen Paaren die | |
Elternschaft gemeinsamer Kinder aberkannt, Seenotrettung schikaniert und | |
verfolgt. Meloni [6][plant außerdem eine autoritäre Verfassungsreform]. In | |
der EU will ihr das aber niemand so richtig übel nehmen. Vermutlich, weil | |
sie vorbildlich bei außen- und wirtschaftspolitischen Linen mitzieht. Da | |
werden Hände geschüttelt und [7][Küsschen gegeben], eine Vielzahl | |
gemeinsamer Reisen unternommen: Von der Leyen versteht sich blendend mit | |
der Postfaschistin. Und nicht nur sie. Auf Ebene der EU, der Nato und der | |
G7 könne man „gut zusammenarbeiten“, lobte auch Bundeskanzler Olaf Scholz | |
(SPD) – und brachte die Prioritätensetzung damit auf den Punkt: Es geht ums | |
Mitmachen bei Militär- und um Wirtschaftsbündnissen (G7 und Nato), nicht um | |
Demokratie und Rechtsstaat. | |
„Die Brandmauer, dass potenzielle Partner der EVP pro-europäisch, pro-NATO, | |
pro-Rechtsstaat und pro-Ukraine sein müssen, [8][verläuft im | |
Europaparlament rechts von Melonis Partei“], so bekannte kürzlich auch Jens | |
Spahn (CDU) freimütig und um keine Widersprüchlichkeit verlegen. Ähnlich | |
EU-Politiker und EVP-Vorsitzender Manfred Weber [9][im Interview mit der | |
FAZ]: „Ich habe für jede Kooperation drei Bedingungen formuliert: Pro | |
Europa, pro Ukraine, pro Rechtsstaat“. Praktisch ist der Rechtsstaat in | |
dieser Aufzählung mehr eine Formalie – und kann im Zweifel durch die | |
anderen Punkte ersetzt werden. Das aber ist nicht mit Pragmatismus für ein | |
übergeordnetes Ziel zu rechtfertigen. | |
## Milliarden für Al-Sisi | |
Der globale Rechtsruck ist eine akute Bedrohung. Ihn aus realpolitischer | |
Motivation heraus zu ignorieren, ein Auge zuzudrücken, ist | |
verantwortungslos. Außerdem drängt sich der Verdacht auf, dass die | |
menschenfeindliche Politik der rechten Regierungen von den | |
EU-Mitte-Parteien eben nicht nur als Kollateralschaden eines Kompromisses | |
billigend in Kauf genommen wird – sondern Teil einer gemeinsamen Ideologie | |
ist: Der von der mörderischen Festung Europa. | |
So fuhr Ursula von der Leyen im März 2024 mit einer Delegation | |
verschiedener EU-Regierungschefs nach Ägypten, darunter Karl Nehammer (ÖVP) | |
aus Österreich, Giorgia Meloni (Fratelli d'Italia) aus Italien und Kyriakos | |
Mitsotakis (Nea Demokratia) aus Griechenland. Eine Mischung aus | |
konservativen bis extrem rechten Politiker*innen, die [10][dem ägyptischen | |
Diktator Abdel Fatah Al Sisi ein 7-Milliardenpaket auf den Tisch legten], | |
damit dieser die Flüchtenden des afrikanischen Kontinents weiterhin | |
zurückhalte. Alle Beteiligten dürften wissen, welches Ausmaß an Grausamkeit | |
sich hinter dem Euphemismus versteckt: Gewaltsame Vertreibungen von | |
Menschen, [11][Aussetzen und Verreckenlassen in der Wüste], günstige | |
Bedingungen für Menschenhandel. In Libyen führte die EU-finanzierte | |
Abhaltung der Geflüchteten in der Vergangenheit zur [12][Errichtung | |
berüchtigter Internierungslager]. | |
## Zu weit entfernt für einen Aufschrei? | |
Bei so viel Harmonie in Sachen Abschottungspolitik und | |
Ukraine-Gemeinsamkeiten war es nur logisch und konsequent, dass von der | |
Leyen im April ankündigte, im Falle einer Wiederwahl [13][mit den | |
Europäischen Konservativen und Reformern (EKR) zu kooperieren]. Also mit | |
jener Fraktion, in der sich von Fratelli d'Italia über die PiS-Partei | |
bishin zum rechtsextremen Hardliner Eric Zemmour aus Frankreich | |
(„Reconquête“) die Neurechten und ihre Gewaltfantasien nur so tummeln. Von | |
der Leyen braucht deren Stimmen, um sich als EU-Kommissionspräsidentin im | |
Amt zu halten. | |
Weit weg scheint die Erinnerung an Thomas Kemmerich (FDP), der 2020 in | |
Thüringen sein Amt als Ministerpräsident bereits [14][nach einem Tag wieder | |
abgeben musste], weil er mit Hilfe von AfD-Stimmen gewählt worden war. Die | |
EU-Ebene ist offenbar zu weit weg, um für ähnlich starke Aufschreie zu | |
sorgen. Und letztlich ist es eben auch nichts Neues: Von der Leyen ließ | |
sich bereits 2019 [15][von den Stimmen der PiS-Partei und der Fidesz-Partei | |
ins Amt der Kommissionspräsidentin hieven] – vielsagenderweise war für die | |
ungarischen und polnischen Rechten damals schon klar, dass von der | |
CDU-Politikerin [16][im Vergleich zu Konkurrent Frans Timmermanns] keine | |
allzu harten Maßnahmen wegen demokratischer Verstöße zu erwarten seien. | |
## Rechtsruck ist längst eingetreten | |
Die tödliche, gemeinsame Abschottungspolitik zeigt: Es ist nicht nur ein | |
pragmatischer Kompromiss, sondern eine von ideologischen Gemeinsamkeiten | |
gespickte Allianz, die sich dieses Mal vollzieht. Die Brandmauer ist nicht | |
nur umgekippt, sondern auf ihren Trümmern wird der rote Teppich ausgerollt. | |
Hofiert werden jene Rechtsextreme, die erstens von der Leyens Macht | |
erhalten und zweitens den geopolitischen Dogmen ihrer Partei folgen. | |
Prognosen zufolge soll die Beteiligung bei den kommenden Europa-Wahlen | |
deshalb besonders hoch ausfallen, weil viele den befürchteten Rechtsruck | |
verhindern wollen. Der aber ist längst eingetreten und dürfte sich in | |
dieser angekündigten Kooperation verstärken. Wer dem ernsthaft etwas | |
entgegensetzen will, kann auf die Mitte-Parteien nicht zählen und muss sich | |
explizit gegen sie stellen. Das betrifft sowohl von der Leyens EVP, als | |
auch Sozialdemokraten und Grüne. Letztere haben dem Rechtsruck Vorschub | |
geleistet, indem sie die europäische Asylrechtsreform teilweise mittrugen. | |
Und auch für sie sind Rechtsstaatlichkeit und Brandmauer den | |
wirtschaftlichen und außenpolitischen Zielen meist nachgeordnet. | |
7 Jun 2024 | |
## LINKS | |
[1] /Viktor-Orban-beim-EU-Gipfel/!5977586 | |
[2] https://www.deutschlandfunk.de/botschafter-makeiev-wuenscht-sich-deutsche-f… | |
[3] https://www.tagesschau.de/ausland/europa/ungarn-eu-parlament-demokratie-101… | |
[4] /Klage-wegen-Ungarn-Hilfen/!5995078 | |
[5] https://www.deutschlandfunkkultur.de/zwei-jahre-krieg-in-der-ukraine-aufhoe… | |
[6] https://www.freitag.de/autoren/jens-renner/italien-giorgia-meloni-plant-ein… | |
[7] https://vorwaerts.de/international/europawahlen-warum-giorgia-meloni-mit-br… | |
[8] https://www.euractiv.de/section/innenpolitik/news/jens-spahn-die-brandmauer… | |
[9] https://www.faz.net/aktuell/politik/ausland/manfred-weber-von-der-leyen-wae… | |
[10] /EU-Aegypten-Abkommen/!5998616 | |
[11] /Verschleppte-Fluechtlinge-in-Nordafrika/!6009839 | |
[12] https://monde-diplomatique.de/artikel/!5826556 | |
[13] https://www.spiegel.de/ausland/ursula-von-der-leyen-offen-fuer-kooperation… | |
[14] /Anti-FDP-Demonstration-in-Erfurt/!5662519 | |
[15] https://www.zeit.de/politik/ausland/2019-07/ursula-von-der-leyen-eu-kommis… | |
[16] https://www.zeit.de/politik/ausland/2019-07/eu-spitzenposten-osteuropa-kom… | |
## AUTOREN | |
Lea Fauth | |
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