| # taz.de -- Gefangen im Auftrag Europas | |
| > Die libyschen Internierungslager für Migranten werden maßgeblich von der | |
| > EU finanziert | |
| von Ian Urbina | |
| Am 23. Dezember hat die libysche Regierung den Milizkommandanten Mohammed | |
| al-Khodscha zum neuen Chef der Einwanderungsbehörde ernannt. Zuvor war | |
| al-Khodscha verantwortlich für eines der berüchtigtsten | |
| Migrantengefängnisse des Landes, in dem Vergewaltigungen, Schläge und | |
| Erpressungen an der Tagesordnung waren. Jetzt ist al-Khodscha offiziell als | |
| neuer Leiter der „Agentur zur Bekämpfung illegaler Einwanderung“ (DCIM) | |
| bestätigt und damit zuständig für die etwa 15 Internierungslager auf | |
| libyschem Boden. | |
| Die libyschen Behörden nutzen diese Einrichtungen, um jedes Jahr | |
| zehntausende Migrantinnen und Migranten festzuhalten. Finanziell | |
| unterstützt werden sie dabei von der Europäischen Union. Die meisten der | |
| dort festgehaltenen Menschen wurden bei dem Versuch aufgegriffen, in | |
| überfüllten Booten das Mittelmeer zu überqueren. | |
| Diese Gefängnisse sind das Ergebnis der EU-Bestrebungen, die | |
| Fluchtbewegungen aus Afrika und dem Nahen Osten nach Europa aufzuhalten. | |
| Seit Jahren werden viele Millionen Euro in die Ausbildung und Ausrüstung | |
| der libyschen Küstenwache gesteckt. Damit fungiert diese | |
| Grenzschutzorganisation de facto als Stellvertretertruppe für Europa. | |
| Seit einiger Zeit fordern Menschenrechtsaktivisten, Politikerinnen und | |
| Wissenschaftler immer dringlicher, die EU müsse ihre Verwicklung in die | |
| Menschenrechtsverletzungen auf libyschem Boden überdenken. Deshalb verdient | |
| die Ernennung einer Person mit extrem umstrittenen Vergangenheit an der | |
| Spitze der DCIM besondere Beachtung. | |
| Über Jahre herrschte al-Khodscha über das Tariq-al-Sikka-Gefängnis in | |
| Tripolis, ein Ort zahlreicher Verbrechen an tausenden inhaftierten | |
| Geflüchteten, die in einer ganzen Reihe von Berichten dokumentiert wurden. | |
| Im April 2019 berichtete die Globale Initiative gegen grenzüberschreitende | |
| organisierte Kriminalität, eine NGO mit Sitz in Genf, dass al-Khodscha die | |
| Haftanstalt als Basis genutzt habe, um die Kämpfer seiner Miliz | |
| auszubilden.[1] | |
| Im selben Jahr erschien ein Bericht von Human Rights Watch, aus dem | |
| hervorgeht, dass dieses Gefängnis als Waffenlager diente; Häftlinge wurden | |
| dort gezwungen, die Waffen zu reinigen[2]– ein klarer Verstoß gegen das | |
| humanitäre Völkerrecht. Ein Reporterteam von Associated Press berichtete, | |
| ebenfalls 2019, al-Khodscha habe Millionen Euro für seine Miliz abgezweigt, | |
| die eigentlich für die Versorgung von Geflüchteten in einer Einrichtung der | |
| Vereinten Nationen in Tripolis bestimmt waren.[3] | |
| Im vergangenen Jahr interviewte Amnesty International mehrere Geflüchtete, | |
| die in Tariq al-Sikka festgehalten worden waren. Sie berichteten von | |
| Zwangsarbeit, unter anderem auf Baustellen und Feldern.[4]In einem weiteren | |
| Amnesty-Bericht aus dem Jahr 2020 über die dortigen Zustände erzählte ein | |
| Häftling von zwei Mitgefangenen, die an Tuberkulose starben, weil sie keine | |
| angemessene Versorgung erhalten hatten.[5]Und im März 2020 berichtete der | |
| Guardian, al-Khodscha habe sich von internierten Migranten Ställe für | |
| seine Pferde bauen lassen.[6] | |
| ## Milizchef als Leiter der Einwanderungsbehörde | |
| Für Wolfram Lacher, Libyen-Forscher bei der Berliner Stiftung Wissenschaft | |
| und Politik, deutet die Ernennung dieses Mannes darauf hin, „dass das | |
| missbräuchliche System der Internierungslager, das auf Gewalt und | |
| Erpressung beruht, ohne Hoffnung auf Reformen fortbestehen wird“. | |
| Eine Recherche der Journalismus-NGO The Outlaw Ocean Project, die im | |
| November 2021 in Zusammenarbeit mit dem New Yorker veröffentlicht wurde, | |
| zeigt detailliert auf, wie sogar EU-Gelder, die eigentlich diese | |
| Gefängnisse hätten humaner machen sollen, dazu genutzt wurden, ein | |
| finsteres und gesetzloses Gefängnis- und Lagersystem | |
| aufrechtzuerhalten.[7]Der Bericht zeigte auf, was mit den EU-Geldern so | |
| alles bezahlt wird, bis hin zu den Leichensäcken für Flüchtlinge, die auf | |
| See oder in den Gefängnissen umgekommen sind. | |
| Die EU hat die furchtbaren Zustände in den libyschen Haftlagern, deren | |
| Entstehung sie durch ihre Politik gefördert hat, seit Langem eingestanden. | |
| Aber sie hat wenig unternommen, um ihre Politik zu ändern oder die Täter in | |
| Libyen zur Rechenschaft zu ziehen. Die Ernennung von al-Khodscha nährt die | |
| Zweifel, ob die EU fähig und willens ist, eine effektive Kontrolle über das | |
| von ihr mitgeschaffene Gefängnissystem auszuüben. Die Lager sind vor allem | |
| deshalb überfüllt, weil die von der EU finanzierte libysche Küstenwache | |
| immer effizienter arbeitet. Dabei wird sie in beträchtlichem Maße von | |
| Überwachungsdrohnen und -flugzeugen unterstützt, die von Frontex betrieben | |
| werden. Die EU-Grenzschutzagentur überwacht das Mittelmeer und gibt die | |
| Koordinaten von Flüchtlingsbooten an die libyschen Behörden weiter. | |
| Auch die DCIM, der al-Khodscha jetzt vorsteht, ist ein direkter Empfänger | |
| von EU-Geldern. 2019 erhielt die Agentur 30 speziell umgebaute | |
| Toyota-Geländewagen, um Migranten in der Wüste im Süden Libyens | |
| abzufangen. Mit EU-Geldern kaufte die DCIM auch zehn Busse, mit denen | |
| Geflüchtete nach ihrer Gefangennahme in die Haftlager transportiert werden. | |
| Allerdings hält Mark Micallef, Libyen-Experte bei der Globalen Initiative | |
| gegen grenzüberschreitende organisierte Kriminalität, es weder für klug | |
| noch für ethisch vertretbar, den vielen Hilfsorganisationen, die in | |
| libyschen Haftanstalten lebensrettende Arbeit mit Migranten leisten, das | |
| Geld der EU zu entziehen. Er argumentiert, die EU-Beamten mögen vielleicht | |
| keine direkte Kontrolle über die Zustände in den libyschen Gefängnissen | |
| haben, doch sie könnten mehr Druck auf die libysche Regierung ausüben. Sie | |
| brauchten nur weitere Finanzhilfen für die libysche Küstenwache an | |
| nachweisliche Verbesserungen knüpfen. | |
| Doch die Europäische Union bewegt sich offenbar in genau die | |
| entgegengesetzte Richtung: Anfang Dezember 2021 lieferte Brüssel Computer | |
| und moderne Funktechnik nach Libyen, um eine Kommandozentrale auszustatten, | |
| die für das Abfangen von Bootsflüchtlingen im Mittelmeer zuständig | |
| ist.[8]Im selben Monat bewilligte die EU weitere 1,2 Millionen Euro zum | |
| Kauf von Ersatzteilen für zwei Schnellboote der libyschen Küstenwache.[9] | |
| Ende November forderte Frankreichs Präsident Macron besondere | |
| Notfallbefugnisse für Frontex mit der Begründung, Europas Zukunft hänge | |
| auch davon ab, wie es seine Grenzen schütze. Er stellte seine Forderung | |
| zwei Tage, nachdem mindestens 27 Menschen beim Versuch, den Ärmelkanal zu | |
| überqueren, ertrunken waren. | |
| In Libyen besteht eines der größten Probleme darin, dass die | |
| Zentralregierung die Kontrolle über die Milizen nur auf dem Papier ausübt. | |
| Darauf verweist die Globale Initiative gegen grenzüberschreitende | |
| organisierte Kriminalität in ihrem Report von 2020, in dem es heißt: | |
| „Regierungsbeamte sind gezwungen, Ad-hoc-Machtbefugnisse abzusegnen, die | |
| einzig darauf beruhen, welche bewaffnete Gruppe in einem bestimmten Gebiet | |
| gerade die Oberhand hat.“[10] | |
| ## EU-Geld für Leichensäcke | |
| Auf diese Weise werden von Milizen betriebene Lager formalisiert, und die | |
| Anwesenheit von DCIM-Beamten verleiht dem Ganzen einen Anschein von | |
| Legitimität. „Dies eröffnet Personen, die wie etwa al-Khodscha in | |
| bewaffnete organisierte Kriminalität verwickelt sind, einen sicheren Weg, | |
| offiziell Teil des Staatsapparats zu werden, ob beim Militär, bei den | |
| Geheimdiensten oder bei der Regierung“, so der Report weiter. | |
| Federico Soda ist Leiter des Büros der UN-Organisation für Migration in | |
| Libyen, die medizinische und andere Hilfe für in Libyen festgehaltene | |
| Migranten leistet und dafür Millionen an Hilfsgeldern aus der EU eingesetzt | |
| hat. Auf Anfrage meinte Soda, er werde abwarten und sehen, ob al-Khodschas | |
| Ernennung von Dauer sei, bevor er sich dazu äußere. | |
| Die jüngste Recherche des Outlaw Ocean Project galt vor allem dem Tod eines | |
| jungen westafrikanischen Migranten, der im Lager al-Mabani erschossen | |
| wurde. Das Lager ist eines der berüchtigsten Gefängnisse, die der Aufsicht | |
| der DCIM unterstehen. In den Tagen nach der Veröffentlichung der Recherche | |
| bezeichnete Papst Franziskus die europäische Migrationspolitik als | |
| „Schiffbruch der Zivilisation“. Und Parlamentsabgeordnete vieler Länder | |
| forderten, die Partnerschaft der EU mit Libyen zu beenden. | |
| Unter der Leitung von al-Khodschas Vorgänger Mabrouk Abd al-Hafiz hatte die | |
| DCIM in den letzten Jahren die Internierungslager mit dem übelsten Ruf | |
| geschlossen – doch sie wurden alsbald wieder eröffnet oder durch andere | |
| ersetzt. Hilfsorganisationen und auch einige libysche Beamte haben | |
| eingeräumt, dass die DCIM keine vollständige Kontrolle über diese Lager | |
| hat, da fast alle von einer der zahlreichen Milizen betrieben werden. | |
| In Interviews sprach al-Hafiz von Korruption, die sowohl in diesen Milizen | |
| als auch innerhalb der libyschen Küstenwache herrsche. Al-Khodscha war über | |
| mehrere Jahre hinweg al-Hafiz’ Stellvertreter bei der DCIM. Berichten | |
| zufolge habe al-Hafiz jedoch versucht, seinen Vize aus der Agentur | |
| hinauszudrängen. Offensichtlich vergebens. | |
| Wissenschaftler und Menschenrechtsaktivistinnen haben auf die Ernennung | |
| al-Khodschas ablehnend reagiert. Die libysche Außenministerin Nadschla | |
| al-Mangusch versucht hingegen die Aufmerksamkeit auf die EU zu lenken. | |
| Libyen sei es leid, bei der Migrationskontrolle nach Europas Pfeife zu | |
| tanzen, sagt sie und behauptet, ihr Land habe sich in keiner Weise der | |
| Misshandlung von Menschen in seiner Obhut schuldig gemacht: „Bitte zeigen | |
| Sie nicht mit dem Finger auf Libyen und stellen Sie uns nicht als ein Land | |
| dar, das Flüchtlinge misshandelt und ihnen den Respekt verweigert.“ | |
| 1↑ Arezo Malakooti „The Political Economy of Migrant Detention in Libya: | |
| Understanding the players and the business models“, Global Initiative | |
| Against Transnational Organized Crime, Genf, April 2019. | |
| 2↑ [1][„Libya: Detained Migrants at Risk in Tripoli Clashes“], Human Righ… | |
| Watch, 25. April 2019. | |
| 3↑ „European money spawns more misery for migrants in Libya“, AP, 31. | |
| Dezember 2019. | |
| 4↑ „ [2][‚No one will look for you‘. Forcibly returned from Sea to Abus… | |
| Detention in Libya“], Amnesty International, 2021. | |
| 5↑ „New Amnesty International Report Reveals Extent of Refugee Struggles in | |
| Libya“, Jubilee Campaign. | |
| 6↑ Sally Hayden, [3][„Libya’s refugees face being cut off from aid due to | |
| coronavirus“], The Guardian,24. März 2020. | |
| 7↑ Ian Urbina, „[4][The Secretive Prisons that Keep Migrants Out of | |
| Europe“,] New Yorker,28. November 2021. Der aufsehenerregende Report | |
| erschien weltweit in mehreren Sprachen, deutsche Fassung: „[5][Die | |
| Verschwundenen von Tripolis“], WOZ, Zürich, 23. Dezember 2021. | |
| 8↑ Gianluca Di Feo, [6][„Nave italiana in Libia per consegnare l’unità | |
| anti-scafisti“], La Repubblica, 7. Dezember 2021. | |
| 9↑ Siehe „Contract award notice“, 10. Dezember 2021. | |
| 10↑ Harry Johnstone, Dominic Naish, „[7][Can Libya’s migrant-detention | |
| system be reformed?“], Global Initiative Against Transnational Organized | |
| Crime, Genf, 14. Dezember 2020. | |
| Aus dem Englischen von Jakob Farah | |
| Ian Urbina leitet die Rechercheplattform The Outlaw Ocean Project. | |
| © The Outlaw Ocean Project; für die deutsche Übersetzung LMd,Berlin | |
| 13 Jan 2022 | |
| ## LINKS | |
| [1] https://www.hrw.org/news/2019/04/25/libya-detained-migrants-risk-tripoli-cl… | |
| [2] https://www.amnesty.org/en/documents/mde19/4439/2021/en/ | |
| [3] https://www.theguardian.com/global-development/2020/mar/24/libyas-refugees-… | |
| [4] https://www.newyorker.com/magazine/2021/12/06/the-secretive-libyan-prisons-… | |
| [5] https://www.woz.ch/2151/flucht-nach-europa/die-verschwundenen-von-tripolis | |
| [6] https://www.repubblica.it/esteri/2021/12/07/news/nave_italiana_libia-329232… | |
| [7] https://globalinitiative.net/analysis/libya-dcs-reform/ | |
| ## AUTOREN | |
| Ian Urbina | |
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