| # taz.de -- Union in der Krise: Von Wölfen und der CDU | |
| > Die christdemokratische Hegemonie ist vorbei. Am Ende der Ära Merkel | |
| > steht die Union ohne inhaltliches Profil und Visionen nackt da. | |
| Bild: Es bröckelt an der christdemokratischen Festung | |
| In Quentin Tarantinos „Pulp Fiction“ unterläuft den beiden Auftragskillern | |
| Vincent und Jules ein folgenschweres Missgeschick. Versehentlich | |
| eliminieren sie in ihrem Auto ihren Gefangenen Marvin und müssen sich nun | |
| um den blutüberströmten Autoinnenraum und die Leiche kümmern. Im Haus eines | |
| Freundes warten sie auf die von ihrem Boss versprochene Hilfe. Die klingelt | |
| tatsächlich kurze Zeit später an der Tür und stellt sich auf denkwürdig | |
| pointierte Weise vor: „[1][Mein Name ist Winston Wolf. Ich löse Probleme.]“ | |
| Und tatsächlich lässt der von Harvey Keitel gespielte Wolf seinen Worten | |
| Taten folgen, indem er rasch und unaufgeregt Lösungen für die verfahrene | |
| Situation findet, um nach getaner Arbeit ebenso unauffällig wieder zu | |
| verschwinden, wie er gekommen war. Lange Zeit galt die CDU als das | |
| politische Äquivalent dieser Figur, die perfekt den nüchtern-effizienten | |
| Umgang mit unübersichtlichen Krisensituationen verkörpert. | |
| Diesen Appeal verstand die CDU gar in das umzumünzen, was sich ohne größere | |
| Übertreibungen als christdemokratische Hegemonie beschreiben lässt – die | |
| aber nun erstmals in den letzten fünfzehn Jahren ernsthaft zu bröckeln | |
| beginnt. Dafür ist neben anderen Faktoren der besondere Charakter dieser | |
| Hegemonie verantwortlich. Zu diesen Faktoren gehört vor allem das [2][Ende | |
| der Ära Merkel] in Verbindung mit einer in der Geschichte der CDU | |
| beispiellosen Führungskrise. | |
| Man erinnert sich noch dunkel daran, wie zukunftsfroh sich die Partei zur | |
| Zeit des ersten Rennens um den Parteivorsitz gab und sich von diesem | |
| „Meilenstein“ innerparteilicher (Christ-)Demokratie einen Schub erhoffte, | |
| der endlich die [3][dunklen Wolken der Bundestagswahl 2017] vertreiben | |
| würde. Doch schon das knappe Ergebnis des [4][Hamburger Parteitags] ließ | |
| die Sorgen über das christdemokratische Binnenklima zurückkehren. | |
| Nach einem etwas verstolperten Beginn als Parteivorsitzende sorgte der von | |
| der CDU-Fraktion im Thüringer Landtag vor etwas mehr als einem Jahr | |
| verursachte [5][Kemmerich-Eklat] letztlich dafür, dass Kramp-Karrenbauer | |
| die persönlich integre, aber für die Partei fatale Entscheidung traf, ihr | |
| Amt zur Verfügung zu stellen. | |
| ## Die Chefin schimpft | |
| Was folgte, ist bekannt: eine Vorsitzendenkür, die sich coronabedingt | |
| quälend lange hinzog, ein Kandidat, der sich gar als Opfer einer Intrige | |
| der Parteiführung wähnte, und ein glanzloser Sieg des Gespanns | |
| Laschet/Spahn. Damit war das Führungsvakuum noch keineswegs überwunden, | |
| denn bis zum heutigen Tag ist ungeklärt, ob Laschet oder Söder im Herbst | |
| als Kanzlerkandidat antreten wird. | |
| Bis dahin bleibt aber eben eine zunehmend entkräftet wirkende | |
| Bundeskanzlerin noch im Amt und Laschet nur ein aufgrund seiner | |
| Coronapolitik umstrittener und gar [6][von der Kanzlerin öffentlich | |
| kritisierter Ministerpräsident]. Diese Schwierigkeiten, die sich die Partei | |
| gewissermaßen selbst eingebrockt hat – schöne Grüße nach Erfurt! –, sind | |
| nur ein Faktor in der Misere der CDU. Er wiegt aber umso schwerer aufgrund | |
| der gesamten Konstellation. | |
| Das bringt uns zum eigentümlichen Charakter der christdemokratischen | |
| Hegemonie. Der Begriff der Hegemonie, der auf den italienischen Kommunisten | |
| [7][Antonio Gramsci] zurückgeht, bezeichnet den moralisch-politischen | |
| Führungsanspruch einer Partei oder Bewegung. Gewöhnlich gründet er sich auf | |
| bestimmte Leitideen, die auch über die Partei hinaus gesamtgesellschaftlich | |
| zumindest passive Zustimmung für sich verbuchen können. | |
| Das Besondere an der christdemokratischen Hegemonie besteht darin, dass ihr | |
| Führungsanspruch im Laufe der letzten fünfzehn Jahre immer weniger auf | |
| irgendwelchen substanziellen Leitideen und spätestens seit der Finanzkrise | |
| 2008 zusehends auf der erfolgreichen Selbstdarstellung als Winston Wolf der | |
| deutschen Politik basierte. | |
| Die Christdemokratie hatte immer weniger inhaltliches Profil und | |
| (konservative) Substanz anzubieten, dafür wurde ein genuin | |
| konservativ-christdemokratischer Politikmodus erkennbar: das beharrliche | |
| Management immer neuer Krisen, deren Folgeprobleme in Nachtsitzungen in | |
| Brüssel, Minsk oder Berlin klein geraspelt wurden. | |
| Das Politikmodell, mit kleinen Schritte durch die Krisen zu gehen, | |
| verkörperte ideal die Kanzlerin, die „die Dinge vom Ende her denkt“ und die | |
| Not des „Auf-Sicht-Fahrens“ in unübersichtlichen Situationen zur Tugend | |
| eines rein prozedural bestimmten Konservatismus erhob. | |
| ## Krisenmanagement anstelle von Politik | |
| Die Grundlage der christdemokratischen Hegemonie bestand dabei nicht nur in | |
| der Selbstinszenierung als seriöse „[8][Kraft der Mitte]“, die den Laden | |
| zusammenhält, sondern auch in der Apostrophierung des | |
| ultrapragmatischen Dauerkrisenmanagements als einzig denkbare Art der | |
| Politik: einer Politik, die sich jeglichen inhaltlichen Gestaltungsanspruch | |
| über den Moment hinaus ausgetrieben hat, ganz zu schweigen von der | |
| Vorstellung von Politik als dem Medium, in dem politische Gemeinschaften | |
| selbstbestimmt ihre kollektiven Bedingungen des Zusammenlebens aushandeln. | |
| Politik konnte nichts anderes mehr sein als das Reagieren auf eine volatile | |
| Welt und auf krisenhafte Zuspitzungen, und die CDU konnte sich in dem Ruf | |
| sonnen, dass sie diesen Modus politischen Handelns perfekt oder doch | |
| zumindest besser als die politische Konkurrenz beherrschte. Aber war dieser | |
| Ruf eigentlich jemals gerechtfertigt? Bevor man dieses Narrativ unbesehen | |
| übernimmt, wäre eine gewisse Skepsis angebracht, die sich exemplarisch an | |
| drei Punkten festmachen lässt. | |
| Da ist zunächst die Eurozonenkrise, deren Management neben dem der | |
| Finanzkrise den Ruf der Christdemokraten als Troubleshooter im Stile eines | |
| Mr Wolf begründete. Schließlich ging beides für Industrie, Banken und | |
| Bevölkerung vergleichsweise glimpflich ab, und nebenbei wurde auch noch | |
| Europa gerettet. Was das Bild aber trübt, ist zum einen die Tatsache, dass | |
| die schmerzhaften Anpassungsleistungen zur Bewältigung der Krise | |
| disproportional den Ländern Südeuropas aufgebürdet wurden. | |
| Die Kosten einer systemischen Krise wurden von der deutschen Politik unter | |
| christdemokratischer Führung systematisch externalisiert. Zum anderen | |
| verursachte es womöglich das viel gepriesene deutsche Krisenmanagement | |
| selbst, dass sich – durch das Muster des ewig zögernden too little, too | |
| late, das sich durch die diversen Akte der Krise zog – eine griechische | |
| Schuldenmisere, die man durch beherztes finanzielles Eingreifen zu einem | |
| letztlich sehr viel niedrigeren Preis im Keim hätte ersticken können, zu | |
| einer in vielerlei Hinsicht verheerenden Eurozonenkrise auswuchs. | |
| ## Von der SPD inspiriert | |
| Dass Deutschland recht unbeschadet durch die langwierige Doppelkrise kam | |
| und es nicht zu noch größeren Verwerfungen kam, ist aber nicht nur das | |
| zweifelhafte Verdienst der Christdemokratie. Vielmehr waren es gerade | |
| sozialdemokratische Regierungsakteure und von ihnen initiierte Politiken, | |
| die entscheidend zum Image der Regierung als Krisenbewältigungsspezialistin | |
| beitrugen. | |
| An Beispielen mangelt es nicht, angefangen bei der Verlängerung des | |
| Kurzarbeitergeldes in der Finanzkrise bis hin zu den | |
| Corona-Nothilfemaßnahmen der Gegenwart. Und auch unabhängig von | |
| Krisensituationen bediente sich die Union immer wieder sozialdemokratischer | |
| Inhalte und deklarierte sie, soweit es opportun erschien, mit einer | |
| Nonchalance zu dem um, was man eigentlich schon immer selbst vertreten | |
| hätte. | |
| So machen das Konservative nun einmal, wenn sich der Lauf der Zeit beim | |
| besten Willen nicht mehr aufhalten lässt. Bleibt zuletzt noch das einzig | |
| verbliebene inhaltliche Prestigeprojekt der „schwarzen Null“ – an der die | |
| Christdemokratie gegen alle Widerstände festhielt und daran das Narrativ | |
| der soliden Haushaltspolitik knüpfte –, die Europa als Vorbild der | |
| Sparsamkeit dienen soll. Doch dies war vor allem Rhetorik. | |
| Denn von der Bevölkerung wurde ja nicht unbedingt auf gut konservative Art | |
| gefordert, den Gürtel enger zu schnallen und finanzielle Opfer zu bringen. | |
| Die schwarze Null wurde nicht so sehr durch fiskalpolitische | |
| Ausgabendisziplin ermöglicht als vielmehr durch sprudelnde Steuereinnahmen, | |
| einen florierenden Exportsektor, niedrige Zinsen und die Möglichkeit des | |
| Staates, sich zum Nulltarif Geld zu leihen – Faktoren, auf die die | |
| christdemokratische Regierungspolitik nur bedingt Einfluss hatte. | |
| Doch die schwarze Null ist nun passé und nicht nur sie. Auch die | |
| Krisenkompetenz der CDU schwindet angesichts der vielfältigen Versäumnisse | |
| im Umgang mit der Pandemie rasant. Nun rächt sich die Verengung der | |
| Christdemokratie auf das pragmatische Auf-Sicht-Fahren. | |
| ## Ändern, damit es bleibt, wie es ist | |
| Denn wenn das immer mehr zum Schlingerkurs wird und zudem Führungspersonal | |
| fehlt, dem man gerne das Steuer anvertraut, steht man als Partei plötzlich | |
| mit leeren Händen da – sieht man einmal von denen in der Union ab, die sich | |
| zu allem Überfluss mit Maskendeals und anderem bereichert haben. | |
| Dass sich die christdemokratische Hegemonie nun als tönern erweist, hat | |
| aber zuletzt auch damit zu tun, dass sie ihren Prozeduralkonservatismus des | |
| ewigen Krisenmanagements nicht so konsequent zu Ende gedacht hat, wie die | |
| adlige Titelfigur aus [9][Giuseppe Tomasi de Lampedusas „Der Leopard]“, die | |
| angesichts der Unwägbarkeiten der Zeit die Maxime verkündet: Alles muss | |
| sich ändern, damit alles bleiben kann, wie es ist! | |
| In dieser paradoxen Formulierung scheint eine Erweiterung des | |
| Prozeduralkonservatismus im Sinne eines konsequenten Präventionsregimes | |
| auf, in dessen Rahmen ständig mit Blick auf die ungewisse Zukunft an | |
| kleinen Schrauben gedreht werden muss, um das zu erreichen, was heute gerne | |
| mit dem schillernden Begriff der Resilienz bezeichnet wird. Doch dazu | |
| bräuchte es Entwürfe, Szenarien und Gestaltungswillen über das Hier und | |
| Heute hinaus. | |
| Bis zu diesem Punkt ist das CDU-Krisenmanagement nur selten gelangt, weder | |
| in der Eurozonenkrise noch in der aktuellen Pandemie. Diese Woche hat Armin | |
| Laschet nun sein mit heißer Nadel gestricktes [10][Wahlprogramm] | |
| vorgestellt und genau solche Gestaltungsansprüche zumindest angedeutet. Es | |
| wird sich zeigen, ob dies noch verfängt oder ob die Bilanz auch im | |
| Management der parteiinternen Krise letztlich lautet: Too little, too late. | |
| 5 Apr 2021 | |
| ## LINKS | |
| [1] https://www.youtube.com/watch?v=NP4lrVIpbvo | |
| [2] /Merkel-zieht-sich-aus-der-Politik-zurueck/!5546277 | |
| [3] /Ergebnis-der-Bundestagswahl-2017/!5449920 | |
| [4] /CDU-waehlt-neuen-Vorsitzenden/!5738638 | |
| [5] /Skandalwahl-in-Thueringen/!5662209 | |
| [6] /Angela-Merkel-bei-Anne-Will/!5761783 | |
| [7] https://www.cicero.de/kultur/130-geburtstag-antonio-gramsci-theoretiker-kul… | |
| [8] https://archiv.cdu.de/artikel/so-geht-cdu-deutschlands-starke-mitte | |
| [9] https://www.perlentaucher.de/buch/giuseppe-tomasi-di-lampedusa/der-leopard.… | |
| [10] /Armin-Laschet-zum-Wahlprogramm/!5758333 | |
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| Thomas Biebricher | |
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