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# taz.de -- Aus dem Archiv: Ära der Kanzlerin: Sechs Mythen über Merkel
> Angela Merkel tritt nach der Bundestagswahl als Kanzlerin ab. Doch
> vieles, was wir über sie zu wissen glaubten, stimmt nicht.
Bild: Wahlplakat zur Bundestagswahl 2017
## Die Flüchtlingsfreundin
Rechte Wutbürger verachten Angela Merkel als Flüchtlingskanzlerin. Die AfD
macht sie für den Untergang des Abendlands verantwortlich. Ein
Pegida-Anhänger trug auf einer Demo einen selbst gebastelten Galgen für sie
durch die Gegend, sie wurde vor Flüchtlingsheimen unflätig beschimpft. Aber
die These von der Schutzheiligen der AsylbewerberInnen ist ein Zerrbild,
das bis heute von Merkels GegnerInnen – auch denen in der CDU –
instrumentalisiert wird.
Da wäre zum Beispiel der beliebte Mythos, Merkel habe 2015 die Grenzen
„geöffnet“. Das ist nachweislich Unfug. Als Hunderttausende Geflüchtete
über die Balkanroute nach Deutschland kamen, waren die innereuropäischen
Grenzen offen, so wie es im Schengenraum üblich ist. Merkel musste also
nichts öffnen. Dennoch war ihre Entscheidung ein humanitäres Highlight.
Eine kurze Rückblende: Im August 2015 saßen Geflüchtete aus Syrien und dem
Irak in Ungarn fest – und machten sich über die Autobahn zu Fuß auf den Weg
nach Deutschland. Ungarns Ministerpräsident Viktor Orbán ließ sie mit
Bussen an die österreichische Grenze transportieren, auch um die EU unter
Druck zu setzen. Merkel entschied – nach Telefonaten mit dem
österreichischen Kanzler Werner Faymann – die verzweifelten Menschen
aufzunehmen, obwohl ihr leitende Beamte rieten, die Grenze dicht zu machen.
Dabei spielten nicht nur humanitäre, sondern auch taktische Überlegungen
eine Rolle. Im Kanzleramt glaubte man damals, dass man der Bevölkerung
brutale TV-Bilder von der Grenze nicht zumuten konnte. Deutsche Grenzer
hätten ja Familien mit Tränengas oder Schlagstöcken zurücktreiben müssen.
Außerdem ließe sich eine lange grüne Grenze sowieso nicht effektiv dicht
machen, lautete ein zweites Argument von Merkels Leuten.
Merkels Move verschaffte ihr große Credibility in linksliberalen Milieus.
Ihre Popularitätswerte bei Grünen-WählerInnen schossen nach oben, die taz
druckte Herzchen für Merkel auf ihre Titelseite. Von diesem Image
profitiert sie links der Mitte bis heute, während sie deshalb bei Rechten
verhasst ist. Mit der Wirklichkeit hat beides wenig zu tun, denn Merkel
schaltete 2015 schnell auf einen rigiden Kurs um.
Der Zuzug, so das neue Credo, muss enden. Dabei setzte sie auf drei
Strategien: Angrenzende Länder sollten ihren Grenzschutz verbessern und die
Balkanroute schließen. Ein im März 2016 vereinbartes Abkommen der EU mit
der Türkei stoppte die Migration übers Mittelmeer nach Griechenland.
Außerdem verschärfte Merkels Groko das Asylrecht, um Menschen schneller
abschieben zu können. Sie erklärte die Balkanstaaten zu sicheren
Herkunftsstaaten, beschleunigte Asylverfahren und schaffte Geldleistungen
für AsylbewerberInnen ab.
Ebenfalls legendär ist Merkels Rhetorik im Jahr 2015. [1][Ende August sagte
sie ihren berühmten Satz „Wir schaffen das“], den die einen als
Aufmunterung, die anderen als Zumutung verstanden. Wenig später, im
September, ließ sie sich zu einem ihrer seltenen Gefühlsausbrüche
hinreißen. Wenn man sich dafür entschuldigen müsse, in Notsituationen ein
freundliches Gesicht zu zeigen, „dann ist das nicht mein Land“, sagte sie.
Das war für eine Bundeskanzlerin, die qua Amt immer für das Land zuständig
ist, dann doch bemerkenswert.
Merkel war unübersehbar angefasst, weil ihre Politik so harsche Kritik
hervorrief. Auch diese Rhetorik sorgte dafür, dass der rasche Kurswechsel
der Kanzlerin unter dem Radar blieb. Um Humanität ging es schon kurz nach
der leuchtenden Geste nicht mehr, sondern um kühlen Pragmatismus.
Der Mythos von der Flüchtlingskanzlerin hielt sich wohl auch deshalb so
lange, weil er Merkels GegnerInnen so wunderbar in den Kram passte – und
sie alles taten, um ihn am Leben zu erhalten.
Ulrich Schulte
## Die Konkurrentenkillerin
Einige westdeutsche CDU-Männer haben es bis heute nicht verwunden, dass sie
den Platz ganz oben an eine Frau aus dem Osten verloren haben. Friedrich
Merz zum Beispiel glaubte eine Art natürliches Anrecht auf die Führung der
Partei, der Fraktion und der Republik zu besitzen. Deshalb ist er bis heute
fassungslos, dass Angela Merkel ihn am Ende besiegte.
Zu Beginn der Nuller Jahre bildeten Friedrich Merz und Roland Koch,
Christian Wulff und Günther Oettinger eine klandestine CDU-Seilschaft,
[2][den Andenpakt], der absichern sollte, dass sie das Sagen in der Partei
haben. Dass sich Merkel gegen sie durchsetzen würde, war eher
unwahrscheinlich. Merkel war dabei noch nicht mal besonders raffiniert oder
gewieft. Aber sie verfügte über einen scharfen Blick, was ging und was
nicht. Das hatte sie den Andenpakt-Boys voraus, die zu Hybris und
Selbstüberschätzung neigten.
Das Bild der „Parteivorsitzenden mit dem Killerinstinkt“, so AFP 2002, war
in der Welt, nachdem Merkel Merz von seinem Posten als Fraktionschef
verdrängt hatte. Allerdings verdankte sich dies nicht nur Merkels Geschick,
sondern auch Zufällen. Der Andenpakt wollte damals unbedingt Merkel als
Kanzlerkandidatin verhindern. Als Merkel begriff, dass ihre Gegner
übermächtig waren, fuhr sie zu Stoiber, um dem CSU-Mann in Wolfratshausen
wenigstens eigenhändig die Kanzlerkandidatur anzutragen. Der Deal war:
Stoiber würde Kanzler, Merz Finanzminister, Merkel wollte nach dem Wahlsieg
Fraktionschefin werden.
Es kam anders. Rot-Grün gewann knapp die Wahl. Merkel tat danach nichts
anderes, als auf dem Wolfratshausener Deal zu beharren. Merz sah sich als
Opfer einer Intrige. Aber so war es nicht. „Mit der Wahlniederlage hatte
sich die Faktengrundlage für die Postenverteilung geändert“, schreibt
Merkels Biograf Ralph Bollmann zu Recht. Dass Merz dies nicht verstand,
zeigte, dass er „in eklatantem Maße die politischen Grundrechenarten“ nicht
beherrschte. Anders als Merkel.
Der CSU-Politiker Michael Glos schrieb 2004 zu Merkels 50. Geburtstag:
„Eines der Geheimnisse des Erfolges von Angela Merkel ist ihr geschickter
Umgang mit eitlen Männern. Sie weiß: Auerhähne schießt man am besten beim
Balzen. Angela Merkel ist die geduldige Jägerin der balzenden Auerhähne.
Mit engelsgleicher Langmut wartet sie, bis sie am Zuge ist.“ Auch in diesem
als Lob gemeinten Bild erscheint Merkel als Jägerin, die Männer zur Strecke
bringt. Der Spiegel verglich Merkel 2009 mit einer schwarzen Witwe, die
sich kaltherzig ihrer politischen Partner entledigt, wenn die ihre Funktion
erfüllt hatten.
Merkel als durchtriebene, machtfixierte Killerin, die kalt
(Männer-)Karrieren beendete: Das ist ein Zerrbild. Merkel hat keine Männer
gemobbt – und nur einmal einen CDU-Mann vor die Tür gesetzt. Das geschah
2012. Umweltminister Norbert Röttgen hatte für die CDU die Wahl in NRW
desaströs verloren, war geschwächt und zudem unwillig zu verstehen, dass
er mitschuld an der Niederlage war. Merkel glaubte nach Fukushima einen
starken Umweltminister zu brauchen. Röttgen zu feuern war nicht zwingend,
aber verständlich.
Ist es eine kühne Vermutung, dass der Rauswurf von Röttgen bei einem Mann
eher als Tatkraft gepriesen worden wäre? Dass die Art, wie Merkel 2002
Stoiber auf ihre Seite zog und am Ende Merz loswurde, bei einem Mann als
Führungsstärke gegolten hätte? Den Erfolg einer mächtigen Frau kann man
sich indes offenbar nur mit dämonischen Bildern erklären: die Jägerin, die
Killerin, die schwarze Witwe, die ihre Partner ermordet.
In diesen Bildern klingt nicht nur das Motiv moralischer Fragwürdigkeit an,
Merkel wird auch als Gegnerin gezeichnet, die mit illegitimen Waffen
kämpft. Es ist ein Versuch, Unerklärliches zu erklären – nämlich, dass ei…
Ostdeutsche länger als eineinhalb Jahrzehnte die natürliche
Machthierarchie der Union außer Kraft gesetzt hat.
So redet, wer verloren hat und noch immer rätselt, wie das passieren
konnte. Das Bild der eiskalten Machtpolitikerin sagt wenig über Merkel.
Aber viel über die Kränkungen ihrer Gegner.
Stefan Reinecke
## Die Klimaretterin
Rote Funktionsjacken, weiße Arktis. 2007 begutachteten die Kanzlerin und
ihr Umweltminister Sigmar Gabriel (SPD) die Auswirkungen des Klimawandels
in Grönland. Die Kameras waren ihnen massenhaft gefolgt und lieferten
[3][Bilder zum Dahinschmelzen]. Es passt aber auch zu gut: die Physikerin
im Kanzleramt, die ganz genau weiß, welches menschliche Drama sich in der
Atmosphäre abspielt. Doch das Eis, auf dem Merkels Ruf als Klimakanzlerin
aufgebaut ist, ist genauso dünn wie das in der Arktis.
Tatsächlich hat Merkel während ihrer politischen Karriere immer wieder
bewiesen, dass sie das Problem versteht – und das Nötige trotzdem nicht
tut. Sie ließ ihre Minister:innen auch gegen den Klimaschutz schalten
und walten. Sie selbst brillierte zwar bei Auftritten auf den
internationalen Bühnen der Klimaverhandlungen, blockierte aber zum
Beispiel in Brüssel ehrgeizige CO₂-Grenzwerte für Autos.
Auch der Niedergang der deutschen Solarindustrie fällt in Merkels
Amtszeiten. 80.000 Arbeitsplätze brachen weg, während jegliche Diskussion
über einen Kohleausstieg lange mit dem Verweis auf die rund 20.000
Arbeitsplätze abgewürgt wurde.
Das Kohle-Aus, das dann im vergangenen Jahr doch noch beschlossen wurde,
kommt mit 2038 zu spät – und ist eine feige Entscheidung. Es ist absehbar,
dass die Kohleverstromung durch den Europäischen Emissionshandel schon
früher unrentabel wird. Eine klimaschädliche Technologie erst dann zu
verbieten, wenn die Wirtschaft vielleicht schon zehn Jahre gar kein
Interesse mehr daran hat, das zeugt nicht gerade von Mut. Zumal die
Energiekonzerne auch noch großzügige Entschädigungen erhalten. Und was ist
eigentlich mit dem Gasausstieg? Mit der Abkehr vom Verbrennungsmotor? Mit
der nachhaltigen Landwirtschaft? Weitgehend Fehlanzeige.
Immer wieder hieß es sogar von der Bundesregierung selbst: Das Klimaziel
für 2020, nämlich 40 Prozent weniger CO₂ gegenüber 1990, werde Deutschland
nicht erreichen. Dass es nun doch gerade so geklappt hat, lag zuletzt auch
an den Coronalockdowns, die den Energieverbrauch der Wirtschaft zeitweise
gesenkt hatten.
Statt der großen Transformation gab es unter Merkel einen Politikstil der
halben Sachen. Beispiel CO₂-Preis: Seit Anfang des Jahres fällt der in
Deutschland beim Heizen und Tanken mit Öl und Gas an, denn diese Bereiche
werden vom Europäischen Emissionshandel nicht abgedeckt. Der Startpreis
liegt bei der Hälfte von dem, was Expert:innen als Mindestmaß empfohlen
hatten, wenn das Ganze auch eine Wirkung zeigen soll. Auch die Chance, die
Einnahmen für eine progressive Umverteilung zu nutzen, hat die
Bundesregierung nicht ergriffen. So trifft der Preis Menschen mit wenig
Geld besonders stark.
„Umweltpolitik ist eine spannende Angelegenheit, wo die Leute oft sagen:
Ach, heute noch nicht“, sagte Merkel einmal in der „NDR Talk Show“, das w…
1997, sie war noch Umweltministerin unter Helmut Kohl. „Da die Überzeugung
zu machen und zu sagen: Passt auf, wenn ihr’s heute nicht macht, wird’s
euren Kindern und Enkelkindern doppelt, dreifach teurer, das find ich schon
eine sehr, sehr lohnende Aufgabe.“
Ja, sie versteht es! Merkel vollzog im Grunde damals selbst die
Argumentation, mit der das Bundesverfassungsgericht 24 Jahre später ihre
Klimapolitik in der Luft zerrissen hat. Es kassierte das Klimaschutzgesetz
teilweise, weil die nur bis 2030 geplanten Maßnahmen die Verantwortung auf
die jüngere Generation verschöbe und deren Freiheit zu stark einschränke.
Die Regierung besserte schnell nach – zumindest bei den Zielen. Wie die
erreicht werden sollen, ist in vielerlei Hinsicht noch offen.
Außerdem: Geht man davon aus, dass jeder Mensch auf der Erde denselben
Anteil am verbleibenden CO₂-Budget der Welt haben sollte und die
Erderhitzung bei 1,5 Grad gegenüber vorindustriellen Zeiten aufhören
soll, dann müsste Deutschland seine CO₂-Emissionen bis spätestens zum Ende
des Jahrzehnts linear auf null senken. Dahinter bleiben auch die neuen
Ziele zurück. Anders gesagt: Die Merkel-Regierungen hinterlassen einen
ökologischen Schuldenberg.
Susanne Schwarz
## Die Modernisiererin
Im Juni 2010 versammelt sich die schwarz-gelbe Regierung im Kabinettsaal
des Kanzleramts zur Klausur. Schon seit Monaten streiten die
Koalitionspartner, etwa wegen der Gesundheitsreform, beschimpfen sich
wechselseitig als „Wildsau“ und „Gurkentruppe“. Die Finanzkrise wirkt n…
nun sollen 80 Milliarden bis 2014 eingespart werden, um die Schuldenbremse
einzuhalten. Auch im Etat des Verteidigungsministeriums soll kräftig
gekürzt werden – 2 Milliarden Euro jährlich, fordert der Finanzminister.
Karl-Theodor zu Guttenberg, der damalige Chef im Verteidigungsressort,
sträubt sich, die Diskussion spitzt sich zu, Guttenberg wird wütend. „Wenn
das so ist, dann ist die Wehrpflicht nicht zu halten“, tönt er schließlich
trotzig, so wird es später im Spiegel stehen. Es ist der CSU-Politiker, der
Hoffnungsträger der Rechten in der Union, der die Wehrpflicht in
Deutschland zu Fall bringt. [4][Als diese am 1. Juli 2011 offiziell
ausgesetzt wird], ist Guttenberg allerdings schon nicht mehr im Amt – er
ist über seine Plagiatsaffäre gestürzt.
Das Ende der Wehrpflicht ist ein Beispiel, das immer dann angeführt wird,
wenn es um die großen Veränderungen in der Ära Merkel geht, auch der
Ausstieg aus der Atomkraft und die Einführung der „Ehe für alle“ werden
stets genannt. Angela Merkel habe die CDU modernisiert, so nennen das die
einen. Sie habe die CDU inhaltlich entkernt und die konservativen Werte
verraten, kritisieren die anderen. Die Rolle Guttenbergs in einem ihrer
Paradebeispiele unterschlagen diese gern. Es ist nicht die einzige
Auslassung.
Erzählt wird die Geschichte meist so, als habe die Kanzlerin die
Konservativen in ihrer Partei überrumpelt, einer widerspenstigen Union die
Veränderungen quasi im Alleingang abgetrotzt. Doch diese Erzählung gehört
ins Reich der Legenden. „Wir können doch nicht an einem Sonntagnachmittag
die Wehrpflicht abschaffen“, soll Merkel auf jener Sparklausur im Juni 2010
gesagt haben.
Auch beim Atomausstieg sprechen Merkel-Kritiker:innen ungern von der
Mitwirkung einer der ihren. Noch im Dezember 2010 hatte Schwarz-Gelb die
Laufzeit der deutschen AKWs verlängert, dann kam der GAU in Fukushima – und
die Stimmung in Sachen Atomkraft in Deutschland kippte auch bei den
Unionswähler:innen. Zeitgleich stand in Baden-Württemberg, zu dieser
Zeit vom Jungkonservativen Stefan Mappus regiert, die Landtagswahl vor der
Tür. Merkel, die zuvor nie an der Sicherheit der Atomkraft gezweifelt hat,
gerät ins Grübeln. Und Mappus drängt sie, etwas zu tun.
Am 14. März verkündet die Kanzlerin gemeinsam mit ihrem FDP-Vize Guido
Westerwelle, dass acht alte Atomkraftwerke stillgelegt werden, darunter
Neckarwestheim und Philippsburg in Baden-Württemberg. Es folgt der
stufenweise Atomausstieg. Mit Winfried Kretschmann wird Ende März erstmals
ein Grüner Ministerpräsident.
Für die „Ehe für alle“ hat Merkel sich nie starkgemacht, im Gegenteil. Au…
wenn sie ermöglicht hat, dass es bei der Abstimmung im Bundestag keinen
Fraktionszwang gab. So wurde die „Ehe für alle“ im Juni 2017 auch mit den
Stimmen von etwa einem Viertel der Unionsabgeordneten verabschiedet. Merkel
aber votierte dagegen. Die Modernisierung der CDU im Alleingang?
Fehlanzeige.
Möglicherweise ist die Familienpolitik das einzige Feld, in dem Merkel
wirklich langfristig und gezielt Änderungen herbeigeführt hat. Das Thema
war ihr schon als Generalsekretärin wichtig. Der Journalist Ralph Bollmann
berichtet in seiner Merkel-Biografie, wie die künftige Kanzlerin sich 2005
in den Koalitionsverhandlungen mit der SPD dafür einsetzte, dass die Union
ausgerechnet das Familienministerium bekam – das ihr SPD-Vorgänger Gerhard
Schröder noch als „Gedöns“ diffamiert hatte.
Merkel machte Ursula von der Leyen zur Ministerin, die für den Ausbau von
Betreuungsplätzen und das Elterngeld stritt – also für die Vereinbarkeit
von Beruf und Familie. Dass Merkel das alte Familienbild der Union für
überholt hielt, dürfte auch an ihrer Ostbiografie gelegen haben.
Mit ihrer Modernisierung hat die CDU Platz am rechten Rand des
Parteienspektrums gemacht, die AfD hat diesen gefüllt und schwächt die
Union seitdem von rechts. Doch das ist nur ein Teil der Wahrheit. Denn es
stimmt wahrscheinlich auch, dass die Modernisierung, mit der die Merkel-CDU
oft schlicht Veränderungen folgte, die die Gesellschaft längst vollzogen
hatte, der Partei ihre vielleicht letzte Hochphase als Volkspartei beschert
hat. Und damit den Absturz, den konservative Parteien in einigen
europäischen Nachbarländern verzeichnen mussten, zumindest verzögerte.
Sabine am Orde
## Die Krisenmanagerin
Gleich drei große Wirtschaftskrisen hat Angela Merkel in ihrer Amtszeit
erlebt: die globale Finanzkrise ab 2007, die Eurokrise ab 2010 und die
Coronakrise ab 2020. Alle drei Einbrüche hat die deutsche Wirtschaft
leidlich überlebt, weswegen sich nun die Legende hält, Merkel sei eine
begnadete Krisenmanagerin.
Was stimmt: In den akuten Phasen der Finanz- und Coronakrise hat Merkel
ökonomisch fast alles richtig gemacht. 2008 und 2020 hat sie nicht gespart,
sondern bedenkenlos Milliarden in die Banken und die Wirtschaft gepumpt, um
einen Crash zu verhindern. Gleichzeitig wurden die Beschäftigten
abgesichert, indem sie Kurzarbeitergeld beziehen konnten. Unvergessen ist
Merkels Auftritt im September 2008, als sie die verängstigten Bankkunden
mit den Worten beruhigte: „Wir sagen den Sparerinnen und Sparern, dass ihre
Einlagen sicher sind.“
An diesem schönen Bild der begnadeten Krisenmanagerin stört nur, dass
Merkels Rezepte und Ansagen nicht ihre eigene Erfindung waren. In allen
reichen Industriestaaten wurden in der Finanz- und Coronakrise massive
Konjunkturprogramme aufgelegt, um die Wirtschaft anzukurbeln. Merkel war
nicht originell, sondern hat in der akuten Not nur umgesetzt, was auch
anderswo gängig war.
Doch im Normalbetrieb passierten Fehler. Vor allem die „Schwarze Null“
zeugt von typisch deutscher Engstirnigkeit. Seit 2009 ist im Grundgesetz
festgeschrieben, dass die öffentlichen Haushalte ausgeglichen sein müssen.
Merkel agierte wie die berühmte „schwäbische Hausfrau“, die immer eisern
spart. [5][Der Staat ist aber keine Kleinfamilie oder ein Unternehmen –
sondern das Korrektiv].
Der Staat muss Schulden machen und Geld ausgeben, wenn Firmen und
Privathaushalte sparen wollen. Sonst fehlt die Nachfrage. Das ist reine
Logik, war aber für die Physikerin Merkel trotzdem nicht zu begreifen. Also
schwächelte die deutsche Wirtschaft; einzig der Export boomte.
Die eigentliche Bewährungsprobe war jedoch die Eurokrise, denn für sie gab
es keine weltweiten Vorbilder. Merkel und Schäuble versagten, weil sie nach
dem Motto agierten: Wer Schulden hat, ist schuld. Für die Kanzlerin und
ihren Finanzminister war daher klar, dass Griechen, Portugiesen, Spanier
und Italiener bestraft und zur Sparsamkeit gezwungen werden mussten. Doch
die permanente Kürzungsorgie hat der Eurozone schwer geschadet. Da die
Wirtschaft einbrach, wurden die Schulden noch größer und nicht kleiner.
Zudem war die deutsche Position etwas seltsam: Merkel war stolz, einem
„Exportweltmeister“ vorzustehen, womit vor allem die Überschüsse im
Außenhandel gemeint waren. Ein Plus im Warenverkehr ist aber nur möglich,
wenn anderswo ein Minus existiert. Überschüsse und Defizite gehören
zusammen. Auch diese Logik hat die Physikerin Merkel konsequent ignoriert.
Die Eurokrise ist keineswegs vorüber, sondern schwelt weiter, 2020 kam die
Coronakrise hinzu. Das reiche Deutschland begann, seine Unternehmen
großzügig zu retten – was sich die ärmeren Eurostaaten nicht leisten
konnten. Die EU-Kommission schlug Alarm. Wenn nur die deutschen Firmen
überleben würden, wäre der Wettbewerb endgültig verzerrt.
Nur weil der externe Druck so enorm war, kam es zu einem Novum: Die
Regierung Merkel stimmte einem EU-Rettungspaket von 750 Milliarden Euro zu,
das über gemeinsame Schulden finanziert wird. Die Coronabonds waren in der
Welt, weil es dazu keine Alternative mehr gab. Merkel führte nicht, sondern
folgte den Sachzwängen. Die Kanzlerin hat diverse Krisen erlebt – war aber
keine Krisenmanagerin.
Ulrike Herrmann
## Die Sozialdemokratin
Eigentlich braucht es viel Fantasie, um Angela Merkel als heimliche
Sozialdemokratin zu verstehen. Nur wurde die These, dass Merkel die Union
sozialdemokratisiert hat, über die Jahre so oft wiederholt, dass sie sich
trotz fehlender Substanz bis heute hält.
Es ist zwar richtig, dass der Mindestlohn 2015 unter Merkel in einer Großen
Koalition eingeführt wurde – ein Projekt, das die CDU lange politisch
bekämpft hat. Der Mindestlohn ist aber nicht nur dem Verhandlungsgeschick
der SPD zuzuschreiben, sondern auch einer gesamtgesellschaftlichen
Stimmung. 2013 befürworteten [6][laut einer Umfrage von Infratest dimap] 86
Prozent den gesetzlichen Mindestlohn, auch die Zustimmung unter
CDU-Wähler:innen war mit 79 Prozent groß. Merkel war bereit, weil die
Gesellschaft bereit war, genauso wie Teile ihrer Partei.
Schon 2011 hatten die Christdemokraten auf ihrem Parteitag vor allem auf
Wirken der Christlich Demokratischen Arbeiterschaft (CDA) eine
Lohnuntergrenze für Bereiche beschlossen, in denen keine Tariflöhne
existieren. Als es später in der Großen Koalition um die tatsächliche
Ausgestaltung ging, sicherte sich die Union zahlreiche Ausnahmeregelungen.
Insofern ist der Mindestlohn weniger Ausdruck einer sozialdemokratischen
Grundüberzeugung Merkels denn ihrer opportunistischen Wandlungsfähigkeit.
Es gehört zu ihrem Politikstil, Konflikte zu vermeiden, Entscheidungen
lange hinauszuzögern und wenn nötig aus machttaktischen Überlegungen auch
Programmpunkte der Konkurrenzparteien zu übernehmen.
Oft wird der Kanzlerin deshalb nachgesagt, unideologische Politik zu
betreiben. Dem Journalisten Stephan Hebel, der ein Buch über Merkels
politische Bilanz geschrieben hat, greift dieser Gedanke aber zu kurz. „Die
‚marktkonforme Demokratie‘ war von Anfang bis Ende das Leitbild ihrer
Politik“, schreibt er. „Zugeständnisse an eine eher sozialdemokratische
Politik“ stünden „gerade nicht für die Grundlinie der Merkel’schen
Ideologie, sondern sie weichen von dieser Linie ab.“
In der Tat war und ist klassische Umverteilungspolitik, die Einführung
einer Vermögensteuer oder eine höhere Einkommensteuer für Reiche, unter
Merkel undenkbar. Auch die niedrige Arbeitslosenquote, die Merkels Politik
oft zugute gehalten wird, wird mit dem Blick auf den Niedriglohnsektor in
Deutschland getrübt. Die soziale Kluft ist in ihren Regierungsjahren
gewachsen, wie der letzte Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung
dokumentiert. Was sich auch an anderer Stelle zeigt: [7][2003 gab es in
Deutschland 330 Tafeln, im Jahr 2018 waren es 941]. Als „verheerend“
bezeichnet der Hauptgeschäftsführer des Paritätischen Wohlfahrtsverband
Ulrich Schneider die Sozialpolitik der Kanzlerin im Rückblick.
Merkels neoliberale Grundhaltung zeigte sich nicht nur während der
Eurokrise mit ihrem rigiden Sparkurs, unter dem die südeuropäischen
Nachbarländer litten, sondern auch schon vor ihrer Kanzlerschaft. Auf dem
Leipziger Parteitag 2003, Merkel war damals Parteivorsitzende, sollte die
Sozial- und Steuerpolitik radikal reformiert werden. Beschlossen wurde dort
unter anderem die „Gesundheitsprämie“, die unter Kritiker:innen als
Kopfpauschale bekannt wurde: Statt lohnbezogener Krankenkassenbeiträge
sollten alle Arbeitnehmer:innen eine monatliche Pauschale zahlen –
egal ob Putzfrau oder Chefarzt. Norbert Blüm stand ziemlich allein da, als
er die Kopfpauschale als „platt gewalzte Gerechtigkeit“ bezeichnete.
Die neoliberale Aufbruchsstimmung, die Merkel nach dem Leipziger Parteitag
zunächst in der CDU auslöste, hielt aber nicht lange. Mit der Idee einer
Kopfpauschale verlor die CDU fast den Wahlkampf 2005. Merkel lernte daraus
und trat seither nicht mehr so radikal auf. Politisch konnte sie die
Gesundheitsprämie nie durchsetzen. 2019 erreichte die SPD in der Großen
Koalition sogar die Rückkehr zur paritätischen Finanzierung in der
gesetzlichen Krankenversicherung. Selbst das wird heute manchmal als
Merkels Verdienst verkauft.
Jasmin Kalarickal
15 Aug 2021
## LINKS
[1] /Fuenf-Jahre-Wir-schaffen-das/!5701650
[2] https://de.wikipedia.org/wiki/Andenpakt_(CDU)
[3] /Klima-Bilanz-der-Merkel-Aera/!5624314
[4] /10-Jahre-ohne-Wehrpflicht/!5779285
[5] /Neuverschuldung-und-Corona/!5737106
[6] https://www.dgb.de/uber-uns/dgb-heute/organisation-und-bundesvorstand/++co+…
[7] https://de.statista.com/infografik/13250/anzahl-der-tafeln-in-deutschland/
## AUTOREN
Ulrich Schulte
Jasmin Kalarickal
Stefan Reinecke
Sabine am Orde
Susanne Schwarz
Ulrike Herrmann
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Das zeigt vor allem, was nach ihrem Ende als Kanzlerin zu befürchten ist.
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