# taz.de -- Fünf Jahre „Wir schaffen das“: Ziel und Haltung | |
> Vor fünf Jahren fielen in der Bundespressekonferenz die drei Worte Angela | |
> Merkels: „Wir schaffen das.“ Ein schlichter Satz mit ungeahnter | |
> Tragweite. | |
Bild: Großer Andrang bei der Bundespressekonferenz am 31. August 2015 | |
Das Leben wird nach vorne gelebt und nach hinten verstanden. So in etwa | |
verhält es sich mit Angela Merkels Satz: „Wir schaffen das.“ Es ist ein | |
Satz aus einem unübersichtlichen Mahlstrom aus Politiksprache, der erst im | |
Nachhinein zur Essenz politischen Handelns geronnen ist. Der Satz hat | |
Merkel politisch gestärkt, aber auch angreifbar gemacht. Er hat das Land | |
und Europa verändert. Er hat Menschen ermutigt, ihren Fluchtweg aus Krieg, | |
Armut oder Verfolgung Richtung Europa, nach Deutschland zu lenken. Er hat | |
Hass geschürt und Solidarität erzeugt. | |
Gesagt hat Angela Merkel den Satz am 31. August 2015 in der | |
Bundespressekonferenz in Berlin. Und wie es meist so ist in historischen | |
Momenten: Die ganze Tragweite – das Gute und das Fatale – war wohl kaum | |
einem unter den im Saal Anwesenden tatsächlich klar. Übrigens auch nicht | |
Angela Merkel selbst. Doch dazu später. | |
Im Rückblick ist „Wir schaffen das“ vergleichbar mit anderen historisierten | |
Sätzen, die einer gewissen, häufig durch semantische Schlichtheit | |
entspringenden Komik nicht entbehren. | |
„Entscheidend ist, was hinten rauskommt“, lautet ein oft belachter und | |
trotzdem wahrer Satz von Helmut Kohl aus dem Jahr 1984. | |
„Mister Gorbatschow – open this gate!“, hat US-Präsident Ronald Reagan 1… | |
am Brandenburger Tor in Berlin eher genuschelt als gerufen. | |
„Das tritt nach meiner Kenntnis … ist das sofort, unverzüglich“, haspelte | |
am 9. November 1989 der SED-Politiker Günter Schabowsky. Was konkret das | |
Ende der Teilung Berlins bedeutete, klang eher wie der tastende | |
Erklärungsversuch eines langwierigen Verwaltungsaktes. | |
## Der Satz ist eine Binse | |
„Wir schaffen das“ ist von vergleichbarer Qualität. Der Satz ist eine | |
Binse. Eine als Ermutigung kaschierte Aufforderung, wie man sie vielleicht | |
verwendet, wenn man eine stark renovierungsbedürftige Wohnung betritt. | |
Konkret eingebunden war er in eines dieser Merkel’schen Knäuel aus Sätzen, | |
die von politischen BeobachterInnen erst einmal gründlich nach | |
Zitierfähigem durchkämmt werden müssen. | |
Der Saal der Bundespressekonferenz ist an diesem Sommertag, dem 31. August | |
2015, proppenvoll. Wie stets, wenn die Kanzlerin eine ihrer seltenen | |
Pressekonferenzen gibt. Angela Merkel hat vorne auf dem Podium Platz | |
genommen, sie trägt ihr korallenrotes Jackett. Rechts neben ihr sitzt | |
Regierungssprecher Steffen Seibert. Sie wolle sich, sagt Angela Merkel | |
gleich zu Beginn, „etwas ausführlicher äußern zu den vielen Menschen aus | |
aller Herren Länder, die bei uns in Deutschland Zuflucht suchen“. Es klingt | |
wie ein Grußwort. Ganze siebzehn Minuten dauern dann ihre Einlassungen, es | |
sind siebzehn Minuten weniger Zeit für die anschließenden Fragen der | |
JournalistInnen. Aber wer unterbricht schon eine Kanzlerin. | |
Schaut man sich die Pressekonferenz heute noch einmal in voller Länge an, | |
ist gut erkennbar, wie Merkel in Minute 14 halbrechts auf den vor ihr | |
liegenden Zettel schaut. Sie macht eine dramaturgische Sprechpause, | |
scheinbar hat sie etwas Wichtiges mitzuteilen. Und dann kommt’s. „Ich sage | |
ganz einfach: Deutschland ist ein starkes Land. Und das Motiv, in dem wir | |
an diese Dinge herangehen, muss sein: Wir haben so vieles geschafft. Wir | |
schaffen das. Wir schaffen das, und wo uns etwas im Wege steht, muss es | |
überwunden werden, muss daran gearbeitet werden.“ | |
Es ist nicht so, dass der Satz spürbar etwas verändert hätte. Da geht kein | |
Ruck durch den Saal, kein Aufmerken, kein Blickwechsel unter den | |
MedienvertreterInnen. Der Mantel der Geschichte kräuselt sich nicht einmal. | |
Es geht an diesem Tag um die konkreten Ereignisse der zurückliegenden | |
Wochen. Am 19. August hatte CDU-Innenminister Thomas die Maizière gesagt, | |
die Bundesregierung rechne mit 800.000 ankommenden Geflüchteten. Am 26. | |
August war Angela Merkel im sächsischen Heidenau beim Besuch einer | |
Notunterkunft mit Pfiffen und üblen Pöbeleien überzogen worden. Am 27. | |
wurde an der österreichischen Autobahn ein Kühllastwagen mit 71 elendig | |
verendeten Geflüchteten entdeckt, unter ihnen vier Kinder. | |
## Merkel will Mut machen | |
Die Situation ist extrem angespannt. Wird Deutschland – jenes Land, das die | |
Verantwortung trägt für den Zweiten Weltkrieg, das während seiner Teilung | |
stets offen für Unterdrückte, für Andersdenkende war –, wird dieses Land | |
helfen? Oder wird es dicht machen? Merkel versucht diese Stimmung mit einem | |
fassbaren Satz aufzugreifen, sie will Gestaltungsraum eröffnen, Mut machen. | |
„Wir schaffen das.“ | |
Der Tag der Pressekonferenz ist ein Montag. Am Ende derselben Woche wird | |
klar, dass die unter widrigsten Umständen ausharrenden Geflüchteten nicht | |
mehr aufzuhalten sein würden. Dass sie sich auch nicht länger aufhalten | |
lassen. Nach Telefonaten mit Ungarns Regierungschef Viktor Orbán und dem | |
damaligen österreichischen Kanzler Werner Faymann entscheidet Angela | |
Merkel, den Menschen die Einreise nach Deutschland zu erlauben. Hier | |
angekommen, werden die oft abgekämpften Männer, Frauen, Kinder mit Applaus | |
empfangen. Nur wenig später kippt die Stimmung. | |
Ein Jahr darauf gibt Angela Merkel der Süddeutschen Zeitung ein | |
bemerkenswertes Interview. Die beiden JournalistInnen – eine von ihnen ist | |
Evelyn Roll, Autorin der mit Abstand lesenswertesten Merkel-Biografie – | |
blicken mit der Kanzlerin zurück auf ihre historische Pressekonferenz im | |
Jahr 2015. | |
Sie schauen auf die Erfolge. Aber auch auf die Katastrophen von Köln, | |
Würzburg oder Ansbach. Sie fragen Angela Merkel ganz direkt: | |
Wer ist „wir“? | |
Was heißt „schaffen“? | |
Und was meint „das“? | |
Die Kanzlerin erklärt ihren Satz. Aber sie rechtfertigt sich nicht für ihn. | |
Ihr „Wir“ hatten RechtspopulistInnen umstandslos in „das Volk“ umgedeut… | |
Merkel sagt dazu, sie habe ausdrücklich nicht „Ihr schafft das“ gesagt. | |
„Dieses Wir steht für die Überzeugung, dass weder ich noch die Politik | |
insgesamt das alleine schaffen, sondern dass wir das gemeinsam leisten, die | |
Menschen, deren Bundeskanzlerin ich bin.“ | |
Mit dem Wort „schaffen“ habe sie auf die hohe Spannung in der Bevölkerung | |
reagieren wollen. Bei allen Entscheidungen habe ihre Regierung Wert darauf | |
gelegt, „dass nichts auf Kosten der Menschen geht, die schon immer oder | |
sehr lange hier leben. Das war und ist eine wichtige Voraussetzung dafür, | |
wenigstens einen Teil der Ängste der Menschen aufzufangen: ihnen zu sagen, | |
dass ihnen unsere Politik verpflichtet ist und bleibt, dass sie genauso | |
wichtig sind, wie sie es immer waren, dass jetzt gerade aber auch vieles, | |
was wir in unseren Sonntagsreden gerne ausdrücken, auf die praktische Probe | |
gestellt wird. Stehen wir also zu dem, was unser Grundgesetz über die | |
Menschenwürde sagt? Stehen wir zu unserem humanitären Anspruch? Stehen wir | |
zu dem, was den Kern unserer Europa- und Außenpolitik ausmacht? Darum geht | |
es. Das müssen wir schaffen.“ | |
Und was meint „das“? Merkel schildert, wie sie als Regierungschefin bis zum | |
Sommer 2015 das Flüchtlingsthema beiseitegeschoben hatte. „Auch wir | |
Deutschen haben das Problem zu lange ignoriert und die Notwendigkeit einer | |
gesamteuropäischen Lösung verdrängt“, räumt sie ein. „Stattdessen haben… | |
gesagt, dass wir das schon an unseren Flughäfen regeln, weil Deutschland | |
sonst keine EU-Außengrenzen hat, uns also das Problem schon nicht erreichen | |
wird. So geht es aber nicht.“ | |
## Hoher Druck, auch ein Jahr später | |
Man spürt deutlich, wie hoch auch im Sommer 2016 der Druck auf Angela | |
Merkel ist. Im März hat die EU einen Menschen-gegen-Geld-Deal mit der | |
Türkei abgeschlossen. In Deutschland gewinnt die AfD in den Umfragen und | |
bei den Landtagswahlen an Zustimmung. In Würzburg und Ansbach haben | |
Asylbewerber blutige Gewalttaten verübt. Es gibt offen zur Schau gestellte | |
Fremdenfeindlichkeit. Verwaltung und öffentlicher Dienst sind komplett | |
überlastet, Bürgermeister und Landräte rebellieren. Bayerns | |
Ministerpräsident Horst Seehofer stellt Merkels Politik in eine Reihe mit | |
der von Diktatoren. „Wir haben im Moment keinen Zustand von Recht und | |
Ordnung“, klagt Seehofer. „Es ist eine Herrschaft des Unrechts.“ | |
Die Kanzlerin tut deshalb in diesem Interview zum zweiten Mal binnen eines | |
Jahres etwas, was sie sonst ablehnt. Sie wird pathetisch. „Deutschland | |
bleibt Deutschland“, sagt sie also, „mit allem, was uns lieb und teuer | |
ist.“ Es ist die maximal zugewandte Variante von Angela Merkel. Es ist „Wir | |
schaffen das“ auf Patriotisch. Mehr geht nicht. | |
Eines ist ihr jedoch auch noch wichtig zu sagen. Wenn sie vor diesem | |
denkwürdigen Tag, vor dieser Pressekonferenz gefragt worden wäre, ob sie | |
einen bestimmten Satz mitgebracht habe, der danach sehr viel zitiert werden | |
würde, dann hätte sie „Wir schaffen das“ eigentlich nicht genannt. „Aber | |
gesagt habe ich,Wir schaffen das' aus tiefer Überzeugung, und zwar in dem | |
Bewusstsein, dass wir es mit einer nicht einfachen und großen Aufgabe zu | |
tun haben. Als Kind der deutschen Einheit war mir klar, dass wir wieder | |
viele neue Wege gehen, bürokratische Hürden abbauen mussten und Ängste | |
auch. ‚Wir schaffen das‘ ist das richtige Motiv für diese Aufgabe – Ziel | |
und Haltung.“ | |
Ziel und Haltung. | |
Wir schaffen das. | |
9 Aug 2020 | |
## AUTOREN | |
Anja Maier | |
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