# taz.de -- Geflüchtete in Sachsen: Charmeoffensive in Freiberg | |
> Vor fünf Jahren nahmen Bewohner*innen der sächsischen Kreisstadt | |
> ankommende Geflüchtete mit Flaschenwürfen in Empfang. Wie ist die | |
> Stimmung heute? | |
Bild: Zwischen Nikolaikirche und Theater: Wie friedlich Freiberg an diesem Somm… | |
Wer in Freiberg lebt, kennt sich – vom Grüßen, Sehen, manchmal auch vom | |
Wegsehen. Sich aus dem Weg zu gehen, ist schwierig in dieser | |
41.000-Einwohner-Stadt, die nicht ganz klein ist, aber auch nicht groß, | |
sondern irgendwas in der Mitte, aber sie liegt ja auch in der Mitte von | |
Sachsen, zwischen Dresden und Chemnitz, von daher passt das. Durch die | |
gepflegte Altstadt mit Wallanlagen und Schloss schlängeln sich | |
mittelalterliche Gassen, über den Obermarkt wacht Otto der Reiche in | |
Bronze, über den Untermarkt der Dom mit seiner wertvollen Silbermannorgel. | |
[1][Amir Nikou] ist einer der 80 Sängerinnen und Sänger des Domchors. Der | |
ausgebildete Tenor ist 41 Jahre alt und stammt aus dem Iran. Er wirkt wie | |
einer, der auf der Straße nicht wegsieht, sondern grüßt, und wenn er | |
erzählt, was er alles so macht, strahlt seine Stimme sogar durchs Telefon: | |
Er ist Mitbegründer der Bürgerbühne, singt zusätzlich zum Domchor im | |
Gemeindechor Petri-Johannis, ist Dolmetscher für Geflüchtete und | |
Asylbewerber und Teil der Kampagne #gesichtzeigen, mit der hundert | |
Freiberger und Freibergerinnen für eine tolerante weltoffene Stadt werben. | |
Amir Nikou ist eins der wenigen Gesichter mit Migrationshintergrund. Er | |
sagt: „Ich versuche, ein Vorbild zu sein.“ Denn Freiberg ist nicht ganz so | |
weltoffen, wie es gerne wäre. | |
Vor fünf Jahren sorgte der Name der Stadt bundesweit für Schlagzeilen. Am | |
Abend des 25. Oktober 2015 wurde in Freiberg ein Sonderzug mit etwa 700 | |
Geflüchteten aus Bayern erwartet. Sie sollten in Busse umsteigen, um auf | |
Unterkünfte im Land Sachsen verteilt zu werden. [2][Ab dem späten | |
Nachmittag versammelten sich bis zu 400 Menschen am Bahnhof], um durch eine | |
Sitzblockade die Weiterfahrt der Busse zu verhindern. Die Polizei, mit 200 | |
Einsatzkräften vor Ort, musste Schlagstöcke und Pfefferspray einsetzen, um | |
den Weg für die Busse freizuräumen, begleitet von Beschimpfungen, Flaschen- | |
und Apfelwürfen. | |
Offizielle Bilanz: mehrere leicht verletzte Beamte, verschiedene | |
Strafanzeigen – und ein großer Imageschaden für die Stadt. Der sächsische | |
Justizminister wird ein Jahr später auf Anfrage der Grünen erklären, | |
politisch motivierte Kriminalität habe es bei den Ausschreitungen nur in | |
einem Fall gegeben, nämlich einen Hitlergruß. | |
Zum Zeitpunkt der Ausschreitungen wohnt Amir Nikou schon eineinhalb Jahre | |
in Freiberg. Er fährt zufällig mit dem Rad am Bahnhof vorbei, wo einige | |
Freunde aus der iranischen Gemeinde beim Unterstützerkomitee | |
mitdemonstrieren. Sie fordern ihn auf, sich ihnen anzuschließen, aber er | |
lehnt ab. Er habe gesagt: „Das ist euer Land“, erzählt er, nicht weil er | |
sich Deutschland nicht verbunden fühlt, sondern weil er damals noch keine | |
deutsche Staatsbürgerschaft besitzt. „Ich fand, dass ich kein Recht dazu | |
habe.“ | |
Im Jahr 2012 hatte Nikou den Iran verlassen, um in Italien Gesang zu | |
studieren. Während er in seiner Heimat als Christ zu einer verfolgten | |
Minderheit gehört, die ihren Glauben nur im Geheimen praktizieren kann, | |
entdeckt er in Italien, was es heißt, seine Religion offen ausleben zu | |
können. Doch genau das wird schließlich zum Problem. Freunde warnen ihn vor | |
einer Rückkehr, sein Studium kann er nicht fortsetzen, weil ihm die Papiere | |
fehlen, er hängt in der Luft. | |
Er verbringt ein paar Monate bei Freunden in Hamburg, währenddessen werden | |
Bekannte im Iran verhaftet, weil sie Christen sind. Nach sieben Monaten | |
gibt er die Hoffnung auf, zurückkehren zu können, und entscheidet sich, | |
einen Asylantrag zu stellen. Nach drei Wochen im Asylbewerberheim in | |
Chemnitz landet er am 21. März 2014 in Freiberg. | |
Seither bereichert er das kulturelle Leben der Stadt. Er spielte schon den | |
„Luther aus Teheran“, sang Schuberts „Winterreise“ und wird als nächst… | |
Humboldt verkörpern. Obwohl er sein Studium nicht beenden konnte, wirkt er | |
zufrieden. Seit einem Jahr macht Nikou eine Ausbildung zum Erzieher, auch | |
dort kann er seine musischen Talente einbringen. „Ich versuche, positiv zu | |
sein.“ Integration vormachen, vorleben, verkörpern. | |
Ja, es gebe „Unfreundlichkeit“ in Freiberg, formuliert er vorsichtig. Aber | |
er habe vor allem Freundlichkeit und Unterstützung erfahren. Als ihm | |
kurzfristig eine Abschiebung drohte, halfen ihm Menschen aus der | |
Kirchengemeinde, jetzt will er etwas zurückgeben. | |
Ob er sich in Freiberg voll integriert fühlt? „Ich habe mich nie verletzen | |
lassen“, sagt Nikou, „ich war immer selbstbewusst in mir.“ Vielleicht rü… | |
diese innere Ruhe aus seinem Glauben. Vielleicht geht es aber auch gar | |
nicht anders, wenn man in einer Stadt lebt, in einem Land, in dem viele | |
Menschen gegen einen sind, weil man nicht von hier kommt, vielleicht sogar | |
eine andere Hautfarbe hat. Ist Amir Nikous unerschütterlicher Optimismus, | |
sein positives Denken seine Überlebensstrategie? | |
Bei den Kommunalwahlen 2019 wurde die AfD stärkste Kraft im Freiberger | |
Stadtrat, gefolgt von der CDU und den Freien Wählern. Der parteilose | |
Oberbürgermeister Sven Krüger regiert mit den Stimmen eines inoffiziellen | |
Rechtsbündnisses, das neben der FDP und den Freien Wählern von einer CDU | |
mitgetragen wird, die rechter ist als die CDU Sachsens. In den „Freiberger | |
Thesen“ hatte der CDU-Ortsverband Ende 2017 die Bundeskanzlerin für ihre | |
Asylpolitik kritisiert und sie sowie Generalsekretär Tauber zum Rücktritt | |
aufgefordert. Der CDU-Ortsvorsitzende Holger Reuter schloss damals in einem | |
MDR-Interview eine Koalition mit der AfD nicht aus. | |
Ebenfalls 2017 hatte OB Krüger publikumswirksam eine Rechnung über 736.200 | |
Euro ans Bundeskanzleramt geschickt – so viel habe die Stadt die | |
Integration der 1.700 anerkannten Geflüchteten und Asylbewerber im Jahr | |
2016 gekostet. Im Jahr 2018 verließ er seine Partei, die SPD, und | |
verkündete via Facebook, er empfinde angesichts der Politik der Großen | |
Koalition ein „Fremdschämen“. Im selben Jahr versuchte er, [3][eine | |
Zuzugssperre für Geflüchtete und Asylsuchende beim Landkreis zu erwirken] – | |
und scheiterte. | |
Zu verdanken ist das auch der Rechtsaufsichtsbeschwerde, die Jana Pinka | |
erfolgreich bei der Landesdirektion einlegte. „Mein Lebenswerk“, sagt die | |
Stadt- und Kreisrätin der Linken mit leichter Ironie und echtem Stolz, | |
während sie im Café Momo einen frisch gebrühten orientalischen Mokka | |
trinkt. „Der Antrag kam, als gar kein Zuzug mehr stattfand.“ | |
Bis 2019 saß die 56-Jährige für die Linke im sächsischen Landtag. Sie ist | |
herzlich, direkt und der Typ hartnäckige Abgeordnete, „ich war schon immer | |
die Querdenkerin“. Pinka hat zahlreiche Anfragen im Landtag gestellt, | |
Beschwerden eingereicht zu dem, was auf die Ereignisse 2015 folgte. | |
Beschimpfungen auf der Straße, Anfeindungen in den sozialen Netzwerken – | |
sie ist froh, dass sie jetzt „wieder zum Fußvolk“ gehört. Es ist ruhiger | |
geworden für sie. | |
„Die CDU ist dafür verantwortlich, dass die AfD so erstarkt ist“, sagt | |
Pinka. „Jetzt sind sie die Getriebenen.“ Getrieben wie auch OB Krüger, von | |
dem sie sagt, „er sollte ein bisschen mehr Rückgrat zeigen“. Sie klingt | |
fast mitleidig. „Er war 2015 noch nicht lange im Amt und sicherlich von der | |
Situation etwas überfordert.“ Doch das ist fünf Jahre her – seine Haltung | |
hat sich eher versteift. | |
Muaiad Ibrahim, ein alter Bekannter von Pinka, kommt im lachsfarbenem Hemd | |
auf einen Kaffee vorbei, er hat Urlaub. Der promovierte Jurist aus Syrien | |
koordinierte 2015 in der [4][Gesellschaft für Strukturentwicklung und | |
Qualifizierung (GSQ)] die Unterbringung der ankommenden Geflüchteten für | |
den Landkreis Mittelsachsen. „Ich war froh, dass ich helfen konnte, den | |
Neuankömmlingen die deutsche Kultur und ihre Werte entgegenzubringen“, sagt | |
er. „In den Ämtern hier gibt es kaum Leute mit Migrationshintergrund.“ | |
Heute arbeitet Ibrahim als Koordinator [5][des Bunten Hauses, eines | |
Mehrgenerationentreffs]. Dort bieten sie Tandemsprachkurse, Volkstanzkurse, | |
Nähkurse für Geflüchtete an. „Basisarbeit“, sagt Ibrahim. „Und die bra… | |
wirklich Zeit.“ Er rechnet mit mindestens einer Generation, die älteste | |
seiner vier Töchter hat gerade Abitur gemacht. Bei seiner Arbeit für die | |
GSQ agierte er oft als Vermittler zwischen den Kulturen: „Wenn ich auf die | |
Menschen zugehe, kann ich Ängste abbauen. Es stimmt nicht, dass alle Leute | |
Ausländer hassen. Aber es gibt viel Propaganda.“ | |
Ibrahims Job bei der GSQ endete im Jahr 2017. Im Februar 2016 begleitete er | |
in einem Bus Geflüchtete nach Clausnitz, [6][der von rechten | |
Demonstrant*innen blockiert und attackiert wurde]. „Es war schrecklich“, | |
sagt Ibrahim, aber: „Dies war Clausnitz und nicht Freiberg.“ Ähnlich wie | |
Amir Nikou sieht er sich dem Positiven und der Integration „von beiden | |
Seiten“ verpflichtet. „Wenn wir über die Deutschen reden, dann dürfen wir | |
sie auf keinen Fall als rechtes Pack darstellen“, sagt er. „Das entspricht | |
nicht der Wahrheit. Mein Dank an dieser Stelle gebührt den vielen | |
Ehrenamtlern aus Freiberg, die unsere Arbeit erleichtern. Schreiben Sie | |
das!“ | |
An Freibergs Stadtmauer hängt eine Aufschrift aus dem Jahr 1554: „Das Heil | |
der Stadt ist die Eintracht der Bürger.“ Darunter gibt ein moderner | |
Durchbruch den Blick auf ein innerstädtisches Parkhaus frei. | |
Außerhalb der Stadtmauer, in der Johannisvorstadt, eine Viertelstunde | |
Gehzeit vom Zentrum entfernt, liegt das Gemeindehaus St. Johannis. Es ist | |
Wohnort und Wirkungsstätte von Pfarrer Michael Stahl. Ein klassischer | |
20er-Jahre-Bau, in dessen Garten zu DDR-Zeiten ein Glockenturm gebaut | |
wurde. Die Gemeinde führt das Sankt im Namen, weil das Gelände früher zu | |
einem katholischen Stift gehörte. Der Gemeindesaal, von hundert auf zehn | |
Stühle reduziert, wird gerade für das Seniorentreffen am Nachmittag | |
hergerichtet. Licht fällt rechts und links durch moderne bleiverglaste | |
Oberlichtfenster. Über der Eingangstür versteckt sich die silberne Orgel. | |
Stahls Gemeinde ist fusioniert, also groß. 2.400 Mitglieder. Obwohl erst | |
seit gut einem Jahr im Amt, ist der gebürtige Erzgebirgler, Jahrgang 1978, | |
sofort ins Zentrum des Geschehens katapultiert worden. Er gehört zu den | |
Mitbegründern des im letzten Jahr entstandenen Aktionsbündnisses | |
[7][„Freiberg für alle“], das die Plakataktion #gesichtzeigen gestartet | |
hat. Es geht um „Empowerment“, erklärt Stahl die Idee des Netzwerks. „Wir | |
wollen helfen, Menschen darin zu unterstützen, in ihrem Umfeld Ideen und | |
Haltung zu entwickeln.“ Mit der Plakataktion hatten sie „von Anfang an das | |
Ziel, positiv für etwas zu werben“, sagt Stahl. Auch das eine | |
Charmeoffensive. Herz statt Hetze. | |
Schon Stahls Vorgänger, Pfarrer Michael Tetzner, hatte eine iranische | |
Glaubensgruppe innerhalb der Petri-Johannis-Gemeinde betreut, zu der 2015 | |
auch Amir Nikou dazu kam. „Am Anfang ging es um praktische | |
Flüchtlingshilfe“, erklärt Stahl. „Das ist kein drängendes Thema mehr.�… | |
Punkt für ihn ist jetzt: „Wie ergeht es der Zivilgesellschaft, wenn die AfD | |
mit ihren politischen Leitbildern weiter an Einfluss gewinnt? Sie führt | |
einen klassischen Kulturkampf und besetzt Themen, bei denen es darum geht, | |
rassistische Kriterien salonfähig zu machen.“ Diesen Kulturkampf führt sie | |
teilweise in der Kirche und teilweise gegen sie. Da, wo es Pfarrer wie | |
Stahl gibt. | |
[8][Im März 2019 hatte sich eine Auseinandersetzung der Stadt mit dem | |
Theater zugespitzt.] Anlass war die „Dialog“-Reihe des Theaters, ein | |
Debattenformat, bei dem die Autorin Liane Bednarz, eine Expertin für die | |
neue Rechte, [9][ihr Buch „Die Angstprediger]. Wie rechte Christen | |
Gesellschaft und Kirchen unterwandern“ vorstellen und diskutieren sollte. | |
Kirchenmann Michael Stahl war als Gast der Diskussionsrunde eingeladen, | |
moderieren sollte den Abend der FAZ-Journalist Stefan Locke. Zwei Monate | |
vor den Landtagswahlen machte die AfD Druck, bis die Stadtspitze | |
schließlich entschied, die Diskussion aus dem Theater in den Festsaal der | |
Stadt zu verlegen. | |
Für September hat Pfarrer Stahl die Autorin Bednarz erneut eingeladen. Ihm | |
liegt das Thema am Herzen. „Wir wollen den Dialog aufnehmen“, sagt Stahl. | |
„Was ist konservativ? Was ist neurechts? Diese Unterschiede muss man | |
herausarbeiten.“ Aber dieses Mal wird die Kirche die Veranstalterin sein, | |
und die ist autark. Die Landeskirchenleitung stehe hinter ihm, versichert | |
Stahl. | |
Mit Blick auf die USA fürchtet er, dass evangelikale und konservative | |
Christen für autoritäre und neurechte Positionen sein könnten und solche | |
Einflüsse auch nach Sachsen ausstrahlen. Wo setzt eine solche Beeinflussung | |
oder auch Unterwanderung an? „Wenn man Nationen zur göttlichen Ordnung | |
erklärt“, nennt er ein Beispiel. „Patriotismus kann ich dagegen als | |
konservative Position gelten lassen.“ | |
Von der Johannisvorstadt durch die Wallanlagen zurück in die Altstadt ist | |
es nicht weit. In den Auslagen der Geschäfte warten Plauener Spitze, | |
Schultüten aus Frottee, Räuchermännchen und Holzspielzeug aus dem | |
Erzgebirge auf touristische Kundschaft, die zu Coronazeiten dünn gesät ist. | |
Auch [10][das Mittelsächsische Theater am Buttermarkt] liegt da wie | |
ausgestorben. | |
Intendant Ralf-Peter Schulze steht, nicht im typischen Schwarz der | |
Regisseure, sondern leger in Jeans und Hemd gekleidet, in seinem | |
Intendantenzimmer mit Blick auf die Nikolaikirche und sagt: „Die Stadt | |
müssen wir immer wieder gewinnen. Wir haben eine integrative Aufgabe, | |
Menschen unterschiedlichster Prägung zu erreichen. Ohne unsere Haltung zu | |
verlieren.“ Von Haltung ist in dieser Stadt viel die Rede. | |
Schulze, Jahrgang 1955, geboren in Weimar, mit Theatersozialisation in | |
vielen ostdeutschen Städten, ist seit 2011 der künstlerische Intendant des | |
Mittelsächsischen Theaters, das auch eine Philharmonie und Oper hat und | |
eine Dependance in Döbeln. Das Stammhaus am Buttermarkt trägt auf der | |
Fassade die Inschrift „Die Kunst gehört dem Volke“, noch aus der DDR-Zeit. | |
Der Intendant führt seine Gäste in den Theatersaal mit den geschwungenen | |
Rängen, wo gerade zwei Drittel der rot gepolsterten Bestuhlung | |
herausgenommen wurde. Dort soll ab September Theater als Salonkultur wieder | |
aufleben. „Ich bin irritiert über die Spontaneität der Politik, was die | |
Abstandsregeln angeht“, spottet Schulze. Bis zum 31. Dezember ist sein Haus | |
mit den etwa 180 Festangestellten in Kurzarbeit. | |
Im Februar waren Girlanden über die Gassen gespannt, die mit „Sein oder | |
Nichtsein“ für einen Theaterbesuch warben. Nicht Shakespeares Hamlet, | |
sondern die Lubitsch-Komödie. Jetzt im Juli verteilt Schulze von der | |
Theaterschneiderei gefertigte Schutzmasken, die diese Inschrift tragen. Um | |
Sein oder Nichtsein ging es schon öfter für das Theater, zumindest um seine | |
Existenz als ein Ort der Freiheit der Kunst und der gesellschaftlichen | |
Debatte. | |
Ein AfD-Stadtrat hatte sich in einem Facebook-Post beschwert, dass im | |
Programmheft zu „Sein oder Nichtsein“ ein Text aus einem Buch von Niklas | |
Frank abgedruckt war. Der Sohn von Hitlers Generalgouverneur Hans Frank hat | |
mehrfach gegen die AfD-Rhetorik Stellung bezogen. „Wir haben die | |
Blauäugigkeit verloren“, sagt Schulze. „Der Kulturkampf von rechter Seite | |
ist in vollem Gange. Es geht um existenzielle Rechte.“ | |
Blauäugig oder gut gemeint waren die Schminkaktionen auf dem Marktplatz, | |
die Musik- und Schauspieldarbietungen, die es im Herbst 2015 auch als | |
Gegenreaktion auf die Vorkommnisse im Bahnhof gab. Als im Dezember die | |
„Bühne der Weltoffenheit“ als Gegenaktion zu einer AfD-Kundgebung | |
stattfand, wurde es schon deutlich ungemütlicher, erinnert sich Schulze. | |
„Man hat sich öffentlich sortiert.“ | |
Das Theater durfte keine öffentlichen Mittel für die „Bühne der | |
Weltoffenheit“ aufwenden und die Theaterleute durften dort nur als | |
Privatpersonen auftreten. „,Was darf Theater' wurde schon hier zum Thema“, | |
sagt Schulze. „Theater werden für bestimmte Stücke angefeindet. Begriffe | |
wie Meinungsfreiheit, Toleranz, Demokratie, Menschenrechte haben wir | |
schärfer gestellt, um auch gerade den rechten Umdeutungsversuchen eine | |
Haltung entgegenzusetzen.“ | |
Am Bahnhof war Schulze 2015 nicht. „Die Ausschreitungen hielt ich für eine | |
Entgleisung“, erinnert er sich. „Wir haben damals noch nicht daraus | |
geschlossen, dass dies ein gesamtgesellschaftliches Bild ist. Es wurde aber | |
schnell klar, wie wichtig es wird, Gesicht zu zeigen.“ | |
Anselm Peischl, der für die Grünen im Kulturausschuss sitzt, gehörte im | |
Jahr 2015 zu dem kleinen Willkommenskomitee, das „eigentlich zuerst“ am | |
Bahnhof war. Dann seien plötzlich die Gegner*innen der Merkel’schen | |
Flüchtlingspolitik aufgetaucht: normale Leute – heute würde man sagen: | |
Wutbürger –, einige stadtbekannte Neonazis und, vermutet Peischl, Externe | |
aus der rechten Szene. „Die Situation war sehr stressig, aber kein | |
Gewaltexzess“, sagt der 30-Jährige. „Doch es war das erste Mal, dass so | |
unterschiedliche Gruppen von Menschen zusammenkamen. Bis dahin kannten wir | |
nur die NPD-Demos. Und was den Flüchtlingen und uns entgegenschlug, kann | |
man schon als blanken Hass bezeichnen.“ | |
Von der neuen Offensive #gesichtzeigen des Aktionsbündnisses Freiberg für | |
alle ist Peischl nicht überzeugt. „Das ist nett, aber ändert nichts“, sagt | |
er. „Die AfD hat es hingekriegt, bürgerlich zu erscheinen. Und die | |
Gegenrede ist noch immer sehr verhalten.“ | |
Der Kulturkampf macht sich an Kleinigkeiten fest, die nicht klein sind. Es | |
geht um Umdeutung und Deutungshoheit, es geht um das Verschieben von | |
Grenzen des Sagbaren und Machbaren. Peischl ist mit seinem Projekt, eine | |
Art Jugendclub aufzuziehen, gescheitert. „Als hätte man die nächste | |
Antifa-Ausbildungsstätte errichten wollen“, stöhnt er. „Dabei ging es um | |
junge Kultur, Begegnungsorte und kreative Freiräume.“ | |
Ein Antrag der SPD, mehr Bürgerbeteiligung zu schaffen und die | |
Stadtratssitzungen öffentlich zu streamen, wurde im Juli abgelehnt. Als | |
„Freiberg für alle“ im Juni sein neues Magazin der Kampagne #gesichtzeigen | |
herausbrachte, lagen die Hefte an kommunalen Stellen aus. Die AfD | |
beschwerte sich. Kurz darauf waren sie verschwunden. | |
Theaterintendant Ralf-Peter Schulze sagt: „Das Bild von Freiberg ist | |
diverser heute. Die Stadt ist sensibler, der Mut gewachsen. Und die das | |
spüren, sind aggressiver geworden.“ Pfarrer Michael Stahl ahnt, dass „die | |
alten Reflexe zu Migration sich jederzeit wieder bedienen lassen. Immer, | |
wenn es kein anderes Thema gibt.“ | |
Gerade gibt es ein anderes Thema: Corona. An einem Montagabend im Juli | |
steht ein versprengtes Grüppchen von etwa 30 Menschen auf dem Obermarkt. | |
Sie sind gegen Maskenpflicht und gegen den angeblichen Impfzwang, fordern | |
„freie Entfaltung der Persönlichkeit“. Wie viele Akteure und wie viele | |
Publikum sind, ist nicht genau auszumachen. Aber es wird geklatscht. | |
Amir Nikou hat inzwischen seine Einbürgerung beantragt, am Donnerstag hat | |
er „ein dickes Buch“ mit Dokumenten, Zeugnissen und Empfehlungsschreiben | |
bei den Behörden abgegeben. Er möchte ein vollwertiges Mitglied der | |
Gesellschaft sein und wählen gehen. Und demonstrieren können, wenn es | |
darauf ankommt. | |
8 Aug 2020 | |
## LINKS | |
[1] https://site.freibergfueralle.de/gesichtzeigen-amir-nikou | |
[2] /Neue-Angriffe-auf-Fluechtlinge/!5245043&s=freiberg/ | |
[3] /Aufnahmestopp-im-saechsischen-Freiberg/!5484302&s=Jana+Pinka/ | |
[4] https://www.gsq-freiberg.de/ | |
[5] http://freiberg.cjd-chancen.de/ | |
[6] /Angriff-auf-Fluechtlingsbus-in-Clausnitz/!5277063 | |
[7] https://site.freibergfueralle.de/freibergfueralle | |
[8] /AfD-macht-Druck-auf-Kulturinstitutionen/!5591620&s=freiberg/ | |
[9] https://www.droemer-knaur.de/buch/liane-bednarz-die-angstprediger-978342627… | |
[10] https://www.mittelsaechsisches-theater.de/ | |
## AUTOREN | |
Sabine Seifert | |
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