| # taz.de -- Demonstrationen und Diskriminierung: Die Wut der Unterdrückten | |
| > Menschen, die immer höflich bleiben, werden nicht gehört, sagt unsere | |
| > Autorin. Protestierende brauchen den Zorn, um soziale Ungleichheit | |
| > anzuprangern. | |
| Bild: Emotionen von Leidenden werden seit jeher übergangen, umgedeutet oder be… | |
| Protestierende sind für gewöhnlich wütend. Sie erfahren oder beobachten | |
| etwas, das sie erzürnen lässt und sie an die Öffentlichkeit lockt, um dort | |
| lautstark die Umstände zu kritisieren. Wut, [1][argumentierte die | |
| Schriftstellerin und Aktivistin Audre Lorde bei einer Konferenz] 1981, | |
| führe zu Fortschritt und Wandel. Nicht gemeint ist damit die unerträgliche | |
| Empörung derer, die sich einer banalen Atemmaske verweigern. Es geht | |
| vielmehr um die Wut aufgrund von Unrecht und Unterdrückung, von realer | |
| sozialer Ungleichheit in all ihren Formen und Folgen. | |
| Wut steht hier exemplarisch für ein Set an Emotionen, die dabei zum | |
| Ausdruck kommen. Allerdings wird den Emotionen der Leidenden seit jeher | |
| eher ungern Aufmerksamkeit geschenkt: Ihre Wut wird übergangen, umgedeutet | |
| oder bestraft. Wut als Teil des Kampfs für mehr Gerechtigkeit zu begreifen, | |
| wie auch Lorde forderte, ist deshalb so wichtig, weil erstens die Kontrolle | |
| der Wut ein Aspekt der Unterdrückung ist, gegen die sie sich wendet. | |
| Zweitens lassen sich mit einer empathischen Anerkennung der Wut auch die | |
| verschiedenen Kämpfe gegen Unrecht verbinden. | |
| Das kann die Wut der Protestierenden von Black Lives Matter sein, denen so | |
| lange schon nicht zugehört wird. Die Wut nach den Anschlägen von Halle, | |
| Hanau und durch den NSU und über das Vergessenwerden. Die Wut fehlender | |
| Anerkennung, die Wut aufgrund struktureller Gewalt. Es kann eine Wut sein, | |
| die sich schleichend Bahn bricht. Oder eine, mit der sich in | |
| Sekundenbruchteil der Puls beschleunigt, wenn jemand aus einem Autofenster | |
| anzügliche Sprüche säuselt, während man an der Ampel steht. | |
| [2][Emotionen können, vergleichbar mit Sprache und anderen körperlichen | |
| Techniken, als Praktiken gedeutet werden]. Sie sind historisch gewachsene | |
| Kommunikationsformen, die sich je nach Zeit und Raum anders äußern und | |
| anders anerkannt werden. Wenn man wütend ist, die Atmung flach wird und das | |
| Herz rast, dann sind das verkörperte Effekte, die mitunter erlernt wurden – | |
| und die an Konventionen, soziale Erwartungen und spezifische Situationen | |
| gebunden sind. | |
| ## Was ist Tone Policing? | |
| Wie Sprache bilden auch Emotionen umkämpfte Felder, in denen Macht | |
| ausgehandelt wird. Der Begriff des Tone Policing, also der Kontrolle des | |
| Tons, mit dem etwas geäußert wird, beschreibt, wie beispielsweise die | |
| Stimme, der Tonfall, die Mimik und Gestik bis hin zur Sprache gemaßregelt | |
| werden. „Kannst du das mal netter sagen?“, ist so ein Satz um die Emotionen | |
| des Gegenübers, die sich beispielsweise in einer lauten Stimme, einem | |
| verzerrten Gesicht äußern, zu dominieren. Er impliziert: „Ich habe dich | |
| zwar gehört, aber die Art und Weise, wie du es sagst, passt mir nicht – und | |
| deshalb setze ich mich auch nicht damit auseinander.“ | |
| Tone Policing, beziehungsweise Emotionskontrolle, tritt dort auf, wo | |
| Menschen sich weigern, den Emotionen des Gegenübers Raum zu geben. Es kann | |
| als Versuch verstanden werden, emotionale Äußerungen zu ignorieren, zu | |
| negieren und andere Verhaltensformen zu erzwingen. | |
| Wer nett und höflich bleibt und die gesellschaftliche Etikette wahrt, so | |
| die Folgerung, der werde auch erhört. Die Reaktionen auf die | |
| Black-Lives-Matter-Demonstrationen zeigen: Friedlicher, stiller Protest | |
| werde unterstützt, laute, wütende, sich Raum nehmende Menschen jedoch | |
| nicht. Ihre Formen der Emotionalität werden vereinfacht als „Krawalle“ oder | |
| „Randale“ gedeutet und abgelehnt. | |
| In einem anderen Fall von Tone Policing sind wütende Frauen adressiert, | |
| prominent gesetzt in der Figur der aggressiven Feministin oder der angry | |
| black woman. Ein Beispiel für die Kontrolle weiblicher Körper wäre die | |
| lange praktizierte gewaltvolle Behandlung der Hysterie als spezifisch | |
| weibliche Erkrankung. Ein anderes spiegelt sich in der Annahme, | |
| Auseinandersetzungen könnten ausschließlich nach bestimmten Regeln, nämlich | |
| rational und vernunftgeleitet, geführt werden. Dies missachtet die | |
| historische Konstruiertheit dieser Eigenschaften, und, was noch wichtiger | |
| ist, schreibt die Fähigkeit zur Vernunft den Männern zu – während Frauen in | |
| der Gegenüberstellung als emotional, irrational, affektiv etc. markiert | |
| sind. | |
| ## Machtstabilisierend oder machtherausfordernd? | |
| Ihre Positionen werden, wenn sie sich nicht den legitimierten | |
| Kommunikationsformen anpassen, übergangen, gemaßregelt, unterdrückt oder | |
| bestraft. Wütende Suffragetten beispielsweise, die für das Frauenwahlrecht | |
| und für mehr Beteiligung kämpften, wurden eingesperrt, während die | |
| friedlichen anderen weiterhin Unterschriften sammeln durften. Die Kontrolle | |
| über Emotionen üben auch die Marginalisierten selbst aus, am eigenen Körper | |
| und an der eigenen Gruppe. | |
| Tone Policing ist ein relativ neuer Begriff und benennt, vermeintlich | |
| harmlos, den Ton als die Weise, wie Unrecht verlautet wird. Er beinhaltet | |
| aber ein ganzes Spektrum an Strategien, um die je nach Kontext | |
| unterdrückten Körper (ihre Sprache, ihre Emotionen und so weiter) zu | |
| überwachen. Dass diese Strategien so oft auf die Wut zielen, liegt daran, | |
| dass sie unkontrollierbar scheint. Wer mal Zeug:in eines handfesten | |
| Wutausbruchs war, hat das vermutlich schon erlebt. Der Unterschied ist, wer | |
| wütend wird. | |
| Denn während aggressives Verhalten der einen machtstabilisierend wirkt, | |
| zielt eine Wut, die Unrecht benennt, gegen machtvolle Strukturen. Diese Wut | |
| wirkt bedrohlich, erfordert Regulierung. | |
| Der Begriff hat noch eine weitere Komponente, nämlich die des Gegenübers, | |
| das einen gemäßigten, an Höflichkeitsregeln gebundenen Umgang mit | |
| bestimmten Themen einfordert. Audre Lorde richtete sich bei jener Konferenz | |
| an weiße, akademische Frauen, an deren Maßregelung von Wut aufgrund | |
| rassistischer, sexistischer und homophober Zustände: Die Angst vor der Wut | |
| einer Schwarzen, lesbischen Frau scheine, so Lordes Folgerung, bedrohlicher | |
| zu sein als die Zustände selbst. Und die Angst vor der eigenen Verfehlung | |
| zudem bedrohlicher als die tödlichen Folgen dieser Zustände. | |
| ## Schuldvolles Schweigen | |
| Die Forderung, etwas netter, rationaler oder einfach anders auszudrücken, | |
| stellt die Emotionen der Kontrollierenden in den Vordergrund. Die Begriffe | |
| white Fragility und male/white Tears bezeichnen sinnbildhaft den Versuch, | |
| die Aufmerksamkeit auf die eigene Emotionalität zu ziehen – als sei die | |
| Konfrontation mit bloßer Kritik von Ungerechtigkeit schmerzvoller als das | |
| Erleben derselben. Die Weigerung denen Gehör zu schenken, die ihre | |
| Erfahrungen freundlicherweise teilen, zeigt sich in schuldvollem Schweigen | |
| oder in der herausgestellten eigenen Betroffenheit. | |
| Es ist ein Lernprozess, die Wut der anderen auszuhalten und dabei auch noch | |
| die eigene (Re-)Produktion machtvoller Verhältnisse zu reflektieren. Eine | |
| empathischer Umgang mit Emotionen könnte ein Anfang sein. Um Rassismus zu | |
| verlernen, [3][wie unlängst die Kulturwissenschaftlerin Fatma Sagir in der | |
| Wochenzeitung Kontext formulierte], sei notwendig, zu „fühlen, was der | |
| Schmerz des anderen ist“. | |
| Die Wut aus jahrzehntelangen Kämpfen anzuerkennen, die oftmals still und | |
| friedlich verliefen und trotzdem nicht die geforderten Veränderungen | |
| herbeiführten, ist ein Aspekt von Empathie. Wut zudem als verbindendes | |
| Element vieler Kämpfe zu betrachten, könnte helfen, Empathie solidarisch | |
| werden zu lassen – und damit endlich denen zuzuhören, die an Unrecht | |
| leiden, ihr Leiden zu kennen und Wandel zuzulassen. | |
| 11 Sep 2020 | |
| ## LINKS | |
| [1] https://www.blackpast.org/african-american-history/speeches-african-america… | |
| [2] https://bibliographie.uni-tuebingen.de/xmlui/handle/10900/39289%20%09(Zugri… | |
| [3] https://www.kontextwochenzeitung.de/debatte/488/zeit-rassismus-zu-verlernen… | |
| ## AUTOREN | |
| Nikola Nölle | |
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