# taz.de -- Asyl- und Grenzpolitik: Im Dilemma und in der Defensive | |
> Die Grünen sind in der Asyldebatte nicht sehr präsent. Statt über | |
> Islamismus und Integration zu reden, geht es um Grenzkontrollen und | |
> Abschiebungen. | |
Bild: Zinnwald, 09. August 1998: Schlagbaum an der deutsch-tschechischen Grenze | |
Migration, Asyl, Grenzkontrollen. Eine Woche geht zu Ende, in der es kaum | |
ein anderes Thema zu geben schien. Selbst als im Bundestag der | |
Haushaltsentwurf debattiert werden sollte, stritten die Parteien darüber, | |
wer den längsten Schlagbaum hat. Ein Haushalt, der übrigens bei der | |
Integration und damit Islamismusprävention spart, ging dagegen im | |
Nachrichtenstrom unter, als ginge es nur um eine marode Brücke in Dresden. | |
Dabei würde niemand behaupten, dass es keine Probleme zu lösen gäbe bei der | |
Integration und beim Islamismus. Nur spielt das kaum noch eine Rolle. | |
Stattdessen geht es nur noch um die Forderung nach Abschiebungen und | |
geschlossenen Grenzen. Grund dafür ist auch eine aufgehetzte | |
Öffentlichkeit, und es wäre verkehrt, nur auf den Springer-Verlag zu | |
zeigen. Ein FAZ-Herausgeber nannte den Streit über Grenzkontrollen gerade | |
die [1][„Schicksalsfrage“ der Demokratie], eine Frage also, bei der die | |
falsche Antwort das Ende bedeuten würde. | |
Aber der Rechtsruck ist auch deshalb so stark, weil kaum jemand | |
dagegenhält. Womit sich eine politische Vermisstenanzeige aufdrängt. Hat | |
jemand die Grünen gesehen? Die Partei, die im Wahlprogramm schrieb: „[…] | |
sofortige Zurückweisung an den deutschen Binnengrenzen wollen wir | |
abschaffen.“ Vier Jahre später trägt die Partei [2][Abschiebungen nach | |
Afghanistan], bundesweite Grenzkontrollen, die Streichung der Leistungen | |
für Dublin-Flüchtlinge mit. | |
Es gibt zwei verschiedene Sichtweisen, beide haben ihre Berechtigung. Die | |
Grünen können behaupten, dass die Maßnahmen dieser Woche keine größeren | |
Änderungen bedeuten: Das EU-Recht wird nicht gebrochen, jeder Asylantrag | |
wird geprüft, es soll nur schneller gehen. Die Grünen haben Schlimmeres | |
verhindert. Genauso stimmt aber: Die Grünen sind eingeknickt. Es wird nur | |
über Verschärfungen in der Asylpolitik diskutiert, kaum hingegen über | |
Islamismus und Integration. | |
## Nicht Überzeugungen für Wählerstimmen handeln | |
Die Partei ist in einem Bereich, der ihren Wesenskern ausmacht, nicht mehr | |
wahrzunehmen. Für die Grünen ist die Lage ein Dilemma. Sie stehen vor der | |
[3][Wahl in Brandenburg] wieder kurz davor, aus einem Parlament zu fliegen. | |
Und sehen sich einer Mehrheit gegenüber, die für eine härtere Asylpolitik | |
ist. In dieser Lage haben sie sich entschieden, Verschärfungen weitgehend | |
klaglos mitzutragen. Aber nicht alles, was eine Entscheidung ist, ist auch | |
eine Strategie. | |
Falls die Grünen das Ziel verfolgen sollten, bei den Landtagswahlen weniger | |
Stimmen zu verlieren, scheint das nicht aufzugehen. In Thüringen ist man | |
aus dem Landtag geflogen, in Brandenburg könnte es ähnlich kommen. Ein Teil | |
ihrer Wählerinnen dürfte versuchen, die AfD als stärkste Kraft zu | |
verhindern, und SPD wählen. | |
Aber selbst, wenn: Die Grünen sollten sich für ein paar Tausend | |
Wählerstimmen in einem Bundesland, in dem ähnlich viele Menschen wohnen wie | |
in Hamburg, nicht von Überzeugungen verabschieden. Wenn die FDP die Ampel | |
blockieren kann, sollten die Grünen das auch können. Das wäre wichtiger als | |
die Frage, ob sie in Brandenburg auf 5,1 oder 4,9 Prozent kommen. Dass die | |
Grünen standhaft sein können, haben sie bewiesen: In keiner anderen Partei | |
ist die Unterstützung der Ukraine so unerschütterlich. | |
Die Grünen bleiben klar, auch wenn sie das nicht nur im Osten Stimmen | |
kostet. Wenn die neue Asylpolitik aber keiner erkennbaren Strategie folgt, | |
ist es wohl Überzeugung. Und das ist die bittere Erkenntnis dieser Woche. | |
Die Grünen sind mit ihrem Sinneswandel nicht allein. [4][Eine Umfrage der | |
Zeit] ergibt, dass über 80 Prozent eine strengere Migrationspolitik | |
wünschen, sogar knapp mehr als die Hälfte der Grünen-Wähler. [5][Seit 2015 | |
hat sich viel verändert]. | |
Auch Teile der liberalen Mittelschicht, Grünen-Wähler und solche, die es | |
sein könnten, kümmern sich nach Pandemie, Energiekrise und Inflation im | |
Zweifel lieber um sich selbst als um Menschen in Not. Es wäre zu einfach, | |
die Grünen dafür zu kritisieren, in der Defensive zu sein. Die | |
gesellschaftliche Linke ist es auch. Trotzdem sollten sich die Grünen | |
fragen, was mit der anderen Hälfte ihrer Wähler ist, die keine Verschärfung | |
will. | |
Jener, die unverdrossen in der Flüchtlingshilfe aktiv sind, die auf die | |
Demos für eine weltoffene Gesellschaft gehen. Sie sind nicht die Mehrheit, | |
aber sie haben aktuell keine politische Vertretung. Die Grünen werden ihnen | |
fremd, die Linke ist mit sich beschäftigt. Die Partei riskiert, sie als | |
Wählerinnen und Mitglieder zu verlieren. Bei den Versuchen einer Erklärung | |
für die Wahlergebnisse von AfD und BSW im Osten heißt es oft, dass sich | |
viele nicht repräsentiert fühlten. Aber wer vertritt eigentlich die | |
Linksgrünen? | |
13 Sep 2024 | |
## LINKS | |
[1] https://www.faz.net/aktuell/politik/inland/fluechtlingspolitik-sie-klammern… | |
[2] /Abschiebungen-nach-Afghanistan/!6013110 | |
[3] /Landtagswahl-in-Brandenburg/!6036088 | |
[4] https://www.zeit.de/politik/deutschland/2024-09/ard-deutschlandtrend-asyl-g… | |
[5] /Fuenf-Jahre-Wir-schaffen-das/!5701650 | |
## AUTOREN | |
Kersten Augustin | |
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