# taz.de -- Steckengeblieben auf der Balkanroute: Das Tor nach Westeuropa | |
> 2015 war Šid ein Knotenpunkt der Mobilität für Menschen auf der Flucht. | |
> Heute ist die Stadt im Nordwesten Serbiens ein Rückstaubecken. | |
Bild: Die serbische Militärpolizei überprüft Aufenthaltspapiere in Šid | |
Auch gute Taten kommen in diesen Tagen nicht ohne Infektionsschutz aus. Und | |
so stehen an diesem Samstag die BewohnerInnen des Geflüchtetenlagers von | |
Šid, einer 16.000-Einwohner-Stadt ganz im Nordwesten Serbiens, in der | |
Mittagssonne in einer Schlange und müssen warten, bis sie vorrücken können. | |
Zwei Wärter sitzen am Tor und lassen immer nur einen von ihnen hinaus. | |
Neben einem Kiosk auf der anderen Straßenseite haben Helfer einen Kombi | |
geparkt. Sie nehmen, wenn die Geflüchteten herankommen, eine rote | |
Plastiktüte aus dem Kofferraum, darin sind Öl, Nudeln und Konserven. Sie | |
stellen die Tüte auf den Boden, treten einen Schritt zurück, die | |
Geflüchteten nicken zum Dank und gehen mit der Tüte wieder durch das Tor. | |
Direkt gegenüber ihrem Lager ist der Bahnhof, Güterzüge stehen auf | |
Rangiergleisen. Wenn sie sich in Bewegung setzen, sind es nur wenige Äcker, | |
über die sie rollen, dann beginnt Kroatien und damit die EU. Da wollen auch | |
die Geflüchteten hin, deshalb sind sie hier. | |
Die Spenden für sie versiegen langsam. Letztes Mal hätten die Pakete einen | |
Wert von 20 Euro gehabt, „jetzt sind es vielleicht noch 5 Euro“, sagt | |
Vladimir Fazekaš, der Pfarrer der Methodistengemeinde von Šid. An den | |
nackten Füßen trägt er Sandalen, vor dem Mund eine Maske. Nach einer halben | |
Stunde sind alle Tüten verteilt. Fazekaš steigt in seinen Opel Kombi und | |
fährt ins Pfarrhaus. Er spricht Deutsch, wie viele in Šid, einem Ort im | |
alten Siedlungsgebiet der Donauschwaben. Fazekaš hat in Wien studiert, eine | |
Österreicherin geheiratet. Vor vier Jahren übernahm das junge Paar die | |
Gemeinde. Sie wurde einst von den Blaukreuzvereinen aus der deutschen | |
Abstinenzbewegung gegründet und hat den Kommunismus überdauert. | |
Ihr Garten ist groß wie ein halbes Fußballfeld. Fazekaš und seine Frau | |
haben eine Tomatenplantage angelegt, in der Mitte steht ein Klettergerüst | |
mit einer Rutsche. „Das haben wir gebaut während Corona“, sagt Fazekaš. | |
„Manche flüchten vor Krieg, manche wollen ein besseres Leben haben, die | |
meisten in Deutschland“, sagt er über die Menschen im Lager. „Früher gab … | |
hier mehr Organisationen, die ihnen geholfen haben. Die Menschen spenden | |
nicht mehr so viel Geld dafür.“ | |
„Früher“, das war 2015. Auf ihrem [1][„Marsch der Hoffnung“] kommen die | |
Geflüchteten über Griechenland und Mazedonien nach Serbien. Zunächst ziehen | |
sie weiter nach Ungarn. Doch das Land lässt am 12. September 2015 das | |
letzte Stück Grenze zu Serbien mit Nato-Draht abriegeln. 700.000 | |
Geflüchtete kommen in den folgenden Monaten durch Šid, erst auf eigene | |
Faust, dann in von der Regierung organisierten Transporten von der | |
mazedonischen Grenze. Die kleine Stadt ist das Tor nach Westeuropa. | |
Diese Strecke wird oft einfach „Balkanroute“ genannt. Doch das sei | |
unzutreffend, sagt der Forscher Marc Speer. Die Balkanroute sei durch eine | |
weit längere Geschichte migrantischer Mobilität charakterisiert, die | |
„vielfach klandestin erfolgte und heute erneut klandestin stattfindet“. | |
Das, was 2015 unter anderem in Šid geschah, nennt Speer „formalisierter | |
Korridor“: irreguläre Migration, die von staatlichen Stellen gleichsam | |
gemanagt und so reguliert wurde. Humanitäre Überlegungen hätten dabei nur | |
teilweise eine Rolle gespielt, sagt Speer, weshalb es sich auch nicht um | |
einen „humanitären Korridor“ gehandelt habe. | |
Den involvierten Staaten sei es vielmehr darum gegangen, den Transit durch | |
ihr Territorium zu beschleunigen. „Sie sahen darin schlichtweg die | |
rationalere Problemlösung als in der physischen Verteidigung der | |
Grenzlinie“, so Speer. Doch das ist nicht von Dauer. Österreichs damaliger | |
Außenminister Sebastian Kurz macht Druck und ab dem 19. November 2015 lässt | |
Serbien nur noch Geflüchtete aus Syrien, Irak und Afghanistan ins Land. Am | |
19. Februar 2016 schließt es die Grenze für alle. Und in Šid wird es wieder | |
ruhig. | |
Fazekaš erinnert sich genau an diese Zeit. Wer keinen Platz im Zug | |
ergattern konnte, musste ein paar Kilometer zu Fuß laufen, in das Dorf | |
Berkasovo. Der Weg dorthin führt vorbei an Birnbäumen und durch Maisfelder, | |
die Straße windet sich ein paar Hügel hinauf, dann zeigt ein unscheinbarer | |
Schlagbaum den heute geschlossenen Grenzübergang an. „Hier war alles voller | |
Container, die Flüchtlinge mussten einen Gesundheitscheck machen“, sagt | |
Fazekaš. „Die meisten haben sich nur kurz ausgeruht, dann ging es in Bussen | |
weiter.“ Muslimische Gemeinden verteilten damals Böreks und Decken. Es | |
waren so viele, dass die Menschen sie teils gleich wieder wegwarfen, weil | |
sie genug hatten. „Ich hab die Decken dann wieder eingesammelt, war ja | |
schade drum“, sagt Fazekaš. | |
Damals war Šid ein Knotenpunkt der Mobilität. Heute ist es ein | |
Rückstaubecken. Das EU-Mitglied Kroatien ist noch nicht Teil des | |
Schengen-Raums. Die wichtigste Bedingung dafür ist: seine Grenze | |
geschlossen zu halten. Deshalb ist die kroatische Polizei ab 2017 dazu | |
übergangen, Geflüchtete an den Grenzen direkt wieder zurückzuschicken – | |
illegal und oft mit Gewalt. Am 21. November 2017 starb dabei die junge | |
Afghanin Madina Hussiny. | |
Sie war in dieser Nacht mit ihrer Mutter und fünf Geschwistern über die | |
Bahngleise gegangen, als ein Güterzug aus der Dunkelheit kam. Die Familie | |
hatte es zuvor auf kroatisches Territorium geschafft, war aber von der | |
Grenzpolizei gezwungen worden, zurückzugehen. „Sie haben Wärmebildkameras, | |
du hast heute keine Chance mehr, sie warten einfach auf dich, sie wissen | |
woher du kommst“, sagt Fazekaš. | |
Und so gibt es heute drei Geflüchtetenlager in Šid, mit zusammen etwa 1.500 | |
Menschen. Dazu kommen noch einmal rund 150, die in den Wäldern der Umgebung | |
hausen. Alle wollen nach Kroatien, den wenigsten gelingt es. Dabei leide | |
Šid wie alle ländlichen Regionen Serbiens unter Abwanderung, sagt Fazekaš. | |
„Es gibt hier Menschen, die haben zwei Master und arbeiten auf dem Feld.“ | |
Viele junge SerbInnen ziehen in die Städte, die Regierung biete einigen | |
Geflüchteten an, ihnen ein Aufenthaltsrecht zu geben und sie in leer | |
stehenden Häusern wohnen zu lassen. „Aber kaum einer will bleiben.“ Die | |
Einstellung zu den Geflüchteten sei in der Stadt mittlerweile „sehr | |
negativ“, sagt Fazekaš, auch wegen vereinzelt vorgekommener Diebstähle. | |
## Über Dubai nach Europa | |
Auch Abdula Zubair will weiter. Er lebt in dem Lager gegenüber dem Bahnhof. | |
Der junge Afghane ist 24 Jahre alt, er trägt ein rotes Kurzarmhemd und | |
Bürstenhaarschnitt, sein Englisch ist fast perfekt. In Kabul habe er an | |
einer privaten Universität Internationale Beziehungen studiert und dann für | |
eine NGO gearbeitet. In einem kleinen Straßencafé erzählt er, wie er am 1. | |
Dezember Kabul verlassen hat, zusammen mit seiner 18-jährigen Schwester und | |
seiner 56-jährigen Mutter. Über Dubai seien sie nach Europa geflogen, seit | |
Anfang Juli ist die Familie in Šid. | |
Im Lager teilen sie sich ein Zimmer mit einer anderen dreiköpfigen Familie | |
aus Afghanistan. Er will nach Deutschland. „Es ist das einzige Land, das | |
Migranten mit offenen Armen empfangen kann“, glaubt er. Seine Mutter sei in | |
Afghanistan am Herzen operiert worden. Sie brauche ein Herzmedikament, das | |
1.500 Dinar im Monat kostet, umgerechnet 12 Euro. Jeder in der Familie | |
bekommt 3.000 Dinar Hilfe im Monat, mit dem Geld bezahlen sie das | |
Medikament, vom Rest kaufen sie Tomaten oder Eier. | |
Viermal habe die Familie versucht, in die EU zu kommen. „In Rumänien hat | |
die Polizei uns alles weggenommen, die Powerbanks für das Handy und Geld. | |
Beim ersten Mal haben sie mir die Nase gebrochen, beim zweiten Mal wurde | |
ich geschlagen“, sagt Zubair. Die Kroaten hätten ihn nicht geschlagen, aber | |
zurückgeschoben. Seit dem letzten Versuch könne seine Mutter nicht mehr | |
laufen. | |
Deshalb hofft Zubair, dass ein Schlepper sie in einem der Trucks | |
unterbringen kann, die von hier nach Kroatien fahren. „Aber das ist sehr | |
teuer.“ Denn für die Fahrer ist das Risiko enorm. Die EU hat die | |
Grenzübergänge mit Detektoren ausgestattet, die Herztöne und verbrauchte | |
Atemluft feststellen können, ohne dass die Polizei die Container öffnen | |
muss. Zubair weiß das. | |
Die EU sähe es gern, wenn Serbien einen Teil der Geflüchteten aufnehmen | |
würde. Als Zubair gefragt habe, ob er hier einen Asylantrag stellen könne, | |
hätten die Mitarbeiter im Heim gesagt: „Bitte bleibt nicht hier.“ | |
Eigentlich wolle das auch niemand. Wer versucht, nach Kroatien zu | |
gelangen, kann sich bei der Heimleitung für drei Tage abmelden. So lange | |
wird das Zimmer reserviert. Zubair zeigt einen Zettel, es ist eine Art | |
Passierschein, den die Geflüchteten bekommen, wenn sie sich abmelden. Die | |
meisten im Camp seien seit etwa einem Jahr da, es gebe auch welche, die | |
schon seit fast drei Jahren dort leben. „Jede Nacht gehen welche los, und | |
meistens kommen sie wieder.“ Die Polizei lasse sie gewähren. „Beim letzten | |
Mal stand eine Streife fast direkt an der Grenze und sagte zu uns nur ‚Good | |
luck!‘ “ | |
11 Aug 2020 | |
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## AUTOREN | |
Christian Jakob | |
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