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# taz.de -- Sozialpolitik von Angela Merkel: Verwalterin der Ungleichheit
> Merkel wird vor allem als Kanzlerin des Zusammenhalts dargestellt. Dabei
> ist sie Kanzlerin jener, die mit dem ökonomischen Status quo gut leben.
Bild: Raute ≠ Gleichheitszeichen
Es gibt Menschen mit viel Geld, die Porsche fahren und Champagner trinken.
Und es gibt andere Menschen mit viel Geld, die sich bemühen, die
Unterschiede zu denen mit weniger nicht allzu sehr zu betonen. Denn sie
wissen, dass ihr Reichtum nicht gerecht ist, und dass das die anderen
verärgern könnte, wenn es zu augenscheinlich werden würde. Stattdessen
legen sie eine Hand auf die Schulter derer, die keine Porsche fahren, und
schauen ihnen egalitär in die Augen. Und wenn sie über Politik sprechen,
dann sprechen sie von Demokratie und Kompromissen.
Während solche aus der ersten Gruppe unter Politiker:innen ein
Auslaufmodell sind, hat Angela Merkel den Typus der Letzteren in das
Politische übersetzt. Wenn sie nach der Wahl im September nach 16 Jahren
Amtszeit geht, dann wird unter Abschiedsschmerz öffentlich Bilanz gezogen:
die Kanzlerin der Verständigung; die Krisenkanzlerin; die Kanzlerin, die
Deutschland zusammengehalten hat.
Bei so viel nostalgischer Bewunderung wird untergehen, dass Frau Merkel
nicht die Kanzlerin aller gewesen ist, sondern vor allem jener, die mit dem
ökonomischen Status quo gut und gerne leben; die ein paar kulturelle
Liberalisierungen wie die Ehe für alle oder zeitlich begrenzten Humanismus
gegenüber Flüchtlingen dafür gerne in Kauf nehmen.
Dass Merkel mit ihrem autoritären Eurokrisen-Management der Jugend
Südeuropas die [1][kalte Schulter gezeigt] hat, das wird beim Rückblick
wohl keine große Rolle spielen. Auch nicht, dass unter Merkel die
Kinderarmut in Deutschland gestiegen ist: Die [2][Armutsquote bei Kindern
und Jugendlichen lag] 2010 bei 18,2 Prozent, 2019 bei 20,5, heißt es in
einer kürzlich veröffentlichten Studie des Paritätischen
Wohlfahrtsverbandes.
„Unter armutspolitischen Gesichtspunkten kann man das Ergebnis nur als
verheerend bezeichnen“, [3][kommentierte auch Ulrich Schneider],
Geschäftsführer des genannten Verbandes, die Sozialpolitik der Ära Merkel.
Diese habe Deutschland zwar insgesamt reicher gemacht, die Armut sei
trotzdem gestiegen, die Gesellschaft nach der Amtszeit Merkels tiefer
gespalten. Aber vom Materiellen wird man sich bei aller symbolischen und
menschelnden Abschiedsbetrachtung bestimmt nicht ablenken lassen.
Sowieso ist es viel leichter, immer noch auf einen Zigarren rauchenden,
sozialdemokratischen Altkanzler zu schimpfen, der ja Hartz IV ins Land
gebracht hat; und der weder seine Zigarren noch seine antisozialen Reformen
versteckt hat. Dabei ist Schröder schon vorvorgestern. Jetzt geht Angela
Merkel und hinterlässt einen neuen, viel bescheideneren, dafür umso
effektiveren Modus der Ungleichheitsverwaltung.
Dieser Modus verdichtet sich in dem Bild des sich vor der [4][Abschiebung
fürchtenden Flüchtlingsmädchens], das von der Kanzlerin liebevoll
gestreichelt wird, nachdem es wegen ihrer verständnisvoll vorgetragenen
Antwort auf die Sorgen in Tränen ausbricht: „Aber es werden manche auch
zurückgehen müssen.“
30 Jul 2021
## LINKS
[1] /Kommentar-Merkels-Vorsitz-Verzicht/!5543968
[2] https://www.der-paritaetische.de/fileadmin/user_upload/Publikationen/doc/ex…
[3] https://www.spiegel.de/politik/deutschland/sozialverband-sieht-merkels-bila…
[4] /Merkel-und-das-gefluechtete-Maedchen/!5212613
## AUTOREN
Volkan Ağar
## TAGS
Kolumne Postprolet
Schwerpunkt Angela Merkel
soziale Ungleichheit
Ungleichheit
Lesestück Recherche und Reportage
Kolumne Krank und Schein
Lieferdienste
Asylrecht
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