# taz.de -- Politische Bewegungen in Corona-Zeiten: Stirbt auch der Protest? | |
> Wegen der Coronapandemie sind auch Demos verboten. Autonome wollen sich | |
> dem nicht beugen – und machen für den 1. Mai mobil. | |
Bild: Um das Demonstrationsverbot zu umgehen, protestieren Aktivisten mit Aufkl… | |
BERLIN/HAMBURG taz | Mit Schutzmasken stehen die rund 50 Protestierenden am | |
Montag an der Bahntrasse in Münster, in sicherem Abstand voneinander. Die | |
zwei Meter Distanz nutzen die DemonstrantInnen, um Transparente zu halten, | |
wie Fotos zeigen. „Urantransporte stoppen“, steht da. Der Protest richtet | |
sich gegen den Uranmüll-Transport von der Uranfabrik Gronau nach Russland. | |
Dann rauscht der rote Transportzug vorbei. Die Polizei behält den Protest | |
im Auge. Aber sie lässt ihn gewähren. | |
Es geht also: eine Protestkundgebung in Zeiten von [1][Corona]. Noch bis | |
zum Vortag aber wurde darüber in Münster gestritten. Die Stadt hatte die | |
Versammlung zunächst wegen der Pandemie-Schutzverordnung untersagt. Dann | |
stellten die AtomkraftgegnerInnen vor dem Verwaltungsgericht einen | |
Eilantrag – und die Stadt lenkte ein, genehmigte den Protest unter | |
Auflagen. | |
„Es gibt also auch in Corona-Zeiten keine pauschalen Versammlungsverbote“, | |
sagt Protestorganisator Matthias Eickhoff. Gleichzeitig zeige das Prozedere | |
aber, „wie wenig demokratische Bewegungsfreiheit derzeit existiert“. | |
Es ist ein Spagat, der derzeit vielerorts ausgetragen wird: Wie viel | |
Protest ist in Corona-Zeiten noch möglich? Bundesweit untersagen | |
Infektionsschutzverordnungen derzeit Versammlungen. Die Frage ist: Wo hören | |
diese Schutzmaßnahmen auf – und wo beginnt die Versammlungsfreiheit? | |
## Der Frust wächst | |
Bisher wurde sich vielerorts gefügt. So sind die traditionellen | |
Ostermärsche am kommenden Wochenende, die dieses Jahr zum 60. Mal | |
stattgefunden hätten, bereits abgesagt. Statt auf der Straße soll der | |
Friedensprotest nun virtuell stattfinden. Die Teilnehmenden sollen zu Hause | |
Friedensfahnen aus den Fenstern hängen, Protestlieder auf dem Balkon singen | |
und Fotos und Videos davon im Internet posten. | |
Auch der Protest von Fridays for Future liegt derzeit lahm. Lediglich | |
Webinare hält die Bewegung momentan ab, Expertengespräche per | |
Videokonferenz. Am 24. April will Fridays for Future indes einen großen | |
„Netzstreik fürs Klima“ abhalten. Auch hier sollen Demo-Schilder an | |
Fenstern oder auf Straßen platziert und Bilder davon im Internet | |
veröffentlicht werden. „Wir werden nicht leiser“, lautet die | |
Durchhalteparole der AktivistInnen. | |
Doch der Frust in der Bewegungsszene wächst – vor allem darüber, wie strikt | |
die Polizeien die Corona-Verordnungen in Bezug auf Versammlungen auslegen. | |
Denn zuletzt wurde einiges probiert, um Protest und Kontaktsperren in | |
Einklang zu bringen, zum Beispiel am Sonntag bei den Seebrücke-Aktionen für | |
eine Evakuierung der Geflüchteten-Lager in Griechenland. In mehreren | |
Städten sollte es statt Demos [2][nun Banner-Aktionen und Kreide-Slogans | |
geben], symbolisch sollten Schuhe platziert oder Autokorsos abgehalten | |
werden – und dennoch [3][unterbanden Gerichte und die Polizei etliche der | |
Aktionen.] | |
„Wir sind wütend, dass viele Menschen für legitimen und besonnenen Protest | |
mit Anzeigen oder Bußgelder bestraft wurden“, klagt das Seebrücke-Bündnis. | |
„Mit Kreide auf Straßen zu malen ist kein Verbrechen.“ Auch der | |
Republikanische Anwälteverein kritisiert: „Das Versammlungsrecht ist | |
derzeit vollständig aufgehoben.“ | |
## „Demos, Dezentrales, Aktionen und Balkonien“ | |
Nun aber gehen Autonome für den 1. Mai auf Kontra. Am Wochenende ließ in | |
Berlin ein Bündnis aus mehreren Gruppen verlautbaren: „Wir rufen hiermit | |
zum Revolutionären 1. Mai 2020 in Berlin auf.“ Auch und gerade in den | |
Corona-Zeiten gebe es „mehr als genug Gründe, um auf die Straße zu gehen“. | |
Nur das Wie sei noch zu klären: „Demos, Dezentrales, Aktionen und | |
Balkonien“ – es sei vieles „vorstellbar“. Klar jedenfalls sei: „Wir l… | |
uns die Erfordernisse für den diesjährigen 1. Mai weder per autoritärer | |
Verordnung vom Staat diktieren, noch werden wir sämtliche Schutzmaßnahmen | |
fallen lassen.“ | |
Tatsächlich könnte der 1. Mai in diesem Jahr eine historische Zäsur werden. | |
Seit Jahrzehnten demonstrieren GewerkschafterInnen an diesem Tag. Seit den | |
achtziger Jahren tun dies auch Autonome in Berlin, Hamburg und anderen | |
Städten, hier traditionell mit größeren oder kleineren Krawallen. Nun aber | |
könnte die Coronapandemie dies erstmals verhindern. Stand jetzt sind in | |
Berlin bis zum 19. April Versammlungen wegen des Virus verboten, in Hamburg | |
bis Ende April. Und: Verlängerungen der Verordnungen sind keineswegs | |
ausgeschlossen. | |
Der DGB sagte bereits vor zwei Wochen bundesweit seine Kundgebungen am 1. | |
Mai ab. DGB-Chef Reiner Hoffmann sprach von einer „historisch einmaligen | |
Entscheidung“. Man treffe diese „schweren Herzens“. Aber in diesem Jahr | |
heiße Solidarität: „Abstand halten“. Auch Berlin reagierte. Das Kreuzberg… | |
Myfest – ein Straßenfest mit Zehntausenden Teilnehmern, einst gegründet, um | |
die 1. Mai-Krawalle zu befrieden – ist für dieses Jahr ebenfalls abgesagt. | |
Man sehe nicht, dass sich die Bedingungen nach dem 19. April bessern | |
werden, teilte der Bezirk mit. | |
Die autonome Szene indes reagiert unschlüssig. Nun erfolgt der Aufruf, sich | |
am 1. Mai trotz Pandemie zu versammeln – irgendwie. Man nehme das Risiko | |
einer Ansteckungsgefahr und die Schutzmaßnahmen „sehr ernst“, verkündet d… | |
Berliner Bündnis. | |
## Berliner Polizei kündigt harte Gangart an | |
Gleichzeitig zeigten aber der derzeitige Umgang mit Geflüchteten, die | |
Klimakrise oder die Mietenpolitik, „wie wichtig die Aufrechterhaltung eines | |
antagonistischen 1. Mai aktuell sein kann“. Deshalb sei auch dieses Jahr | |
eine Großdemonstration denkbar, dann aber mit „Schutzmasken und | |
Handschuhen“ und nur mit dem „entsprechenden Rückhalt“, so das Bündnis. | |
Möglich seien indes auch Alternativen, über welche die Szene nun gemeinsam | |
diskutieren müsse. | |
Die Berliner Polizei kündigt bereits an, strikt vorzugehen. Sollte das | |
Versammlungsverbot wegen des Corona-Virus fortbestehen, werde man bei | |
Ansammlungen am 1. Mai „Maßnahmen gegen Versammlungsteilnehmende treffen“, | |
sagte eine Polizeisprecherin der taz. Derzeit sind laut Polizei auch noch | |
ein linksradikaler Aufzug mit 3.000 Teilnehmern im vornehmeren Stadtteil | |
Grunewald angemeldet und ein großes Bürgerfest der AfD. Schon zuletzt hatte | |
die Berliner Polizei mehrere Protestversuche in der Stadt mit Verweis auf | |
das Infektionsschutzgesetz aufgelöst. WiderständlerInnen erhielten Straf- | |
oder Ordnungswidrigkeitenanzeigen. | |
Auch in Hamburg wollen Autonome am 1. Mai auf die Straße gehen. | |
„Kapitalismus ist die Krankheit“, lautet das vorgesehene Demo-Motto. „Wir | |
wollen auf jeden Fall demonstrieren“, erklärt Halil Simsek vom Roten | |
Aufbau. „Nur wie, ist noch nicht ganz klar.“ Möglich sei eine größere | |
Aktion am Abend – kollektiv mit Schutzmasken. | |
## Neonazis wollen demonstrieren | |
Weiter aufgerufen wird auch noch zu Gegenprotesten zu einem geplanten | |
Neonazi-Aufmarsch in Hamburg, den die Splitterpartei „Die Rechte“ um den | |
Szenekader Christian Worch mit etwa 400 Teilnehmenden veranstalten will. | |
Die Neonazis wollen daran festhalten. „Eine Absage gibt es von unserer | |
Seite nicht“, sagt Worch der taz. Der Umgang mit der Pandemie sei „völlig | |
übertrieben“. Würden Versammlungen tatsächlich am 1. Mai verboten, werde | |
man juristisch dagegen vorgehen, so Worch. „Wir haben die Absicht, das | |
durchzuklagen.“ | |
Ein Sprecher der Hamburger Polizei erklärt, man warte zunächst ab, ob die | |
Corona-Allgemeinverfügung in den Mai hinein verlängert werde. Unter den | |
jetzigen Voraussetzungen würden aber Demonstrationen wie die vorgesehenen | |
in ihrer Größenordnung die Verfügung „eindeutig konterkarieren“. „Ein | |
Infektionsschutz wäre hier nicht mehr ansatzweise zu kontrollieren.“ | |
In Berlin erklären die Autonomen den 1. Mai indes zur Grundsatzfrage. | |
Verzichte man auch auf die alljährliche 1.-Mai-Demonstration, werde wohl | |
auch sonst kein größerer Protest mehr möglich sein, heißt es dort. Der | |
Staat bliebe dann fortan ohne „Kritik auf der Straße“. Für die Autonomen | |
eine kaum denkbare Option. Ihre Ansage: Nicht die Politik oder Polizei | |
werde über den 1. Mai entscheiden, „sondern wir selbst“. | |
6 Apr 2020 | |
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## AUTOREN | |
Konrad Litschko | |
Katharina Schipkowski | |
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