# taz.de -- Demoverbot im öffentlichen Raum: Wie Protest trotzdem klappen kann | |
> Durch Corona ist die Demokratie teilweise außer Kraft gesetzt. Doch | |
> Protest muss weiter möglich sein, nicht nur im digitalen Raum. Ein | |
> Gastkommentar. | |
Bild: So wird ein Schuh draus: derzeit einzig mögliche Demo für Flüchtlinge | |
Die Coronakrise erfasst nahezu alles, die Welt scheint aus den Fugen. Viele | |
Medien titeln seit vier Wochen zu Corona, jeden Moment möchte man sich über | |
die neuen Statistiken informieren. In den Köpfen und im Internet ist alles | |
Corona. | |
Die leere Stadt hingegen wirkt surreal, wie eine Ausstellung. Wir | |
schleichen uns schuldbewusst durch den öffentlichen Raum, beäugen einander | |
gegenseitig. Die Begegnungen draußen erscheinen nicht legitim, stehen | |
bleiben und sich unterhalten unangebracht, auch wenn nicht direkt verboten. | |
Laut Corona-Verordnung, in Berlin genannt Eindämmungsverordnung, müssen | |
Versammlungen unter freiem Himmel mit bis zu 20 Personen angemeldet werden, | |
mehr als 20 Personen gehen gar nicht. | |
Für die Res publica im öffentlichen Raum, also das politische Mit- und | |
Gegeneinander, ist die aktuelle Situation von kaum zu überschätzender | |
Bedeutung. Vor zehn Tagen fand eine Demonstration mit etwa 200 Menschen am | |
Kottbusser Tor statt, unter anderem gegen den Ausverkauf der Stadt und die | |
inhumane Flüchtlingspolitik. Die Demonstrant*innen hielten den | |
Pandemieabstand von 1,5 Metern ein. Doch die Demo musste, entsprechend der | |
Berliner [1][Eindämmungsverordnung], [2][von der Polizei aufgelöst werden.] | |
Spätestens ab diesem Zeitpunkt dürfte vielen klar geworden sein, dass | |
Corona nicht nur die individuellen Bewegungsfreiheiten beschränkt, sondern | |
die Demokratie partiell außer Kraft gesetzt ist. Natürlich hat das nichts | |
mit einem Polizeistaat zu tun. Dennoch kann sich jetzt jeder etwas besser | |
vorstellen, wie es wäre, in einem solchen zu leben. Vielen Polizisten ist | |
es – das sei betont – merklich unwohl dabei, Menschen auf Plätzen und in | |
Parks wegzuschicken. | |
Mittlerweile haben [3][weitere politische Aktionen] stattgefunden, die | |
nicht genehmigt waren und von der Polizei aufgelöst wurden. Eine Aktion zur | |
Flüchtlingspolitik, bei der letztlich nur Schuhe aufgestellt wurden, | |
erscheint auf den ersten Blick unschädlich. Im Fall der [4][Schuhdemo hat | |
das Gericht] das Verbot bestätigt. Doch die rechtliche Gemengelage wird | |
sicher bald das Bundesverfassungsgericht beschäftigen. | |
Aufhorchen lässt auch die erste genehmigte politische Versammlung in | |
Berlin: Der Künstler Rainer Opolka protestierte unweit des Kanzleramts | |
gegen die strengen Einschränkungen der Coronakrise. Es kam eine weitere | |
Person dazu. Auch Greta Thunberg war allein, als sie mit ihrem Schulstreik | |
für das Klima begann. Ein Momentum, das erst im Nachhinein zu einem Mythos | |
ihrer Persönlichkeit gerierte. Ein-Personen-Demonstrationen könnten in | |
Coronazeiten Schule machen. | |
Neben all den Dramen, Ängsten, Anstrengungen und gravierenden | |
Einschränkungen, die die Coronakrise mit sich bringt, findet zeitgleich ein | |
riesiges Experiment statt: Wir erleben eine kompensierende Verlagerung des | |
physischen Begegnens in den digitalen Raum. Und wir lernen schmerzlich, wie | |
wichtig der reale öffentliche Raum und das Zusammenkommen sind, um Politik | |
zu machen. | |
Ich selbst nehme an mehr politischen Treffen – online – teil, als es mir | |
vorher möglich war, beispielsweise, weil ich abends aus familiären Gründen | |
nicht das Haus verlassen konnte. Und viele werden sich jetzt erstmals mit | |
Liquid-Democracy-Plattformen beschäftigen, auch wenn die Möglichkeiten | |
schon länger bekannt sind. In Spanien haben die munizipalistischen | |
Stadtregierungen und Parteien Softwaresysteme entwickelt, um Bürger*innen | |
in die Entscheidungsprozesse miteinzubeziehen. | |
Digitale Mitbestimmung und Kooperation könnte jetzt einen Boom erfahren, | |
schlichtweg weil der Bedarf da ist, analoge Treffen schnell und | |
unkompliziert zu ersetzen. Kommen digitale Methoden verstärkt zur | |
Anwendung, werden Initiativen, Politik und Verwaltung anders miteinander | |
kommunizieren: schneller, transparenter und verbindlicher. Wenn wir jetzt | |
digitale Beteiligungsinfrastrukturen ausbauen, Ressourcen und Kompetenzen | |
bündeln und uns in einer Art digitalen Stadtwerkstatt austauschen, können | |
wir die gemeinwohlorientierte Stadt gemeinsam neu denken – und anpacken. | |
Digitale Formate müssen sich jedoch ihre Diskrepanzen bewahren. Es besteht | |
ansonsten die Gefahr, dass die bereits bestehende Verkapselung der | |
Öffentlichkeit im Netz in Suböffentlichkeiten und Bubbles weiter verschärft | |
wird. | |
Kürzlich habe ich eine Arbeitsgruppe zum Thema Partizipation in Zeiten von | |
Corona ins Leben gerufen. Zusammen mit Kooperationspartnern des | |
Bezirksamts, die sich mit gemeinwohlorientiertem Neubau beschäftigen und | |
Mieterinitiativen beraten, will ich herausfinden, wie Beteiligungsverfahren | |
und Vernetzung ohne physische Zusammenkünfte funktionieren können. | |
Uns fiel auf, dass alte Kommunikationsformen wie postalische Briefe, | |
Telefonieren oder Fernsehen in Kombination mit digitaler Kommunikation ein | |
großes Potenzial haben, während die ausgefeilten Techniken der Liquid | |
Democracy allein wenig weiterhelfen. | |
Wichtig ist der erlebbare Kontakt, den man über die Stimme und Bewegtbilder | |
gut kompensieren kann. Ergebnis des großen Experiments könnte sein, dass | |
sich einige digitale Infrastrukturen zur Aushandlung von politischen | |
Entscheidungen besser eignen als manche Veranstaltung vor Ort, auf denen | |
immer dieselben Leute zu Wort kommen. | |
Bei einer weiteren Online-Diskussionsrunde herrschte die Meinung vor, dass | |
trotz Eindämmungsverordnung politische Aktionen unter freiem Himmel | |
vorstellbar seien. Tausende Menschen könnten verteilt über die Stadt zum | |
Joggen einen bestimmten Dresscode tragen, der zuvor im Netz als Symbol für | |
ein politisches Anliegen bekannt gemacht wurde. Illegal sei dies wohl | |
nicht, sofern dadurch nicht unnötige Gruppenbildungen provoziert würden, | |
stimmte man überein. | |
Ein weiterer Aspekt wird immer häufiger diskutiert: Wenn es den Menschen zu | |
eng wird auf dem Bürgersteig, werden sie koordiniert und mit Abstand die | |
Straßen beanspruchen, sei es zur Fortbewegung oder um Sport zu machen. | |
Genau diese Grenzüberschreitung empfahl kürzlich der Verband Fuss e. V.: | |
Man solle lieber auf der Straße laufen, da es auf den Bürgersteigen häufig | |
zu eng sei. Die Polizei widersprach postwendend mit Verweis auf die | |
Straßenverkehrsordnung. | |
Der Bürger*innensteig und die Straße und die Grünanlage. Diese Zonen haben | |
ihren festen Zweck. Nur wer eine Genehmigung (oder Findlinge) in petto hat, | |
darf sie anders nutzen. Das galt bereits vor Corona. Doch je länger die | |
Krise und die Ausgangsbeschränkungen andauern, desto mehr wird der | |
öffentliche Raum unter Druck geraten. Uns stehen kreative und | |
grenzüberschreitende Aktionen ins Haus, seien sie politischer Natur oder | |
schlicht der Drang nach Flächengerechtigkeit, die Suche nach | |
Bewegungsfreiraum, der Abstand ermöglicht. | |
Die Krise steht erst an ihrem Anfang, daher stelle ich nur eine | |
Arbeitshypothese auf. Um die Coronazeit demokratisch zu überleben, braucht | |
es neue Diskussions-, Aushandlungs- und Protestformate im digitalen und | |
physischen öffentlichen Raum. Es braucht einerseits angstfreies | |
Experimentieren, andererseits eine solidarische Umsetzung der | |
Corona-Einschränkungen, ohne Wenn und Aber. | |
Dass Aufenthalt im öffentlichen Raum unter strenger Beobachtung steht, ist | |
ein Stresstest für jeden* Einzelnen und das demokratische Gemeinwesen. Gute | |
Konzepte, die unter Corona funktionieren, werden das öffentliche Leben nach | |
Corona unweigerlich beeinflussen. Welche transformativen Potenziale die Res | |
publica Corona hat und wie wir mit ihr souverän umgehen, muss zwingend im | |
Hier und Jetzt gestaltet werden. | |
8 Apr 2020 | |
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Florian Schmidt | |
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