# taz.de -- Historiker über Demokratie und Corona: „Rendezvous mit dem Poliz… | |
> Allzu bereitwillig geben die Deutschen gerade ihre Grundrechte auf, | |
> findet der Historiker René Schlott. Ein Gespräch über Freiheit und | |
> Corona. | |
Bild: Fängt so der Polizeistaat an? PolizistInnen in Stuttgart | |
taz: Herr Schlott, seit drei Wochen gelten umfangreiche Beschränkungen im | |
öffentlichen Leben. Wird die offene Gesellschaft, um sie zu retten, | |
erwürgt? | |
René Schlott: Diese Befürchtung habe ich tatsächlich! Alles, wirklich | |
ausnahmslos alles steht derzeit unter dem Primat der epidemiologischen | |
Kurve. Es gibt eine Einschränkung der Religionsfreiheit in Deutschland. Es | |
finden an Ostern und Pessach keine Gottesdienste statt. Das ist, glaube | |
ich, eine historische Situation, die wir noch nie hatten. Die Schulen sind | |
geschlossen, das Recht auf Bildung für unsere Kinder wird zurzeit nur | |
eingeschränkt verwirklicht. Hinzu kommt, dass es keine Versammlungsfreiheit | |
mehr gibt. Alle Gruppen über drei Personen sind faktisch illegal. Das | |
heißt, es gibt [1][kein Demonstrationsrecht in Deutschland] mehr. Das | |
Asylrecht ist außer Kraft gesetzt, die Grenzen sind geschlossen. | |
Das sind massive Grundrechtseinschränkungen, die zwar zeitlich befristet | |
sind, deren langfristige Wirkungen wir uns aber noch gar nicht ausmalen | |
können. Überspitzt gesagt ist das Infektionsschutzgesetz derzeit eine | |
Sicherheitslücke der Demokratie. | |
Versagen die demokratischen Reflexe der Zivilgesellschaft angesichts der | |
Krise? | |
Das ist nicht ganz von der Hand zu weisen, wenn ich sehe, mit welcher | |
Bereitwilligkeit die Bevölkerung die Ausgangssperre selbst gefordert hat. | |
Wenn man den Umfragen trauen darf, dann waren das bis zu 80 Prozent. Da | |
frage ich mich schon: Ist sich diese offene Gesellschaft selbst nichts mehr | |
wert? Müssen wir für [2][die Krise] wirklich eine chinesische Lösung | |
anstreben? | |
Hat unsere Gesellschaft nicht andere Möglichkeiten, einer Krise zu | |
begegnen, als zum Beispiel die Spielplätze der Kinder mit | |
Polizeiabsperrband zu versehen und zu schließen? Wir müssen viele | |
demokratische Reflexe wiederbeleben und genau fragen: Verträgt sich diese | |
Art von Krisenbewältigung tatsächlich mit unserer Art von Lebensweise, die | |
offen und frei ist und zugleich solidarisch sein sollte? | |
Was ist der Hintergrund für diese Bereitschaft, eigene Freiheiten | |
abzutreten? Ist es Angst? | |
Auch wenn man rationale wissenschaftliche Daten heranzieht, gibt es | |
tatsächlich eine Angst, die auch zu einem irrationalen, zum Teil kopflosen | |
Handeln führt. Es ist eine unsichere Basis, auf der wir gerade agieren. Ich | |
möchte in dieser Zeit nicht Entscheidungsträger und Politiker sein: Sie | |
müssen auf sehr unterschiedliche Erwartungen reagieren und stehen unter | |
einem großen Druck – nicht nur vonseiten der Bevölkerung und der | |
Gesundheitsbehörden, sondern auch vonseiten der Nachbarländer. Man sollte | |
dennoch kühlen Kopf bewahren. | |
Die öffentliche Rhetorik klingt anders … | |
Es erschreckt mich, dass bei diesem unsichtbaren Feind, den keiner wirklich | |
sehen kann, immer wieder Kriegsrhetorik bemüht wird. Macron sprach im | |
Fernsehen vom Kriegszustand, Angela Merkel hat von „den Ärzten in | |
vorderster Linie“ gesprochen. Das ist beängstigend. | |
Wenn man sich die Geschichte vergegenwärtigt, wurden Kriegszustände oft | |
auch missbraucht, um autoritäre Strukturen durchzusetzen. Da sollten uns | |
die derzeitigen politischen Entwicklungen in Israel, Polen und [3][Ungarn] | |
eine große Warnung sein, auch nicht die kleinste Abweichung von unserem | |
demokratischen Selbstverständnis hinzunehmen! Sie können unsere | |
Gesellschaft sonst auf Dauer verändern und die Rückkehr zur Normalität, zu | |
einem Status „quo ante Corona“ unmöglich machen. | |
Wozu führt die Reduktion sozialer Kontakte, während wir in Angstsituationen | |
eigentlich Verbindung zueinander suchen? | |
Ich finde diese Aufforderung, soziale Kontakte einzustellen, ungefähr so | |
sinnvoll, wie Fische zu bitten, doch bitte das Wasser zu verlassen – wenn | |
auch nur auf Zeit. Denn der Mensch ist ein soziales Wesen. Es ist ja | |
durchaus so, dass man auch an Einsamkeit sterben kann. Im Moment erleben | |
wir ein gigantisches Experiment, das es in der Menschheitsgeschichte noch | |
nie gab. Wohin das führt, kann ich nicht sagen. | |
Ich kann mir aber gut vorstellen, dass es auf lange Zeit in unserer | |
Gesellschaft keinen unschuldigen Handschlag und keine Umarmung mehr geben | |
wird. All diese Alltagsgesten werden jetzt unter Verdacht gestellt. Das | |
wird man nicht einfach wieder abschalten können, sondern es wird zu einem | |
Misstrauen führen, das man auf Dauer gesät hat: m Nächsten eben nicht das | |
kommunikative Individuum zu sehen, sondern den potenziellen Virenträger. | |
Parkbesucher und Wanderer bekommen jetzt teils Strafen, weil sie zu nah | |
beieinander stehen. Geht das in Richtung einer Virokratie? | |
Nein, es ist ein Rendezvous mit dem Polizeistaat. Ich weiß, dieses Wort ist | |
hoch problematisch. Aber nichts anderes kann ich erkennen, wenn | |
Polizeihubschrauber über Berlin kreisen und Einsatzkräfte mit dem Zollstock | |
durch Grünanlagen patrouillieren. Wenn nicht nur die deutschen Außengrenzen | |
weitgehend abgeriegelt sind, sondern sogar innerhalb Deutschlands zwischen | |
Bundesländern und Landkreisen Polizeikontrollen errichtet werden. | |
In Berlin wurde neulich ein privates Abendessen von vier Personen durch die | |
Polizei aufgelöst. In Bayern ein Lagerfeuer von drei Jugendlichen. In | |
Baden-Württemberg ein Mann zu Hause verhaftet, der im Internet zu einer | |
friedlichen Demonstration aufgerufen hatte. Ich glaube, das hat jedes Maß | |
überschritten. Deutschland hat sich vom Grundsatz der Verhältnismäßigkeit | |
verabschiedet. | |
Wie würden Sie solche Freiheitsbeschränkungen beschreiben, wenn es keine | |
Coronakrise gäbe? | |
Dann müsste ich annehmen, dass die Rechtspopulisten in unserem Land die | |
Macht übernommen haben. Es ist tatsächlich alarmierend, wenn wir jetzt | |
sehen, wie nach und nach für eine höhere Sache nahezu alle Freiheitsrechte | |
außer Kraft gesetzt werden. Ich glaube, wir sind uns alle einig: Es muss | |
Maßnahmen geben. Aber ich würde dazu raten, jetzt alle verfügbaren | |
Ressourcen in das Gesundheitssystem zu stecken statt in rein symbolische | |
Maßnahmen, wie das Schließen von Buchläden in 14 von 16 Bundesländern. | |
Sehnen wir uns gerade kollektiv nach dem starken Mann, der starken Frau? | |
Ja, ganz offensichtlich. Natürlich wäre es angenehm, wenn uns jetzt einer | |
oder eine schnelle Lösungen bieten, kraftvoll voranschreiten und uns aus | |
dem Tal der Tränen herausführen könnte. Diese Sehnsucht gibt es, wenn | |
Sebastian Kurz in manchen deutschen Medien als „Knallhart-Kanzler“ gefeiert | |
wird. | |
Es gibt ja auch jetzt eine große Sympathiewelle für Markus Söder, der die | |
„Ausgangsbeschränkung“ als Erster verkündet. Während er dazu auffordert,… | |
Hause zu bleiben, möchte er zugleich, dass der Handel weiter funktioniert, | |
die Bauarbeiter weiter bauen, die Krankenschwestern in den Krankenhäusern | |
weiter arbeiten. Also verlangt man von den niedrigbezahlten Berufen – | |
Müllmänner genauso wie andere Dienstleistungen –, sich weiter einer | |
Gesundheitsgefahr auszusetzen. | |
Die ohnehin Privilegierten aber können weiter zu Hause bleiben, eine | |
Ausgangssperre fordern und sich selbst „schützen“. Die sogenannte | |
Kontaktsperre bringt mit Macht die soziale Spaltung wieder auf den Plan. | |
Was macht es mit Menschen, wenn sie in der Krise plötzlich einem | |
Berufsverbot unterliegen? | |
Es irritiert uns alle, wenn unser Beruf plötzlich als systemrelevant oder | |
nicht systemrelevant eingeordnet wird – auch so eine Bezeichnungen, die | |
nicht einfach wieder abgeschaltet werden kann. Auch ich, als Historiker, | |
werde im Moment für „systemirrelevant“ erklärt. Und allen | |
Geisteswissenschaftlern wird eigentlich klargemacht: „Wenn es wirklich | |
drauf ankommt, dann können wir auf euch verzichten.“ Und wir verzichten ja | |
nicht nur auf Wissenschaft, sondern auch auf das komplette Kunst- und | |
Kulturleben, auf Sport und so weiter. | |
Ist es die Aufgabe der Zivilgesellschaft in den kommenden Monaten, genau | |
darauf zu achten, dass all diese Rechte wieder lebendig werden? | |
Ja, und ich bin froh, dass dieses Diskussion begonnen hat. Es wird | |
deutlich, dass es jetzt auch in der Wirtschaft, der Politik, in Kunst und | |
Kultur eine starke Bewegung gibt, die nach einer Exitstrategie fragt. Denn | |
es hat niemand etwas gewonnen, wenn wir alle in einer Gesundheitsdiktatur | |
leben müssen. Der Staat wird nie jedes Lebensrisiko für seine BürgerInnen | |
beseitigen können. Das sollten wir wieder zu akzeptieren lernen. Wir | |
sollten uns von der Idee der Vollkaskogesellschaft verabschieden. | |
Welches Potenzial sehen Sie in dieser kollektiven Erfahrung, durch die wir | |
gerade gehen? | |
Es ist natürlich ein gutes Zeichen, dass es eigentlich jetzt keine Ausreden | |
mehr gibt, denn wir haben erlebt, wie schnell tatsächlich alle Bereiche der | |
Gesellschaft einem Ziel untergeordnet werden können. Eigentlich gibt es | |
jetzt kein Argument mehr dagegen, nicht mit genauso drastischen Schritten | |
dem Klimawandel zu begegnen. | |
Braucht es den Mut zum Widerspruch auch in der Krise? | |
Wir müssen vom verbliebenen Grundrecht auf Meinungsfreiheit Gebrauch | |
machen! Diesen Mut sollten wir alle haben. Es zeugt vom Vertrauen, das wir | |
dieser Gesellschaft geben, dass wir diese Dinge aussprechen können. Es | |
kommt auf jeden Einzelnen von uns an, eine Demokratie zu leben und der Idee | |
der offenen Gesellschaft niemals mit Gleichgültigkeit oder Fatalismus zu | |
begegnen. | |
13 Apr 2020 | |
## LINKS | |
[1] /Demoverbot-im-oeffentlichen-Raum/!5674651 | |
[2] /Schwerpunkt-Coronavirus/!t5660746 | |
[3] /Ungarns-autoritaere-Staatsumbildung/!5673611 | |
## AUTOREN | |
Geseko von Lüpke | |
## TAGS | |
Schwerpunkt Coronavirus | |
Polizei | |
Demokratie | |
Freiheit | |
Grundrechte | |
Versammlungsfreiheit | |
Schwerpunkt Coronavirus | |
Schwerpunkt Coronavirus | |
Schwerpunkt Coronavirus | |
Schwerpunkt Coronavirus | |
Schwerpunkt Coronavirus | |
Schwerpunkt Coronavirus | |
Schwerpunkt Coronavirus | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Corona und die Meinungsfreiheit: Pingeliges Demo-Verbot | |
Das Oberverwaltungsgericht Hamburg hat eine Demo verboten, obwohl das | |
Verwaltungsgericht sie zunächst zuließ. Aktivist*innen wollen nicht | |
aufgeben. | |
Versammlungsfreiheit in der Corona-Krise: Polizei schützt Infektion | |
In Niedersachsen geht die Polizei hart gegen Demonstrant*innen vor, obwohl | |
sie auf den Infektionsschutz achten – die Polizei hingegen nicht. | |
Öffentliche Kontrolle von Parlamenten: Bezirke tagen geheim | |
Zum Schutz vor dem Coronavirus tagen die Hamburger Bezirkspolitiker*innen | |
in der ganzen Stadt unter Ausschluss der Öffentlichkeit. | |
Gregor Gysi über Corona und Grundrechte: „Man braucht auch Weltpolitik“ | |
Trotz Abstandsregeln lässt es sich gut mit Nachbarn über den Gartenzaun | |
plaudern. Wohnt man neben Gregor Gysi, lohnt das besonders. | |
Drohnen-Einsatz in der Coronakrise: Die Polizei mahnt von oben | |
In Düsseldorf und Dortmund nutzt die Polizei Drohnen, um | |
Menschenansammlungen zu finden. Die Luftaufklärung ist Teil eines | |
Pilotprojekts. | |
Verordnungen gegen Pandemie: Corona-Verstoß? Ab in Haft! | |
In Bayern wandern Menschen, die sich nicht an Corona-Auflagen halten, auch | |
in Haft. Juristen kritisieren die strengen Verordnungen scharf. | |
Demoverbot im öffentlichen Raum: Wie Protest trotzdem klappen kann | |
Durch Corona ist die Demokratie teilweise außer Kraft gesetzt. Doch Protest | |
muss weiter möglich sein, nicht nur im digitalen Raum. Ein Gastkommentar. | |
Ungarns autoritäre Staatsumbildung: Orbáns Wort ist jetzt Gesetz | |
Ungarns Ministerpräsident Orbán wettet schon jetzt darauf, dass die | |
Pandemie Autokraten wie ihn begünstigt. | |
Joschka Fischer über Corona-Krise: „Die Frage ist: Was kommt danach?“ | |
Der frühere Außenminister sieht auch Chancen in der „Menschheitskrise“ | |
Corona. Er mahnt Deutschlands Verpflichtung gegenüber Europa an. |