# taz.de -- Gregor Gysi über Corona und Grundrechte: „Man braucht auch Weltp… | |
> Trotz Abstandsregeln lässt es sich gut mit Nachbarn über den Gartenzaun | |
> plaudern. Wohnt man neben Gregor Gysi, lohnt das besonders. | |
Bild: Begegnung über den Gartenzaun – mit Gregor Gysi | |
taz: Herr Gysi, fühlen Sie sich durch die [1][Ausgangssperre] | |
eingeschränkt? Oder ist jetzt endlich Zeit, im Garten zu arbeiten? | |
Gregor Gysi: Alle meine Veranstaltungen sind abgesagt. Das Einzige was noch | |
stattfindet, ist der Bundestag und meine Anwaltstätigkeit. Die Beschränkung | |
besteht für mich auch darin, dass ich, wenn ich nun schon Zeit habe, | |
trotzdem nicht ins Theater oder mit Freunden Essen gehen kann. Ich bin | |
richtig auf mich angewiesen, das ist neu für mich. | |
Was machen Sie denn mit ihrer neu gewonnen Zeit? | |
Ich beantworte E-Mails und Briefe, gebe telefonisch und über den Gartenzaun | |
Interviews. Die schriftlichen Interviews muss ich dann korrigieren – auch | |
anstrengend. Ich höre Musik, lese. Und bin seit Jahren erstmalig wieder | |
dazu gekommen, fernzusehen. Außerdem genieße ich meinen Garten. | |
Für die Geflüchteten in den [2][Lagern auf den griechischen Inseln] sind | |
Freiheitsbeschränkungen nicht neu. Weil sie auf engem Raum festgehalten | |
werden, könnte das Corona-Virus dort katastrophale Folgen haben. Trotzdem | |
hat die Bundesregierung Mitte März aufgehört, Schutzsuchende aus | |
Krisengebieten aufzunehmen. Was bedeutet das für die Geflüchteten? | |
Dass sie ein besonders schweres Schicksal haben. Das Virus stellt ein | |
Risiko für alle Menschen dar, unabhängig von sozialer Stellung, Geschlecht, | |
Nationalität und Hautfarbe. Deshalb benötigen wir eine völlig andere | |
Solidargemeinschaft. Dazu gehört, dass man den Flüchtlingen hilft und | |
Griechenland entlastet. Die Situation auf der Insel Lesbos und auf anderen | |
ist dramatisch. Ich hatte Anfang März dafür plädiert, 5.000 besonders | |
schutzbedürftige Geflüchtete nach Deutschland zu holen. Die Bundesregierung | |
hat sich dann mit anderen Ländern zusammen bereit erklärt, insgesamt 1.600 | |
unbegleitete Kinder aufzunehmen. Passiert ist aber zunächst nichts, | |
einerseits, da die Ausbreitung von Corona in Deutschland den Fokus der | |
Politik und Gesellschaft von der Lage in Griechenland ablenkte, | |
andererseits, weil die griechische Bürokratie nicht in der Lage war, die | |
Identifizierung der Kinder so schnell zu organisieren. | |
Luxemburg wird zwölf Kinder aufnehmen, Deutschland 50. Wie andere | |
EU-Staaten reagieren, bleibt abzuwarten. Die Zahl liegt weit unter den | |
abgemachten 1.600. | |
Ja, es ist nicht genug. Selbst die versprochene Aufnahme der 1.600 ist | |
nicht genug. Alle Gefährdeten müssten in leerstehenden Hotels untergebracht | |
werden, und die Länder, die dazu in der Lage sind, schnell und mehr | |
Flüchtlinge aufnehmen. Natürlich gibt es EU-Länder, die sich weigern, wie | |
Ungarn, Polen und Tschechien. Aber dann müssen sich die Länder, die sich | |
einig sind, verständigen. Das kann nicht an Griechenland hängen bleiben. | |
Man muss sich mal vorstellen, was passiert, wenn in einem überfüllten Lager | |
der Corona-Virus ausbricht. Das Gesundheitswesen Griechenlands wäre darauf | |
überhaupt nicht vorbereitet, das hätte katastrophale Folgen. Außerdem bin | |
ich der Meinung, dass es für die Länder, die keine Flüchtlinge aufnehmen, | |
Abzüge von den Zuschüssen der EU geben muss. Es kann nicht konsequenzlos | |
bleiben, dass sie ihren nationalen Egoismus pflegen. | |
Wie sehen Ihre eigenen Bemühungen aus, auf die Ausnahmesituation der | |
Geflüchteten aufmerksam zu machen? | |
Zum Beispiel hat sich Erik Marquardt (Grüne), ein Mitglied des | |
EU-Parlaments, an mich gewandt. Ich habe seine LeaveNoOneBehind-Campagne | |
unterstützt. Ich habe auch mit einer grünen Bundestagsabgeordneten | |
besprochen, was wir für ein öffentliches Zeichen setzten können. Dazu | |
schrieb ich zwei Briefe an den griechischen Ministerpräsidenten. | |
Die Bundesregierung arbeitet daran, Deutschland vor einer weiteren | |
Ausbreitung des Virus zu schützen. Rücken in so einer Situation humanitäre, | |
internationale Fragen in den Hintergrund? | |
Ja, aber man muss die Gesamtentwicklung seit Ende des kalten Kriegs sehen. | |
Da es zwischen Ost- und West in der Frage der sozialen Gerechtigkeit keinen | |
Wettbewerb mehr gibt, haben wir jetzt den verstärkten Neoliberalismus. Das | |
heißt Privatisierung. Alles soll sich rechnen, auch ein Krankenhaus. Das | |
ist für die öffentliche Daseinsvorsorge völlig falsch. Ein Krankenhaus muss | |
in erster Linie für Gesundheit sorgen und nicht Gewinn bringen. In einer | |
Krise, wie wir sie jetzt haben, gibt es verschiedene Möglichkeiten. | |
Und welche wären das? | |
Entweder nimmt die Solidarität zu und man erkennt Werte, die man früher | |
vernachlässigt hat, überwindet den neoliberalen Kapitalismus und findet zu | |
neuen, demokratischeren, offeneren Strukturen. Oder es passiert das | |
Gegenteil, der nationale Egoismus setzt sich noch stärker durch als vorher. | |
Nach dem Motto, die Krankheit kam aus dem Ausland, also müssen wir uns | |
gegen das Ausland schützen. Das wäre eine rückschrittliche, reaktionäre | |
Entwicklung, die ich aber nicht ausschließen kann. | |
Ist ein gewisser nationaler Egoismus in dieser Krise nicht auch | |
verständlich? | |
Darum geht es nicht, sondern um die Frage, ob es der richtige Weg ist. Das | |
Problem ist nicht, dass EU-Bürger*innen aus anderen Ländern nicht mehr über | |
die deutsche Grenze kommen und umgekehrt. Oder, dass wir dadurch Probleme | |
bei der Pflege, in Krankenhäusern und beim Spargelstechen bekommen. Denn | |
man muss jetzt gewisse Abschottungsmaßnahmen ergreifen, um die Ausbreitung | |
des Corona-Virus zu verhindern. Die Frage ist, ob das gegen meine innere | |
Überzeugung geschieht, weil ich durch äußere Umstände dazu gezwungen bin | |
und ich die Maßnahmen so schnell wie möglich wieder aufhebe, wenn die | |
Umstände beseitigt sind. Oder gefällt mir das in Wirklichkeit und ich | |
versuche es zu etablieren? | |
Worin besteht dabei die Gefahr? | |
Wir müssen aufpassen, dass diese Krise nicht missbraucht wird, um die | |
Demokratie abzubauen. Das ist genau das, was der ungarische | |
Ministerpräsident Viktor Orbán jetzt mit dem Vollmachts-Gesetz durchgesetzt | |
hat, er kann ohne parlamentarische Zustimmung mit Dekreten regieren. Als | |
das ungarische Parlament dieses Gesetz am Montag beschloss, schaltete es | |
sich selbst aus. | |
Kann man im Angesicht einer Krise von Bürger*innen überhaupt verlangen, | |
über ihren eigenen Schutz hinaus solidarisch zu handeln? | |
Verlangen ist nicht das richtige Wort, aber man darf sie darum bitten. Und | |
man kann an sie appellieren. Gerade wenn es dir selbst nicht gut geht, | |
liegt der Gedanke, dass es Anderen noch schlechter geht, nahe. Ich habe | |
Ihnen am Anfang von den Dingen erzählt, die ich momentan nicht machen kann. | |
Meine Beschränkungen sind natürlich lächerlich im Vergleich zu den | |
Beschränkungen Anderer. Wenn ich da nicht bereit bin zu helfen, dann darf | |
ich mich auch nicht wundern, wenn ich in eine Notlage gerate und sich | |
niemand für mich einsetzt. Wer keine Solidarität übt, wird auch keine | |
erfahren. | |
Sie sprachen aber auch von der Chance, die Welt zu demokratisieren und mehr | |
zusammen zu arbeiten. | |
Wenn man jetzt begreift, dass sich Krisen ohne Solidarität nicht meistern | |
lassen und dass man für Weltkonzerne und Weltbanken auch Weltpolitik | |
braucht. Es kann sein, dass ein Druck entsteht, demokratische Regeln zu | |
schaffen, die zum Beispiel die neoliberale Fehlentwicklung der | |
Privatisierung des Gesundheitswesens und der Bildung ausschließen. Und dass | |
man dadurch begreift, dass auch soziale Gerechtigkeit und ökologische | |
Nachhaltigkeit keine ausschließlich nationalen Fragen, sondern | |
Menschheitsfragen sind und sich nur als solche beantworten lassen. Dafür | |
fehlen uns noch demokratischen Strukturen. Das Virus muss bekämpft, nicht | |
aber benutzt werden, um Politik gegen andere Länder zu betreiben. | |
Was bedeutet das für die Arbeit der Linken? | |
Wir haben zum Beispiel für das Aussetzen der schwarzen Null gestimmt. Auch | |
die meisten Hilfspakete haben wir unterstützt, trotz Begleitumständen, die | |
wir kritisieren. Besonders aber machen wir deutlich, dass es jeden | |
Missbrauch dieser Krise zum Abbau der Demokratie zu verhindern gilt. Zum | |
Beispiel wurde der ursprüngliche Vorschlag zur Änderung des | |
Infektionsschutzgesetz korrigiert. Die neue Version gibt der Regierung zwar | |
mehr Handlungsmöglichkeiten, um die Ausbreitung zu verhindern, legt aber | |
die Beteiligung des Parlaments an solchen Entscheidungen fest. Außerdem | |
wurden die Maßnahmen auf ein Jahr befristet. Es ist wichtig, solche | |
Befristungen festzulegen. Eine Ausnahme kann man machen, wenn man sichert, | |
dass sie eine Ausnahme bleibt. | |
12 Apr 2020 | |
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Elin Disse | |
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