# taz.de -- Demonstrieren in Corona-Zeiten: Wo bleibt der Protest? | |
> Die Corona-Regeln werden gelockert – aber was ist mit den | |
> Demonstrationen? Die Länder geben sich hier wortkarg oder bleiben | |
> bisweilen weiter streng. | |
Bild: Hier zumindest zeitweilig erlaubt: Protest der Seebrücke-Bewegung in Fra… | |
BERLIN taz | Jörg Bergstedt will am Freitagnachmittag wieder in Gießen auf | |
der Straße stehen. Er und seine Mitstreiter haben zu einer | |
Protestkundgebung aufgerufen, für die Rechte von Geflüchteten und | |
Ausgegrenzten auch und gerade in Corona-Zeiten. Und die AktivistInnen haben | |
nun auch den Segen des Bundesverfassungsgerichts dafür. | |
Zuvor war Bergstedt, der sich für die linke Projektwerkstatt Saasen | |
engagiert, und den anderen dieser Protest untersagt worden. Vier Tage lang | |
wollten die Aktivisten diese Woche immer nachmittags unter dem Slogan | |
„Gesundheit stärken statt Grundrechte schwächen“ im Stadtzentrum | |
demonstrieren. Die Stadt aber untersagte dies mit Verweis auf die | |
Corona-Schutzverordnung des Landes. Bis das Bundesverfassungsgericht dies | |
am Donnerstag kippte: [1][Ein pauschales Demonstrationsverbot sei auch in | |
Pandemiezeiten nicht verfassungskonform, entschieden die Richter]. | |
Am Freitag darf nun also in Gießen demonstriert werden. Die Kundgebung sei | |
jetzt unter Auflagen zugelassen, erklärte Gießens Bürgermeister Peter | |
Neidel der taz. Jörg Bergstedt freut das. Das Ringen um die Kundgebungen | |
sei zuletzt „sehr krampfig“ gewesen, sagt er. „Dass es jetzt so endet, ist | |
natürlich erleichternd.“ Es gehe hier schließlich um eine Grundsatzfrage, | |
um das Versammlungsrecht. Und darum, ob die Politik auch in Krisenzeiten | |
Kritik aushalten müsse. Nun, so Bergstedt, wolle man mit dem Protest am | |
Freitag „ein Ausrufezeichen“ setzen. | |
Tatsächlich hat sich das Bundesverfassungsgericht mit einer bisher | |
ungeklärten Frage befasst: [2][Wie viel Protest und Versammlungsfreiheit | |
ist in Zeiten der Corona-Pandemie noch möglich]? Bisher war die Antwort | |
vieler Städte und Gerichte hier zumeist rigide. Mit Verweis auf den | |
Gesundheitsschutz wurden zuletzt selbst Banneraktionen, Kreidezeichungen | |
oder Auto-Korsos verboten und von der Polizei aufgelöst, [3][etwa bei | |
bundesweiten Protesten des Seebrücke-Bündnisses.] | |
## Bund und Länder ignorieren die Versammlungsfreiheit | |
Und auch der Bund und die Länder kümmerten sich zuletzt nicht weiter um das | |
Thema. Als die Bundeskanzlerin und die Ministerpräsidenten am Mittwoch | |
ihren Beschluss zur vorsichtigen Lockerung der Corona-Beschränkungen | |
verkündeten, spielte der Umgang mit Demonstrationen und | |
Versammlungsfreiheit keine Rolle. Pauschal wurden nur die geltenden | |
Kontaktbeschränkungen bis zum 3. Mai verlängert und Großveranstaltungen bis | |
zum 31. August untersagt. Und als die Bundesländer am Donnerstag die | |
weitere Ausgestaltung der Regeln berieten, gaben sie sich in dem Punkt | |
weiterhin wortkarg – oder streng. | |
So hieß es am Donnerstag aus Sachsen nur knapp: „Veranstaltungen bleiben | |
untersagt.“ Auch Bayern hält an einem Versammlungsverbot fest. Das dortige | |
Innenministerium verweist auf taz-Anfrage auf die | |
Infektionsschutzverordnung des Freistaats, die Versammlungen untersagt. Und | |
diese Verordnung werde ja voraussichtlich bis zum 3. Mai verlängert, so | |
eine Sprecherin. | |
Zwar können Kreisverwaltungen Ausnahmegenehmigungen für Versammlungen | |
erteilen. Dies aber geschah laut Innenministerium in den vergangenen drei | |
Wochen lediglich in einem Fall. Hier schaffte es ein Mann über mehrere | |
Instanzen und unter strengen Auflagen eine Mini-Kundgebung für die | |
Versammlungsfreiheit am Münchner Isar-Ufer zu erstreiten. Eine weitere, | |
noch bevorstehende Kundgebung sei nun ebenfalls genehmigt, so das | |
Innenministerium. | |
## „Versammlungsrecht ist ein hohes Gut“ | |
Auch aus dem hessischen Innenministerium heißt es nur knapp, | |
Demonstrationen seien im Bundesland „zurzeit grundsätzlich nicht verboten“. | |
Über diese und auch über deren Auflagen entschieden aber die kommunalen | |
Versammlungsbehörden, so ein Sprecher. Die indes gaben sich zuletzt streng | |
– siehe Gießen. | |
In anderen Ländern ist man sich der Sensibilität des Themas zumindest | |
bewusst. So gilt zwar auch in Thüringen weiter ein Versammlungsverbot. In | |
einem aktuellen Beschluss der Landesregierung aber heißt es: „Das | |
Versammlungsrecht ist in unserer Demokratie ein hohes Gut und steht unter | |
besonderem Schutz. Zum Ausgleich des Spannungsverhältnisses zwischen | |
Infektionsschutz und Versammlungsfreiheit werden Regelungen vorbereitet und | |
abgestimmt.“ | |
Auch in Berlin signalisierte der Regierende Bürgermeister Michael Müller am | |
Donnerstag Zugeständnisse. Er sehe auch in jetzigen Zeiten sehr wohl das | |
Grundrecht auf Demonstrationsfreiheit, sagte der SPD-Mann. Dem stehe aber | |
der Gesundheitsschutz gegenüber. Man berate dennoch gerade im Senat, ob | |
unter Auflagen demnächst wieder Versammlungen möglich seien. Entscheidend | |
sei deren Charakter: „Kann ich das steuern?“ Demonstrationen mit mehreren | |
tausend Leuten „sehe ich in den nächsten Monaten nicht“, stellte Müller | |
klar. | |
## Autonome wollen am 1. Mai demonstrieren | |
In Berlin hat die Debatte besondere Brisanz – weil hier der 1. Mai mit | |
traditionell autonomem Großprotest bevorsteht. [4][Und dort erneuerte die | |
Szene am Donnerstag ihre Ansage, an dem Tag trotz Corona-Verordnungen | |
Aktionen zu starten]. Man rufe dazu auf, am 1. Mai und am Vorabend, | |
„dezentral aktiv werden“, hieß es vom Vorbereitungsbündnis für die auton… | |
1.-Mai-Demonstration. Gründe für Protest gebe es genug. Und: Man lasse sich | |
„nicht vom Staat vorschreiben, wie unser Protest aussehen wird“. Allerdings | |
nehme man auch die Ansteckungsgefahr ernst und appelliere zu | |
Mindestabstand, Handschuhen und Vermummung, so das Bündnis. | |
Druck auf den Berliner Senat kommt nun auch von der Polizei. Für die | |
Einsatzplanung zum 1. Mai fehlten „weiterhin klare Eckpfeiler“, kritisiert | |
die Gewerkschaft der Polizei. Gelten die Corona-Einschränkungen weiter, | |
müssten diese auch am 1. Mai durchgesetzt werden – eine | |
Deeskalationsstrategie wie in den vergangenen Jahren wäre dann „nur schwer | |
umsetzen“. Die Polizeigewerkschaft forderte eine „klare Ansage“, ob an dem | |
Tag Versammlungen stattfinden dürften oder nicht. | |
Die gleiche Debatte um den 1. Mai wird auch in Hamburg geführt. Auch dort | |
wollen Autonome am Abend des 1. Mai – trotz Corona-Pandemie – | |
demonstrieren. „Krank ist das System“, lautet ihr Protestaufruf. | |
Gleichzeitig wollen an dem Tag in der Hansestadt auch Neonazis der Partei | |
„Die Rechte“ aufmarschieren. | |
Ein Sprecher der Hamburger Polizei verwies am Donnerstag auf das bestehende | |
Versammlungsverbot. Nur in „besonders gelagerten Einzelfällen“ könnten | |
Ausnahmen zugelassen werden. Die Versammlungsbehörde prüfe hier mit der | |
Gesundheitsbehörde „alle Kriterien, die maßgeblich sein können“. Gegenü… | |
einer Versammlung müsse immer das „überragende Schutzgut der menschlichen | |
Gesundheit und des Lebens“ abgewogen werden, betonte der Polizeisprecher. | |
## Urteil aus Karlsruhe weckt Hoffnung | |
Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts weckt bei einigen Protestgruppen | |
indes wieder Hoffnungen. So will das Seebrücke-Bündnis am Samstag in | |
Hamburg erneut demonstrieren – mit einer „Abstandsmahnwache“ und für die | |
Evakuierung von Geflüchteten in Griechenland. „Wir gehen jetzt davon aus, | |
dass das stattfindet“, erklärt Mitorganisator Christoph Kleine der taz. | |
Geplant sei eine 1,8 Kilometer lange Mahnwache mit etwa 450 Menschen – | |
allesamt auf Abständen von drei Metern, mit Schutzmasken und gestaffelter | |
Anreise. „Wir nehmen das Coronavirus nicht auf die leichte Schulter und | |
geben uns wirklich Mühe“, sagt Kleine. „Wir fordern nun die Kooperation der | |
Behörden ein, die uns seit Tagen verweigert wird, spätestens jetzt.“ | |
Just am Donnerstag hatte in Hamburg auch das Verwaltungsgericht eine | |
Kundgebung von Juristen unter dem Slogan „Abstand statt Notstand“ für den | |
gleichen Abend genehmigt. Das „präventive Verbot für Versammlungen mit | |
Ausnahmevorbehalt ist mit verfassungsrechtlichen Anforderungen nicht | |
vereinbar“, befanden die Richter. Das Veranstaltungskonzept mit klaren | |
Abstandsregeln und nur 36 Teilnehmern trage dem Infektionsschutz Rechnung. | |
Das Oberverwaltungsgericht kippte die Entscheidung indes wieder – die | |
bereits begonnene Kundgebung musste abgebrochen werden. | |
Das Hakeln um die Versammlungsfreiheit in Zeiten der Corona-Pandemie geht | |
damit weiter. Auch in Gießen. Denn die Auflagen, welche die Stadt für die | |
vorm Bundesverfassungsgericht erstrittene Kundgebung am Freitag erließ, | |
sind streng: Nur 15 Teilnehmer dürfen sich dort nun für eine Stunde | |
versammeln, mit Mundschutz und 1,5 Meter Abstand. Demonstrant Jörg | |
Bergstedt rechnet nach dem juristischen Erfolg nun aber mit mehr | |
Teilnehmern. Für diesen Fall müssten dann eben weitere Kundgebungen mit je | |
15 Teilnehmern angemeldet werden, so der Aktivist. | |
Für Bürgermeister Neidel wären indes auch solche Anmeldungen neu zu prüfen. | |
Das Ordnungsamt jedenfalls werde dafür sorgen, dass alle Auflagen am | |
Freitag eingehalten werden, betont der CDU-Mann. | |
17 Apr 2020 | |
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## AUTOREN | |
Konrad Litschko | |
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