| # taz.de -- Grundrechte in Corona-Krise: Ansteckende Freiheit | |
| > Nein, die Grundrechte sind nicht abgeschafft. Aber die Pauschalität der | |
| > Seuchenbekämpfung lässt an ihrer Rechtfertigung zweifeln. | |
| Bild: Wenn Grundrechte kollidieren: Am Rande einer Demonstration in Berlin | |
| Es war abzusehen: Je länger die coronabedingten Notverordnungen wirken, | |
| umso stärker wächst nicht nur unter FDP-Wählerinnen der Unmut über | |
| [1][massive Grundrechtseingriffe]. Auch das Bundesverfassungsgericht hat am | |
| letzten Mittwoch in einem Urteil zur Versammlungsfreiheit ein warnendes | |
| Zeichen gesetzt. | |
| Zwar gelten die Grundrechte keineswegs „absolut“, die Verfassung selbst | |
| sieht die Möglichkeit von Eingriffen vor. Doch unterliegen diese | |
| Einschränkungen ihrerseits Schranken – im juristischen Jargon | |
| „Schranken-Schranken“ genannt. Pauschale Eingriffe sind unzulässig, jeder | |
| Einzelfall muss geprüft werden und sich mit Blick auf Härte und Dauer des | |
| Eingriffs als „verhältnismäßig“ erweisen. | |
| Auch wenn derzeit keine Rede davon sein kann, dass wir uns im „Krieg“ | |
| befinden, dass eine politische „Ermächtigung“ stattgefunden hat und die | |
| Grundrechte „abgeschafft“ sind: Die panische Pauschalität, mit der die | |
| Seuchenbekämpfung auch völlig gesunde Menschen antastet, lässt an ihrer | |
| Rechtfertigung zweifeln. Selbst wenn der Vergleich ein wenig hinkt: Es ist, | |
| als wolle man die Kriminalität bekämpfen, indem man auch alle Unschuldigen | |
| als Gefährder einstuft und präventiv einsperrt. Im viralen Schockzustand | |
| mögen politische Vorstöße dieser Art verständlich anmuten. Aber nun wird es | |
| Zeit, Bilanz zu ziehen: Treffen diese Zwangsmaßnahmen stets die „Richtigen“ | |
| oder manchmal eben auch die Falschen? Und selbst wenn sie die Richtigen | |
| treffen: Sind all diese mit der epidemiologischen Gießkanne gestreuten | |
| Verordnungen gleichermaßen verhältnismäßig? | |
| Nehmen wir an, wir wüssten in jedem einzelnen Fall sehr genau, was wir | |
| faktisch natürlich nicht wissen, wer alles infiziert ist und wer nicht. | |
| Nehmen wir zudem an, es sei gerechtfertigt, infizierte Menschen bedingt | |
| abzuschotten. Wäre dies auch dann gerechtfertigt, wenn es um nachweislich | |
| gesunde Menschen ginge? Das sind allein hierzulande rund 83 Millionen | |
| Menschen. Muss man diese allesamt davon abhalten, infiziert zu werden? In | |
| einem liberalen Rechtsstaat muss die Antwort lauten: nein! | |
| Der Staat hat nicht paternalistisch dafür Sorge zu tragen, dass es uns | |
| allen gut geht. Er sagt uns ja auch nicht jeden Morgen: „Zieh dich warm an, | |
| wenn du das Haus verlasst!“ Der liberale Rechtsstaat mag die Aufgabe haben, | |
| Kranke in Quarantäne zu schicken, aber die Freiheit, die im Wörtchen | |
| „liberal“ steckt, ist immer auch die Freiheit gesunder Menschen, | |
| persönliche Gefahren bis hin zur eigenen Ansteckung eingehen zu dürfen – | |
| solange man eben nicht selbst ansteckend ist. | |
| Deshalb ist die Aussicht darauf, massenhaft testen zu können, auch | |
| grundrechtlich essenziell. Um im Gedankenexperiment zu bleiben: Wären | |
| tatsächlich alle getestet und blieben alle Infizierten daheim, so wäre es | |
| in einem Rechtsstaat nicht länger auch nur denkbar, weiterhin auch | |
| diejenigen ans Haus zu fesseln, deren Test negativ ausgefallen ist. Man | |
| wird hier einwenden: Gerade weil wir faktisch eben doch nicht wissen, wer | |
| ansteckend ist, weil Menschen oft unvernünftig sind und eine gefährliche | |
| Knappheit an Intensivbetten herrscht, ist die Pauschalität der Maßnahmen | |
| eben doch gerechtfertigt. Aber das ist ein Irrtum. Für den | |
| unverantwortlichen Mangel an medizinisch technischer Versorgung sind | |
| Politik und Wirtschaft, nicht aber die einzelnen Grundrechtssubjekte | |
| verantwortlich. Zahllose gesunde Menschen müssen so ein eklatantes | |
| Systemversagen mit unverhältnismäßigen Eingriffen in ihre Grundrechte | |
| bezahlen. | |
| Das Recht spricht bei solchen Abwägungen gern vom Schutz „höherer | |
| Rechtsgüter von Verfassungsrang“: die Bewahrung des Friedens oder der | |
| öffentlichen Ordnung etwa, der Fortbestand der Demokratie oder eben die | |
| Gesundheit der Bevölkerung. Dies würde bedeuten, dass es auch andere als | |
| bloß grundrechtliche Gründe für derartige Eingriffe gibt, die primär dem | |
| Schutz des Kollektivs dienen. Können die Grundrechte der Individuen | |
| tatsächlich durch diese anderen Rechtsgüter „übertrumpft“ werden? | |
| Nur zur historischen Erinnerung: Die Grund- und Menschenrechte wurden und | |
| werden in Verfassungen und völkerrechtlichen Konventionen festgeschrieben | |
| für genau solche Momente – in denen das politische Kollektiv meint, sich | |
| über das Individuum hinwegsetzen zu dürfen. Die Grundrechte sind ihrerseits | |
| „Trümpfe“, wie der Philosoph Ronald Dworkin sagte, da es zu deren Begriff | |
| gehört, nicht schon durch außermenschenrechtliche Erwägungen außer Kraft | |
| gesetzt werden zu dürfen. | |
| ## Illegitime Verletzung von Grundrechten | |
| Daraus folgt, dass Eingriffe, die sich nicht selbst auf grundrechtliche | |
| Ansprüche zurückführen lassen, illegitime Verletzungen dieser Rechte | |
| darstellen. Mit Blick auf infizierte, erkrankte, alte oder vorerkrankte | |
| Menschen mag eine solche Rechtfertigung tragbar sein: Die [2][Beschränkung | |
| der Freiheit] eines ansteckenden Menschen etwa wird durch den Schutz des | |
| Lebens oder der körperlichen Unversehrtheit anderer aufgewogen. Hier | |
| kollidieren Grundrechte, und der geplante Eingriff in eines der beiden | |
| Rechte bedeutet dann lediglich, dass das andere aus diesem Konflikt als | |
| „Sieger“ hervorgegangen ist. | |
| Doch wie gesagt: Dazu muss die Person, erstens, infiziert sein. Und dieser | |
| Zwang muss ihr, zweitens, auch in dem Sinn zugemutet werden können, dass es | |
| dabei nicht zu einer noch schwereren Verletzung der Rechte von anderen | |
| kommt. Vollends unverhältnismäßig wird [3][staatlicher Zwang] dann, wenn er | |
| die „Menschenwürde“ antastet. Artikel 1 Grundgesetz ist ein besonderes | |
| Grundrecht, weil es ausnahmsweise keine Ausnahmen zulässt. Der Würdebegriff | |
| mag schwammig anmuten. Aber wenn etwa die Regierung von Sachsen über die | |
| Zwangseinweisung von Quarantäneverweigerern in die geschlossene Psychiatrie | |
| nachdenkt oder wenn alte Menschen fernab ihrer Familie in unfreiwilliger | |
| Isolation sterben müssen, so ist selbst diese Grenze überschritten. | |
| 23 Apr 2020 | |
| ## LINKS | |
| [1] /Demonstrieren-in-Corona-Zeiten/!5679267 | |
| [2] /Protest-gegen-neues-Polizeigesetz/!5676845 | |
| [3] /Opposition-in-Coronazeiten/!5675429 | |
| ## AUTOREN | |
| Arnd Pollmann | |
| ## TAGS | |
| Schwerpunkt Coronavirus | |
| Grundrechte | |
| Bundesregierung | |
| Schwerpunkt Coronavirus | |
| Schwerpunkt Coronavirus | |
| Schwerpunkt Coronavirus | |
| Schwerpunkt Coronavirus | |
| PEPP-PT | |
| Grundrechte | |
| Protest | |
| ## ARTIKEL ZUM THEMA | |
| Demokratiedefizit in Kiel: Abstimmung nur analog | |
| Weil ein Gesetz über Online-Abstimmungen seit Jahren aussteht, verklagt | |
| eine Ini Schleswig-Holsteins Landesregierung. | |
| Philosoph über den Sinn der Berührung: „Der Körper als Seele“ | |
| Der französische Philosoph Jean-Luc Nancy spricht über den Sinn der | |
| Berührung und Kontaktbeschränkungen zu Coronazeiten. | |
| Anwalt über Versammlungsrecht und Corona: „Ein schwerwiegender Eingriff“ | |
| Dass Demonstrationen nur mit Ausnahmegenehmigung möglich sind, hält Peer | |
| Stolle für eine kritikwürdige Einschränkung von Grundrechten. | |
| FC Bayern und Corona: Testzone Fußball | |
| Die Profis des FC Bayern werden vorsorglich auf Corona getestet. Ist das | |
| moralisch vertretbar – wegen Systemrelevanz des Geschäfts? | |
| Kritik an mangelnder Transparenz: Beteiligte streiten über Corona-Apps | |
| Mehrere Akteure ziehen sich aus dem europäischen Projekt zum Tracking von | |
| Infizierten zurück. Einer der Vorwürfe: Intransparenz. | |
| Corona und die Meinungsfreiheit: Pingeliges Demo-Verbot | |
| Das Oberverwaltungsgericht Hamburg hat eine Demo verboten, obwohl das | |
| Verwaltungsgericht sie zunächst zuließ. Aktivist*innen wollen nicht | |
| aufgeben. | |
| Demonstrieren in Corona-Zeiten: Wo bleibt der Protest? | |
| Die Corona-Regeln werden gelockert – aber was ist mit den Demonstrationen? | |
| Die Länder geben sich hier wortkarg oder bleiben bisweilen weiter streng. |