# taz.de -- Neue Nationalerie wiedereröffnet: Gegenwart für die Zeitkapsel | |
> Die Neue Nationalgalerie in Berlin ist wieder ganz die Alte. Neu ist die | |
> Anlage der Dauerausstellung, die jetzt viele Künstlerinnen präsentiert. | |
Bild: Glänzen jetzt wieder: Alexander Calders „Têtes et queue“ und die Ne… | |
Die Neue Nationalgalerie in Berlin sieht jetzt – zur Wiedereröffnung für | |
das Publikum am Sonntag – genauso aus wie zu ihrer ursprünglichen Eröffnung | |
im Jahr 1968. Zu erleben ist ein Tempel für die Kunst aus Glas und Stahl, | |
der schon zur Fertigstellung fast allen Kommentatoren als eine Ikone der | |
modernen Architektur galt. | |
Dass die Neue Nationalgalerie nach fünfjähriger Sanierung durch den | |
britischen Stararchitekten [1][David Chipperfield] jetzt augenscheinlich | |
ganz die Alte ist, wirkt insofern erstaunlich, weil sich um den von | |
[2][Ludwig Mies van der Rohe] entworfenen Bau herum alles verändert hat – | |
die Stadt, die Menschen und der alle und alles durchwehende Zeitgeist. | |
Bei der Betrachtung der Geschichte scheint es tatsächlich so zu sein, als | |
ob der Geist der Zeit die Menschen packen und zwingen würde, ihm zu | |
gehorchen. So auch in dieser historischen Stunde bei den für die | |
Nationalgalerie Verantwortlichen von der Stiftung Preußischer Kulturbesitz. | |
Denn der Zeitgeist setzt auf Rekonstruktion und Retrokult. | |
Aber: Wenn nun die Neue Nationalgalerie in der alten Frische auftritt, dann | |
heißt das eben noch nicht, dass damit die gleichen Aussagen getroffen | |
würden wie ehedem. Mies’ Nationalgalerie war nämlich der Schlusspunkt einer | |
Epoche, die mit dem zur Chiffre gewordenen Jahr 1968 zu Ende ging. Die | |
Nationalgalerie ist zugleich das letzte von Mies selbst fertiggestellte | |
Werk. Er starb 1969. | |
Der Zeitgeist aber hatte sich ab 1968 gewendet. Der damalige | |
Generaldirektor der Staatlichen Museen der Stiftung Preußischer | |
Kulturbesitz, Stephan Waetzoldt, formulierte diese kulturelle Wende 1970 | |
in seiner Forderung nach der „Fähigkeit des Museums, sich dem Leben der | |
Bevölkerung zu integrieren“. | |
## Kunsttempel mit Terrasse | |
Für Mies’ Nationalgalerie passt diese Devise nicht wirklich. Der Bau ist | |
ein Kunsttempel, er schafft mit erhöhtem Podium und raumgreifender Terrasse | |
Abstand zum Stadtleben und holt die Stadt dann doch (als Bild) zurück in | |
die gläserne Halle unter dem monumentalen Stahldach. Der Mies-Bau ist | |
gerade wegen seines Rückgriffs auf erhabene Architekturformen heute | |
eigentlich ein Anachronismus, da er die Schwelle zur Kunst eben gerade | |
nicht erniedrigt, wie das seit 68 mit der Nivellierung von Kunst und Leben | |
zum Zeitgeist geworden ist. | |
Daher nimmt es nicht wunder, dass dem Retrokleid der Nationalgalerie – der | |
Leiter des Hauses, Joachim Jäger, spricht selbst von „Time capsule“ – do… | |
noch etwas vom heutigen Zeitgeist eingepflanzt werden muss. Dies passiert | |
nicht in formaler Konfrontation, sondern durch geistige Kommentierung: | |
Einher mit der Wiedereröffnung kommen jetzt gleich vier Ausstellungen im | |
Haus zum Zuge, die diese Strategie mehr oder weniger verfolgen. | |
Am dichtesten dran an Mies ist Alexander Calder in der großen oberen Halle. | |
Der US-Künstler Calder passt deshalb so gut zu Mies, weil seine kleinen und | |
weniger kleinen bewegten Mobiles und seine beschwingten, meist sehr großen | |
Stabiles eine Ergänzung zur notwendig statischen Architektur darstellen. | |
Die bewegten Formen und beweglichen Teile Calders liefern ein Komplement | |
zum modern interpretierten Klassizismus Mies van der Rohes. | |
## Organische Formen | |
Allegorische Skulpturen haben die Architektur (nicht nur bei Mies van der | |
Rohe) schon lange begleitet oder auch Wasserbassins, wie es sich auch im | |
Garten der Nationalgalerie findet. Außerdem gründen Calders Stahlskulpturen | |
immer noch in organischen oder anthropomorphen Formen. So auch bei seinem | |
über Jahrzehnte auf der Terrasse der Nationalgalerie platzierten Werk | |
„Têtes et queue“ (1965), das nach der Sanierung dorthin zurückgekehrt ist. | |
Mies hat Calders Skulpturen geschätzt. In Chicago, Mies’ Wahlheimat seit | |
1938, komplettiert Calders roter Flamingo die von Mies’ Wolkenkratzern | |
umstandene Federal Plaza, die man sich ohne den Riesenvogel aus Stahl gar | |
nicht vorstellen kann. Die ästhetische Paarung der Zeitgenossen von Mies | |
und Calder jetzt in der Nationalgalerie trägt also trefflich zur | |
Ausstattung der Time capsule bei. | |
Bei Rosa Barbas Soloschau im Graphischen Kabinett im Untergeschoss mit | |
ratternden Filmprojektoren, sich schlängelnden Filmstreifen und | |
farblichternden Projektionen ist die Aktualisierung der analogen Epoche | |
in heutige Perspektiven schon deutlich anzumerken. Bei der kleinen | |
Ausstellung zur Baugeschichte des Hauses verfährt man dagegen eher neutral | |
anhand vieler (reproduzierten) Dokumente nebst Architekturmodellen und | |
Mies-Sessel. | |
## So viel Mies wie möglich | |
Bei der Neupräsentation der Dauerausstellung im Gebäudesockel gibt es | |
formal kaum Neuerungen. Ein offenes Raumkontinuum mit locker gehängten | |
Bildern an weißer Wand über grauem Teppichboden. Hier trifft sich die | |
retrospektive Haltung mit der Vorgabe für die gesamte Restaurierung: „So | |
viel Mies wie möglich.“ | |
Dementsprechend sind die technischen Neuerungen unsichtbar: Das betrifft | |
die gesamte Gebäudetechnik samt Lüftung, Fußbodenheizung und die gegen | |
Glasbruch ertüchtigte Fassade der Podiumshalle. Chipperfields Größe bei | |
der 140 Millionen Euro teuren Restaurierung bestand darin, dass er sich | |
ästhetisch zurückgenommen hat. | |
Die neue Schau zur Sammlung der Nationalgalerie (zunächst für zwei Jahre) | |
gibt eine Auswahl von 250 Bildern aus der Zeit von 1900 bis 1945, also | |
ungefähr aus dem, wozu der Mies-Bau ursprünglich bestimmt war, als die | |
Sammlung noch klein, das Publikum eher spärlich und elitär und die | |
Kunstwerke relativ kleinformatig waren. | |
## Weibliches Selbstverständnis | |
Die Ausstellung zeigt keine reine Stilgeschichte der Moderne, sondern | |
gliedert sich nach gesellschaftlichen Themen: Großstadt, Trauma (des Ersten | |
Weltkriegs) und Vernichtung (im Zweiten Weltkrieg) oder das neue weibliche | |
Selbstverständnis. Expressionismus und Kubismus präsentieren sich nun als | |
zwei Weisen der Suche nach neuen Ausdrucksformen, was wiederum Ergebnis | |
gesellschaftlichen Fortschritts war. | |
Die neuen Kontexte bei Wandtexten und Zusatzinformationen auf frei im Raum | |
befindlichen Textbannern bringen den aktuellen Zeitgeist in die | |
Präsentation der historischen Objekte hinein. So etwa bei [3][Emil Noldes | |
Gemälde] der „Papua-Jünglinge“ von 1914, das in der Schau explizit in den | |
Zusammenhang von Rassismus und Kolonialismus gestellt wird. | |
Die jetzt um viele Werke von Frauen – Lotte Laserstein, Leonor Fini, Hilma | |
af Klint und andere – ergänzte Sammlungsschau macht auch die Rolle der Frau | |
in der ersten Jahrhunderthälfte zum Thema, was die Kuratoren als ein | |
gesellschaftliches „Muss“ verspürt haben. | |
Der Titel „Die Kunst der Gesellschaft“ für die Sammlungspräsentation | |
formuliert thesenartig, dass es die Gesellschaft ist, die die Kunst macht. | |
Das meint, dass die Bewertung von Kunst und schon der Zugang zur Kunst (der | |
etwa Frauen offiziell in den Akademien wie inoffiziell im Kunstbetrieb | |
lange Zeit verwehrt wurde) im Gesellschaftlichen passiert und eben dem | |
folgt, was man auch Zeitgeist nennt. | |
Wie sich die Nationalgalerie nun insgesamt präsentiert, wie sie alte | |
Klassiker neu kommentiert, widersteht der Versuchung, das Alte zu | |
entstellen oder zu übertünchen. Um aktuelle Botschaften zu vermitteln, | |
bedarf es keiner Bildstürmerei, sondern viel Vermittlung. | |
21 Aug 2021 | |
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## AUTOREN | |
Ronald Berg | |
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