# taz.de -- Integration von Geflüchteten: Willkommen oder nur geduldet | |
> Deutschland will ukrainischen Geflüchteten die Integration erleichtern – | |
> andere haben es noch schwer. Wie Integration für alle besser gelingen | |
> könnte. | |
Bild: Arbeit gibt es reichlich: Ukrainerinnen beim Job-Speeddating in der Arbei… | |
Die Außentemperatur in Köln beträgt an diesem Maitag 27 Grad. Trotzdem | |
trägt Marina Vashenko beim Videogespräch einen dicken weißen Pullover. Als | |
sie Anfang März aus der Ukraine geflüchtet ist, war es noch bitterkalt. Den | |
Gutschein für Primark, den Freiwillige unter den Ankommenden verteilt | |
hatten, hat sie für Winterkleidung ausgegeben. Sie sei noch nicht dazu | |
gekommen, Sommerkleidung zu kaufen, erklärt Vashenko lachend. | |
Seit ihrer Ankunft war Vashenko sehr beschäftigt: Es galt, sich durch die | |
deutsche Bürokratie zu kämpfen – „anstrengend, alle Papiere waren auf | |
Deutsch“ –, eine Arbeitserlaubnis zu bekommen und einen Job zu finden. Mit | |
Erfolg: Marina Vashenko arbeitet inzwischen als Rezeptionistin in einem | |
Kölner Hotel. | |
Die 26-Jährige heißt eigentlich anders, will aber nicht, dass ihr richtiger | |
Name veröffentlicht wird. Sie kam Anfang März gemeinsam mit ihrer Mutter | |
und Großmutter in Deutschland an. Mehr als sechs Millionen Menschen sind | |
dem UN-Flüchtlingshilfswerk zufolge [1][seit dem 24. Februar aus der | |
Ukraine geflohen], die meisten von ihnen Frauen, Ältere und Kinder, da | |
wehrfähige Männer derzeit nicht ausreisen dürfen. In Deutschland hat das | |
Ausländerzentralregister bislang über 700.000 Menschen registriert. | |
Wie viele aus der Ukraine Geflüchtete tatsächlich im Land sind, ist schwer | |
zu sagen. Die Menschen können sich zunächst visafrei in der EU bewegen. Es | |
ist unklar, wie viele Menschen noch nicht registriert und wie viele | |
weitergezogen sind. Manche sind schon wieder zurückgekehrt und viele | |
wünschen es sich, so auch Vashenkos Familie. Ob und wann das möglich sein | |
wird, hängt vom Kriegsverlauf ab. | |
## Ukrainer*innen als anerkannte Asylbewerber*innen | |
Trotz dieser Unsicherheit hätten ukrainische Geflüchtete „[2][gute Chancen | |
auf dem Arbeitsmarkt]“, heißt es in einer aktuellen Studie des Instituts | |
der Deutschen Wirtschaft. „Die meisten Geflüchteten wünschen sich einen Job | |
in Deutschland, sind gut qualifiziert und bringen gefragte Berufs- und | |
Hochschulabschlüsse mit“, teilt das Institut mit. | |
Die Erfahrung der vergangenen Jahre habe gezeigt, dass die | |
Berufsqualifikation von Ukrainer*innen „sehr häufig als teilweise oder | |
voll gleichwertig gewertet“ würden, wenn diese einen Antrag auf Anerkennung | |
stellen. Eine solche Anerkennung ist in Deutschland nur für bestimmte | |
Berufe notwendig – etwa im medizinischen oder pflegerischen Bereich –, doch | |
auch in vielen anderen Branchen legen Arbeitgeber*innen Wert darauf. | |
Bund und Länder haben sich darauf geeinigt, geflüchtete Ukrainer*innen | |
ab Juni wie anerkannte Asylbewerber*innen zu behandeln. So haben sie | |
Zugang zur Grundsicherung und Jobcentern. Dadurch sei „sichergestellt, dass | |
soziale Unterstützung, Arbeitsvermittlung, Unterstützung bei der | |
[3][Kinderbetreuung] und psychosoziale Angebote aus einer Hand kommen“, | |
sagte Bundesarbeitsminister Hubertus Heil (SPD) im April. | |
## Europäische Sonderreglung | |
Wichtig bei der Integration in den Arbeitsmarkt seien für Ukrainer*innen | |
aber auch informelle Netzwerke wie Facebook, erklärt Thomas Liebig, | |
Migrationsexperte bei der OECD. Auch Familie oder Freund*innen leisteten | |
viel Hilfe bei der Job- und Wohnungssuche. Schon vor dem Krieg lebten viele | |
Ukrainer:innen in Deutschland. Diese Netzwerke erleichterten Integration | |
und bestimmten auch die Fluchtbewegung: Es ziehe die Menschen dorthin, wo | |
sich bereits Bekannte oder Familie befinden. | |
Netzwerke hatte auch Vashenko, wenn auch keine ukrainischen: „Ich habe | |
beschlossen, nach Deutschland zu gehen, weil ich auf Baltrum schon einmal | |
ein Praktikum gemacht habe, die Sprache ein wenig kenne und hier einige | |
Freundinnen habe“, erzählt sie. „Es war ein Land, das ich kannte, und ich | |
dachte, ich hätte Aussicht auf einen Job“. Die Qualifikation dafür bringt | |
sie mit: Vashenko hat Tourismus studiert und Berufserfahrung in | |
Deutschland, den USA, der Türkei und Bulgarien gesammelt. | |
Vashenkos Praxiserfahrung sprach für sie: Ihr Arbeitgeber drückte sogar bei | |
den Sprachkenntnissen ein Auge zu. Innerhalb von zehn Tagen bekam sie die | |
Rückmeldung, dass sie die Position als Rezeptionistin bekommt. | |
Dass Vashenko sich schon so früh einen Job suchen konnte, liegt an einer | |
Sonderregelung, die für andere Geflüchtete so nicht gilt: Für geflüchtete | |
Ukrainer*innen haben die EU-Staaten erstmals die sogenannte | |
[4][Massenzustromrichtlinie] angewandt. So bekamen Vashenko und ihre | |
Familie sofort bei der Registrierung humanitäre Aufenthaltstitel – | |
Arbeitserlaubnis inklusive –, ohne ein langwieriges Asylverfahren | |
durchlaufen zu müssen. | |
## Viele Asylsuchende dürfen jahrelang nicht arbeiten | |
Andere Geflüchtete dürfen in den ersten drei Monaten überhaupt nicht | |
arbeiten. Läuft ihr Asylverfahren noch oder sind sie geduldet, brauchen sie | |
die Erlaubnis der Ausländerbehörde – und ob diese erteilt wird, ist | |
Ermessenssache. Leben sie in einer Erstaufnahmeeinrichtung, gilt sogar ein | |
striktes Arbeitsverbot. Die Vorgängerregierung aus Union und SPD hat ihn | |
sogar auf bis zu 18 Monate ausgedehnt. Viele Asylsuchende dürfen deshalb | |
monate-, mitunter jahrelang nicht arbeiten – völlig unabhängig davon, wie | |
qualifiziert sie sind und ob ihre Fähigkeiten gerade dringend gebraucht | |
werden. | |
Für Unternehmen, die Geflüchtete beschäftigten wollen, sind diese Hürden | |
seit Jahren eine Herausforderung. Trotzdem haben viele in den vergangenen | |
Jahren großes Engagement an den Tag gelegt. Allein im „Netzwerk Unternehmen | |
integrieren Flüchtlinge“ haben sich [5][3.000 Unternehmen zusammengetan]. | |
„Vor Corona gab es einen richtigen Schub bei der Integration am | |
Arbeitsmarkt“, sagt Sofie Geisel vom Deutschen Industrie- und | |
Handelskammertag bei einem Pressegespräch des Netzwerks. Durch die Pandemie | |
sei „viel stehen und stecken geblieben“. Doch viele Unternehmen hätten an | |
ihren Bemühungen festgehalten. „Aus dem Glauben heraus, dass das wichtig | |
ist – und weil der Fachkräftemangel nicht aufhört, weil wir jetzt eine | |
Pandemie oder einen Krieg haben“, sagt Geisel. | |
## Diverse Kriterien hindern den dauerhaften Aufenthaltstitel | |
In einem Punkt sind sich die Vertreter*innen verschiedener Unternehmen | |
bei dem Fachgespräch einig: Das „A und O“ seien Sprachkenntnisse. Mitunter | |
organisierten die Unternehmen selbst Sprachkurse für Geflüchtete, um eine | |
Ausbildung oder Beschäftigung zu ermöglichen. | |
Ab und zu kommt es aber vor, dass ein Mitarbeiter morgens einfach nicht zur | |
Arbeit erscheint – und sich später herausstellt, dass er abgeschoben wurde. | |
Denn ein Arbeitsvertrag allein reicht nicht aus, um vor Abschiebung zu | |
schützen. Für die 2019 von der Großen Koalition eingeführte | |
Beschäftigungsduldung etwa müssen Menschen eine ganze Reihe von Kriterien | |
erfüllen: Sie müssen etwa vor August 2018 eingereist sein und nachweisen, | |
dass sie in den vergangenen 18 Monaten mindestens 35 Stunden die Woche | |
gearbeitet haben. Auch dann haben sie noch keinen dauerhaften | |
Aufenthaltstitel. | |
Genau da wolle die Bundesregierung ansetzen, erklärt Michael Kellner | |
(Grüne), Parlamentarischer Staatssekretär im Wirtschaftsministerium beim | |
Pressegespräch. Aktuell gebe es rechtliche Rahmenbedingungen, die einer | |
gelingenden Integration entgegenstünden. | |
Der Koalitionsvertrag zwischen SPD, Grünen und FDP sieht verschiedene | |
Maßnahmen vor, um das zu ändern. Duldungen sollen zwar nicht abgeschafft | |
werden. Aber man wolle „großzügiger werden“, so Kellner. Die Ampel will | |
unter anderem die Anforderungen für die Beschäftigungsduldung senken, | |
Arbeitsverbote für bereits in Deutschland Lebende abschaffen, | |
Integrationskurse von Anfang an öffnen und mit einem sogenannten | |
Chancenaufenthaltsrecht gut integrierten Geduldteten eine einjährige | |
Aufenthaltserlaubnis „auf Probe“ ermöglichen. Alles Punkte, die die | |
Menschenrechtsorganisation [6][Pro Asyl] als „wichtige Verbesserungen“ | |
bezeichnet. | |
## Ungleichheit vermeiden | |
Bloß umgesetzt ist davon bisher nichts, obwohl es im Koalitionsvertrag etwa | |
beim Chancenaufenthaltsrecht heißt, dass dieses für Menschen gelten soll, | |
die am 1. Januar 2022 alle nötigen Voraussetzungen erfüllen. Kein Wunder, | |
dass mitunter der Eindruck entsteht, hier würden Geflüchtete aus einem Land | |
nahe der EU über jene gestellt, die aus dem Nahen Osten oder aus | |
afrikanischen Ländern fliehen. „Es darf [7][keine Geflüchteten erster und | |
zweiter Klasse] geben“, kritisierte etwa Pro Asyl im April. | |
Ein Eindruck, den Michael Kellner nicht aufkommen lassen will: Bei allem, | |
was derzeit für die Ukraine geleistet werde, sei es ihm ein Anliegen, „dass | |
wir die, die nach 2015 gekommen sind, nicht vergessen“, sagt er. Erste | |
Vorhaben des Koalitionsvertrags sollen im Herbst umgesetzt werden. | |
Dass Menschen aus der Ukraine schnelle Aufnahme und Teilhabe am | |
Arbeitsmarkt ermöglicht werde, sei gut, sagt der SPD-Bundestagsabgeordnete | |
Hakan Demir. „Klar ist: Ich will keine Ungleichheit.“ Es sei widrigsinnig, | |
dass Tausende nicht hier arbeiten dürften, und dass Menschen abgeschoben | |
würden, obwohl „viele von ihnen ein fester Bestandteil dieses Landes | |
geworden sind“. Für Demir steht deswegen fest: „Wir sollten rechtliche | |
Änderungen noch vor dem Herbst vornehmen.“ | |
Marina Vashenko arbeitet derzeit als Rezeptionistin von 14.30 bis 23 Uhr, | |
vormittags besucht sie Deutschkurse. Das wird aber nicht lange so bleiben: | |
„Wenn der Krieg vorbei ist und ich meine Familie in die Ukraine | |
zurückgebracht habe, ist Spanien mein nächstes Ziel“, sagt sie. Derzeit | |
bleibe sie nur ihrer Großmutter zuliebe in Köln. | |
Die Ampelregierung sollte sich also rasch etwas einfallen lassen, um sie | |
und andere Fachkräfte zu halten, egal aus welchem Land. | |
24 May 2022 | |
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## AUTOREN | |
Dinah Riese | |
Shoko Bethke | |
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