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# taz.de -- Im Kolonialismus geraubte Körperteile: Wem gehört der Schädel?
> Gerhard Ziegenfuß hat einen Totenkopf aus Deutsch-Südwestafrika geerbt.
> Er will ihn zurückgeben. Aber das ist gar nicht so einfach.
Bild: Über den Großonkel, ein Missionar, kam der Schädel in die Familie Zieg…
Ennigerloh/Dingelstädt/Berlin taz | Das Geheimnis der Familie Ziegenfuß
wiegt 900 Gramm und lagert in einem DHL-Paket, adressiert an die Botschaft
der Republik Namibia, Berlin. Ein nachgedunkelter Menschenschädel mit
tiefen Augenhöhlen, Unterkiefer und Zähne fehlen, das rechte Jochbein ist
abgebrochen, die Schädelnähte sind noch deutlich erkennbar.
Gerhard Ziegenfuß zögert, als er den Karton auf der Terrasse öffnet. Der
pensionierte Biologielehrer hat sich ein Leben lang mit Skeletten
beschäftigt, doch den Schädel will er nur ungern anfassen, als fürchte er,
die Totenruhe zu stören. Behutsam nimmt er den Schädel schließlich hoch und
hält ihn wie etwas sehr Zerbrechliches. Da steht Ziegenfuß nun in seinem
Rosengarten im Münsterland, ein schmächtiger 77-Jähriger mit geradem
Schnurrbart, Brille und Sportschuhen, das Karohemd in die Jeans gesteckt.
Mit der Vergangenheit in seinen Händen will er seit fast zehn Jahren
abschließen – und wird doch immer auf sie zurückgeworfen.
Denn der Schädel ist nicht nur ein dunkler Fleck in der Ziegenfuß’schen
Familiengeschichte. Er ist Teil eines dunklen Kapitels der deutschen
Geschichte, das immer noch nicht aufgearbeitet ist. In
Deutsch-Südwestafrika, dem heutigen Namibia, schlug die Kolonialtruppe den
antikolonialen Widerstandskampf der Herero und Nama in den Jahren 1904 bis
1908 gnadenlos nieder. Es war der erste Völkermord des 20. Jahrhunderts.
Schätzungsweise 80.000 Herero und 10.000 Nama starben in der Region
Omaheke, auch Sandfeld genannt, oder in den Konzentrationslagern.
Militärärzte trennten die Köpfe der Leichen ab und schickten sie als
Forschungsobjekte für rassenanthropologische Untersuchungen nach
Deutschland.
Vertreter von Herero und Nama haben im Jahr 2017 vor dem
Bundesbezirksgericht in New York eine Sammelklage gegen die deutsche
Bundesregierung eingereicht. Sie fordern unter anderem
Entschädigungszahlungen. Auch andere ehemalige Kolonialmächte schauen auf
diesen Prozess. Sollten die Herero und Nama Erfolg haben, könnte das
weitere Klagen nach sich ziehen. Ende Januar vertagte das Gericht eine
Anhörung zu der Frage, ob die Klage überhaupt zulässig ist. Am 3. Mai soll
es weitergehen.
## Leopardenfell mit Kopf
Im Elternhaus von Gerhard Ziegenfuß gibt es eine Familienlegende: Der
Großonkel von Ziegenfuß geht im Jahr 1900 als Missionar in die damalige
Kolonie Deutsch-Südwestafrika, um die Menschen dort zum Christentum zu
bekehren. Pater Alois Ziegenfuß ist im Eichsfeld, einer katholischen
Enklave im protestantischen Thüringen, ein hoch angesehener Mann und der
ganze Stolz der Familie. Als der Kolonialkrieg ausbricht, wird er als
Feldgeistlicher eingezogen und betreut die Truppe als Seelsorger. Der
Schädel, so geht die Familienlegende, soll einem Häuptling gehört haben und
dem Pater Alois Ziegenfuß von einem bekehrten Stamm als Geschenk übergeben
worden sein. Der soll ihn zusammen mit Tiergebeinen in eine Kiste gepackt
und seiner Familie in Thüringen geschickt haben.
Gerhard Ziegenfuß, Jahrgang 1940, wächst in einem Bauernhaus in Thüringen
auf, in dem schon sein Großonkel geboren ist. In der Diele liegt damals ein
Leopardenfell mit Kopf, in der Vitrine stehen zwei Elefantenfiguren aus
Ebenholz. In der Familie erzählt man sich abenteuerliche Geschichten über
die Jagdzüge des Onkels und den „Krieg gegen die Wilden“. Der Schädel ist
seit Jahrzehnten im Wohnzimmerschrank verstaut. Über ihn zu sprechen
vermeidet die Familie.
Bis sich im Jahr 1960 Gerhard Ziegenfuß, inzwischen Biologiestudent in
Münster, an den Totenkopf im elterlichen Wohnzimmerschrank erinnert. Im
Anatomiekurs an der Universität vermessen sie Schädel. Die anderen
Studenten belächeln Ziegenfuß wegen seines Plastikschädels, sie haben
echte. Kurz entschlossen fährt er zu seinem Elternhaus in der DDR. So
gelangt der Schädel über die deutsch-deutsche Grenze ins Münsterland, wo
Ziegenfuß noch heute lebt. Dort landet er nach dem Studium im Keller.
Ziegenfuß heiratet, wird Gymnasiallehrer und Vater von zwei Kinder. Den
Schädel vergisst er.
„Meine Mutter war erleichtert, als sie mir den Totenkopf gegeben hat“, sagt
Ziegenfuß heute. Die Verbrechen der Kolonialzeit seien in der DDR kein
Thema gewesen. „Da war die Geschichte mit den Weltkriegen, Stalin wurde
glorifiziert. Die hatten anderes zu tun.“
Im Jahr 1995 besucht Helmut Kohl als erster deutscher Kanzler seit 1908
Namibia. Ein Zusammentreffen mit Herero-Abgesandten meidet er. Die deutsche
Regierung bedauert das Geschehene, spricht aber nicht von Völkermord – mit
dem Hinweis, dass die UN-Völkermordkonvention von 1948 nicht rückwirkend
gelte.
Im selben Jahr entrümpelt Gerhard Ziegenfuß mit seiner Frau Friederike den
Keller. Über die Jahre als Biologielehrer hat Ziegenfuß eine Sammlung an
tierischen Knochen gehortet. Da liegt auch der Schädel. „Das kannst du
unseren Söhnen nicht antun, dass sie plötzlich diesen Schädel vererbt
kriegen“, sagt seine Frau. Der Schädel muss also weg.
Doch was tun damit? Der Vorschlag eines Kollegen, den Schädel in einer
Plastiktüte in der Straßenbahn zu vergessen, kommt für Ziegenfuß nicht
infrage. Er will ihn dorthin zurückbringen, wo er hergekommen ist. Einer
seiner Schüler plant eine Reise nach Namibia. Ziegenfuß will ihm den
Schädel mitgeben. Doch was wird der Zoll dazu sagen? Er lässt die Idee
fallen. So einfach kann er sich seines kolonialen Erbes nicht entledigen.
Zum hundertsten Jahrestag des Genozids an den Herero und Nama nimmt die
Bundesentwicklungsministerin Heidemarie Wieczorek-Zeul (SPD) im Jahr 2004
an einer Gedenkfeier am Waterberg in Namibia teil. „Die damaligen
Gräueltaten waren das, was heute als Völkermord bezeichnet würde“, sagt sie
anschließend in ihrer Rede und bittet um Vergebung. Es ist das erste Mal,
dass eine offizielle Vertreterin Deutschlands das Wort ausspricht. Doch die
Äußerung ist nicht abgesprochen. Die Bundesregierung zieht sich schnell auf
die alte Position zurück, spricht weiter von Gräueltaten, um
Entschädigungsforderungen zu vermeiden.
## „Der Schädel gehört nicht in dieses Haus“
Im Jahr 2008 tauchen in den anthropologischen Sammlungen der Universität
Freiburg Schädel aus Namibia auf, das Fernsehmagazin „Fakt“ berichtet
darüber. Zur selben Zeit wird bei Familie Ziegenfuß renoviert. Friederike
Ziegenfuß hat genug. „Der Schädel gehört nicht in dieses Haus“, sagt sie
ihrem Mann, „finde endlich eine Lösung“.
Gerhard Ziegenfuß ist inzwischen pensioniert, es gibt keine Ausreden mehr.
Er beschließt, sich der Sache zu widmen. Dass er bald mitten in die
diplomatischen Verwerfungen zwischen Deutschland und Namibia geraten würde,
mitten in den Konflikt über die schleppende Aufarbeitung der kolonialen
Verbrechen, ahnt Gerhard Ziegenfuß zu diesem Zeitpunkt nicht.
Zunächst versucht er, den Schädel über den offiziellen Weg an Namibia
zurückzugeben und wendet sich an die namibische Botschaft in Berlin.
E-Mail von der namibischen Botschaft am 25. August 2008: Sehr geehrter Herr
Ziegenfuß, herzlichen Dank, dass Sie diese wichtige Information mit uns
teilen, und ich kann Ihnen versichern, dass die Botschaft Sie in jeder
Hinsicht unterstützen wird.
E-Mail vom Auswärtigen Amt am 18. Mai 2009: Sehr geehrter Herr Ziegenfuß,
die namibische Botschaft hat Kontakt mit dem Auswärtigen Amt aufgenommen
und uns Ihre Schreiben an die Botschaft von August und September 2008
übermittelt. Sie schreiben darin, dass Sie im Nachlass Ihres Großonkels
einen Schädel vorgefunden haben, der aus Namibia stamme und den Sie gerne
dorthin zurückführen möchten. Dieses Anliegen möchten wir gerne
unterstützen.
Es gibt in Deutschland kein Gesetz, das die Rückgabe von geraubten
menschlichen Überresten regelt. Nachdem in anthropologischen Sammlungen von
Berlin über Dresden bis Freiburg Gebeine aus ehemaligen Kolonien gefunden
worden sind, fordern die Nachfahren diese aber zurück. Im Jahr 2010 startet
in Berlin das Charité Human Remains Project, das die Herkunft und den
Gewerbskontext der Knochen klären soll. Das ist in vielen Fällen schwierig:
Ohne historische Quellen ist eine Zuordnung zu einer Bevölkerungsgruppe
kaum möglich. Die Gebeine auf biologische Merkmale zu untersuchen, ist
zudem problematisch, da Wissenschaftler mit den Methoden und auf Grundlage
kolonialen Wissens arbeiten.
Im Jahr 2011 reist eine Delegation aus Namibia nach Berlin, um 20 Schädel
entgegenzunehmen. Es ist die erste Restitution namibischer Schädel in
Deutschland. Bei den Übergabefeierlichkeiten kommt es zum Eklat. Die
Staatsministerin im Auswärtigen Amt, Cornelia Pieper von der FDP, findet in
ihrer Rede viele Worte für das Geschehene, sie spricht von blutiger
Niederschlagung, Brutalitäten, Zwangsarbeit, Gräueltaten. Den Begriff
Genozid meidet sie. Als Pieper dem namibischen Volk „Versöhnung“ anbietet,
protestieren Aktivisten im Publikum lautstark, Pieper verlässt grußlos den
Saal.
Gerhard Ziegenfuß ist zu der offiziellen Übergabe in Berlin eingeladen,
doch er nimmt nicht teil. Seinen Schädel hat er im Jahr 2009 per Post an
einen Humanbiologen in Berlin geschickt, der den Ursprung untersuchen soll.
Um das Übrige, nimmt Ziegenfuß an, werden sich dann die namibische
Botschaft und das Auswärtige Amt kümmern. Er glaubt, die Vergangenheit los
zu sein.
Doch sie holt ihn wieder ein. An einem Tag kurz vor Weihnachten 2012
bekommt er ein Paket. Es ist der Schädel, versehen mit einer kurzen Notiz
des Humanbiologen, er habe keine Zeit gehabt, sich damit
auseinanderzusetzen. „Ich muss ehrlich sagen, wenn ich gewusst hätte, dass
in dem Paket der Schädel ist, hätte ich die Annahme verweigert“, sagt er.
Doch Ziegenfuß ist niemand, der schnell aufgibt. Er läuft Marathon, bringt
die Dinge vernünftig zu Ende. Dass er den Schädel einfach nicht loswird,
will er nicht hinnehmen. Jetzt erst recht nicht mehr.
Ziegenfuß schickt den Schädel erneut zur Klärung seiner Herkunft an die
Charité nach Berlin, und als er dort kein eindeutiges Ergebnis bekommt,
nach München zur Isotopen-Untersuchung und nach Münster zur DNA-Analyse.
Anfang März 2014 gibt Deutschland zum zweiten Mal Schädel an Namibia
zurück, der von Ziegenfuß ist nicht dabei.
## Reise nach Namibia
Weil sich auf offiziellem Weg nichts tut, beschließt er, den Schädel selbst
nach Namibia zu bringen.
E-Mail von Gerhard Ziegenfuß an die namibische Botschaft vom 18. März 2014:
Nächste Woche werde ich die Ergebnisse der Isotopen-Untersuchung des
Schädels, der sich über 100 Jahre in der Obhut meiner Familie befunden hat,
von der Uni München erhalten. Wenn der namibische Ursprung bestätigt wird,
plane ich nun eine persönliche Repatriierung und in dem Zusammenhang eine
Bestattung in Namibia. Bzgl. der vorgesehenen Repatriierung ergeben sich
ein paar Fragen: Brauche ich ein Dokument der namibischen Vertretung für
die Einreise bzw. die Kontrollen beim Einchecken für den Flug? Wer könnte
in Namibia Ansprechpartner für die geplante Bestattung sein?
E-Mail von der namibischen Botschaft vom 31. März 2014: Sehr geehrter Herr
Ziegenfuß, sollte der namibische Ursprung bestätigt werden, wäre es nicht
im Sinn der Sache, dass Sie den Schädel nach Namibia bringen, um ihn dort
zu bestatten. Auch wenn der Schädel nach hiesigen Regeln wohl in Ihrem
Eigentum ist, so sollte die Rückgabe, bzw. Rückführung in jedem Fall in
Einvernehmen mit der namibischen Regierung stattfinden, was ja auch in
Ihrem Sinn ist.
Befund des Instituts für Rechtsmedizin des Universitätsklinikums Münster
vom 21. Juli 2014: Die Ergebnisse der genetischen Analyse sind mit der
Annahme vereinbar, dass es sich bei dem untersuchten Schädel um den Schädel
eines Mannes aus dem Raum südlich der Sahara handelt, wahrscheinlich aus
dem westlichen oder zentralen Raum des südlichen Afrikas.
## „Wirf den Schädel in den Rhein“
Gerhard Ziegenfuß fährt trotzdem nach Namibia, ohne den Schädel. Er will
dort mit Vertretern der Herero und Nama sprechen und im Archiv des
Oblatenordens seines Großonkels nach Spuren suchen, die etwas über die
Identität des Toten verraten, zu dem der Schädel gehört. Doch die Reise ist
wenig erfolgreich. Die Oblatenbrüder lassen ihn nicht in ihr Archiv. Die
Herero und Nama wollen den Schädel nicht annehmen, wenn nicht geklärt ist,
welcher Ethnie er angehört. Ziegenfuß begreift, wie wenig er über die
Gefühle der Betroffenen weiß.
Der Sprecher der Ovaherero Genocide Foundation, Festus Muundjua, antwortet
auf die Frage, was Ziegenfuß mit dem Schädel tun solle: „Wenn die Regierung
ihn nicht haben will, wirf ihn in den Rhein.“ Aus seinen Worten spricht
Verbitterung. Vertreter der Herero haben die Bundesregierung aufgefordert,
den Völkermord offiziell anzuerkennen und die Nachfahren der Genozidopfer
förmlich um Entschuldigung zu bitten. Doch die Bundesregierung verhandelt
bis heute mit der namibischen Regierung, die Nachfahren der Opfer fühlen
sich ausgeschlossen.
Im Juni 2016 erkennt der Bundestag mit der Armenienresolution das türkische
Massaker an den Armeniern 1915 als Völkermord an. Über den Genozid in
Namibia kein Wort.
Im Januar 2017 reichen Vertreter der Herero und Nama in New York eine
Sammelklage gegen Deutschland ein. Die Bundesregierung hält den Prozess für
unzulässig und beruft sich auf den Grundsatz der Staatenimmunität: Das New
Yorker Gericht sei dafür nicht zuständig. Die jetzt lebende
Urenkelgeneration sei zudem nicht unmittelbar persönlich vom Völkermord
betroffen und habe daher keinen Anspruch auf Entschädigung, sagt Ruprecht
Polenz, der Sondervermittler in den Verhandlungen mit Namibia.
Gerhard Ziegenfuß sucht unterdessen weiter nach Hinweisen zum Schädel. Er
versucht herauszufinden, wie er zur Familie Ziegenfuß kam, klammert sich an
jede Spur. Die Vergangenheit füllt sein Arbeitszimmer mit Akten. Dabei, das
ist ihm wichtig, sind Gebeine nicht sein Hobby. Seine Leidenschaft gilt der
Kakteen- und Rosenzucht.
Den Schädel zurückzugeben, das war für ihn anfangs eine lästige Pflicht,
dann eine Herausforderung. Inzwischen weiß er so viel über die Verbrechen
der Kolonialzeit, dass der Schädel für ihn zum Symbol geworden ist: für
eine Schuld, die nicht gesühnt wurde. Das Verhalten Deutschlands findet er
unsäglich. „Bei uns ist die Auseinandersetzung mit der Kolonialgeschichte
an Peinlichkeit nicht zu überbieten, da könnte ich mich für schämen“, sagt
er. Je mehr er versucht, den Schädel würdevoll zurückzugeben, je
schwieriger die Restitution wird, desto mehr wird sie für ihn zur ethischen
Verpflichtung.
Brief vom Auswärtigen Amt und der namibischen Botschaft vom 7. Juli 2017:
Auf Bitten der namibischen Regierung planen wir jetzt nach 2011 und 2014
eine weitere Rückführung von Gebeinen, die voraussichtlich in der zweiten
Jahreshälfte stattfinden und die menschlichen Überreste einbeziehen soll,
deren Herkunft aus Namibia zweifelsfrei geklärt ist. […] Für Ihre
Zusammenarbeit danken wir Ihnen erneut sehr herzlich. Sie ist essentiell,
um dieses finstere Kapitel der Kolonialgeschichte aufzuarbeiten und den
Verstorbenen endlich eine letzte Ruhe in Würde zu ermöglichen.
Dieses Mal steht der Name von Gerhard Ziegenfuß auf der Liste der
angeschriebenen Institutionen. Klappt die Übergabe jetzt doch endlich?
## „Gefangene Eingeborene“
Ein Tag im Juli, der Ziegenfuß’sche Wohnzimmertisch ist übersät mit
Postkarten des Missionars. Siebzig sind erhalten geblieben, Herero sind
darauf zu sehen, mit Ketten um den Hals, ein Reiter in der Steppe.
Ziegenfuß hat die Karten nach Datum, Absendeort, Motiv und Adressat
geordnet. Ganz rechts hat er Stichwörter zum Inhalt der Karte notiert.
22.09.1900 Hamburg – Abreise nach Afrika, 07.10.1900 Kanarische Inseln –
„Es lebe Afrika!“, 1.11.1900 Swakopmund – Gefangene Eingeborene, dahinter
hat Ziegenfuß ein Ausrufezeichen gesetzt. 03.06.1908 Otawi, „Mutter bekommt
das 1. Tigerfell“.
Von einem Schädel ist nirgends die Rede. Nur in einer Postkarte aus dem
Jahr 1913 erkundigt sich Alois Ziegenfuß nach dem Erhalt der „Gehörne“. I…
das die Kiste mit den Tiertrophäen, in der auch der Totenkopf zur Familie
gelangte? Ziegenfuß glaubt nicht an die tradierte Familienerzählung.
„Welcher Stamm verschenkt Gebeine von Angehörigen?“, fragt er.
An einem schönen Oktobertag fährt Ziegenfuß mit dem Auto ins thüringische
Dingelstädt, seinen Geburtsort. Seine Schwester Agatha Kuchenbuch lebt noch
immer im Haus des Großonkels. Im benachbarten Heiligenstadt gibt es ein
Kreisarchiv, in dem sich Aufzeichnungen über den Missionar finden lassen
müssten. Ziegenfuß schaltet das Navigationssystem ein, das letzte Mal war
er vor eineinhalb Jahren zur Beerdigung seines Bruders hier.
„In meiner Familie bin ich der Exot“, sagt Gerhard Ziegenfuß auf der Fahrt.
Die Familie seiner Schwester verstehe nicht, warum er sich so für etwas
engagiere, was so lange her ist. Für weit entfernte Verwandte ist er ein
Nestbeschmutzer, weil er Dinge ausgräbt, die nicht ins Bild des guten
Missionars passen, nach dem in Windhuk sogar eine Straße benannt ist.
## Tiertrophäen entsorgt
Heute liegt kein Leopardenfell mehr im Elternhaus des Paters, nur ein
Gemälde der namibischen Steppe erinnert an ihn. Agatha Kuchenbuch, eine
Siebzigjährige mit aubergine gefärbtem Kurzhaarschnitt, tischt eine
Wurstplatte und Mett auf. Sie will mit dem Familienerbe nichts zu tun
haben. „Das geht mich doch gar nichts mehr an.“ Die Tiertrophäen hat sie
nach der Wende entsorgt.
„Jetzt sag mir mal: Wieso hat der einen Totenkopf mitgebracht?“, will sie
von ihrem Bruder wissen. Ziegenfuß kann ihr das nicht beantworten. Damals
habe es professionelle Schädelsammler gegeben, erklärt er, aber der
Missionar sei keiner gewesen. „Was hat der dann gemacht, der Pater?“, hakt
seine Schwester nach. „In seinen Tagebuchaufzeichnungen wird deutlich, dass
er völkisch-nationales Gedankengut hatte, was er da geschrieben hat, ist
menschenverachtend“, sagt er zögernd. Agatha Kuchenbuch nickt. „Manchmal
kann man sich einer Sache nicht entziehen. Wie in der DDR. Was willst’n
machen? Aus den Fängen kommst du nicht mehr raus.“
Aufzeichnungen von Pater Alois Ziegenfuß „Aus meinen Kriegerlebnissen“,
1906: Major von Estorff verfolgte unausgesetzt den flüchtenden Feind,
während wir von Oparakone über Eware, Otiunda (Sturmfeld), den eisernen
Ring schlossen und die Herero ihrem Schicksal überließen. […] Arme,
hungernde und ermattete Weiber und Kinder wurden ohne Wasser ins Sandfeld
zurückverwiesen. […] Unbemerkt ritten wir an das große Hererolager heran;
um ein mächtiges Feuer in der Mitte brannten in rabenschwarzer Nacht etwa
200 kleinere Feuerchen, an denen sich die schwarze Gesellschaft plaudernd
und lärmend zu schaffen machte. „Seitengewehre pflanzt auf“, erscholl das
Kommando, und auf Leben und Tod, in voller Karriere, ging es hinein „ins
volle Menschenleben“!
Gerhard Ziegenfuß sagt: „Wie er die Kampfhandlungen beschreibt … das tut
richtig weh zu lesen. Das passt überhaupt nicht, zumindest für einen
Theologen.“ Mittlerweile glaubt er, dass sein Großonkel den Schädel gar
nicht selbst nach Deutschland geschickt hat. Nur so kann er diesen
Widerspruch auflösen. Es könnte ja sein, dass Soldaten den Schädel in die
Kiste gepackt haben. Aber warum hätten sie das tun sollen? Ziegenfuß zuckt
mit den Schultern. „Vielleicht war’s nur Jux. Oder um ihn zu überraschen.�…
Überzeugt klingt er nicht.
Früh am nächsten Morgen macht sich Ziegenfuß, der jeden Tag um fünf Uhr
aufsteht, mit seinem Aktenkoffer auf den Weg ins Kreisarchiv von
Heiligenstadt. Er erhofft sich eine Spur in den Zeitungen. Alois Ziegenfuß
wurde im Eichsfeld verehrt, er veröffentlichte Reiseberichte und
Pfingstgrüße in der Heimatzeitung. Im Lesesaal steht Ziegenfuß gebeugt über
einer Ausgabe der Eichsfelder Volkszeitung vom Januar 1923. Er blättert die
steifen, vergilbten Seiten um, sein Blick streift von oben nach unten.
Plötzlich schlägt er auf den Zeitungsband und ruft: „Bingo! Ich wusste
doch, dass wir was finden!“ Ein Reisebericht des Missionars. Aber vom
Schädel – wieder kein Wort.
Auch Wissenschaftler haben nicht mehr über den Schädel von Gerhard
Ziegenfuß herausfinden können. Der Historiker Holger Stoecker hat im Human
Remains Project der Charité die historische Quellenlage untersucht. Dass
Missionare in das koloniale Projekt eingebunden waren, ist laut Stoecker
belegt. „Es gibt in der Geschichte einige Beispiele dafür, dass Missionare
sich am Schädelsammeln beteiligt haben“, sagt er. Dass Alois Ziegenfuß dazu
gehörte, lasse sich aus den Zeitdokumenten nicht rekonstruieren. „Aber die
Hemmschwelle war damals deutlich herabgesetzt, und er hatte die Möglichkeit
dazu.“
Historisch ist es zumindest denkbar, dass der Pater den Schädel auf dem
Feld gefunden oder von der kaiserlichen Schutztruppe überreicht bekommen
hat. Doch auch Stoecker sagt: Im Fall Ziegenfuß bleiben viele Fragen offen.
## KZ auf der Haifischinsel
Ein kalter Januarabend im Café Fredericks in Berlin-Wedding, dem Stammcafé
der Aktivisten des Bündnisses „Völkermord verjährt nicht“. Die
Lüderitzstraße, in der es liegt, ist benannt nach einem deutschen Kaufmann,
der die Nama um ihr Land betrog. Es gab Proteste, nun soll die Straße einen
neuen Namen bekommen. Auch das Café selbst hieß früher nach Lüderitz, heute
erinnert es an Cornelius Fredericks, einen Widerstandskämpfer der Nama, der
im Konzentrationslager auf der Haifischinsel ums Leben kam.
Im Kleinen tut sich doch etwas im Umgang mit der kolonialen Geschichte.
Auch dank Israel Kaunatjike, dem einzigen Herero-Aktivisten in Berlin.
Inmitten seiner Mitstreiter sitzt er im Café. Er war im Jahr 2004 der
Erste, der gefordert hat, namibische Schädel aus anthropologischen
Sammlungen zu restituieren. Zum Fall Ziegenfuß sagt er: „Wenn man nicht
identifizieren kann, ob der Schädel von den Herero oder von den Nama ist,
kann man damit nicht viel anfangen. Wir können ihn nicht annehmen.“
Ziegenfuß tut Kaunatjike leid. „Er gibt sich seit Jahren Mühe und wird
ignoriert. Diesen Mann so im Stich zu lassen, finde ich nicht gut“, sagt
er.
„Was sind zehn Jahre im Vergleich zu den hundert Jahren, die er den Schädel
hat?“, wirft Esther Muinjangue ein. Die Vorsitzende der Ovaherero Genocide
Foundation ist aus Namibia angereist. „Er kann warten, bis die Regierung
sagt, jetzt ist es an der Zeit, den Schädel zu restituieren.“
## Lost in Restitution
Für Muinjangue haben die Schädel eine wichtige Funktion in der Debatte. Sie
erinnern die Deutschen an den Genozid. „Wir wissen, dass sie ihn leugnen
wollen“, sagt sie. „Aber jedes Mal, wenn die Schädel an die Öffentlichkeit
kommen, haben sie den Beweis.“
Seit neun Jahren versucht Gerhard Ziegenfuß nun schon, den Schädel
zurückzugeben. Er sei „lost in restitution“, sagt er halb ironisch, halb
verzweifelt. Von der im Juli angekündigten Rückführung weiterer Schädel hat
er nichts mehr gehört. Das Auswärtige Amt antwortet auf Nachfrage der taz
nur, die Bundesregierung führe mit der namibischen Regierung „Gespräche
über eine zukunftsgerichtete Aufarbeitung der gemeinsamen
Kolonialvergangenheit“. Die namibische Botschaft ist auch nach wiederholten
Anfragen nicht erreichbar.
Ziegenfuß hat sich inzwischen einen anderen Weg überlegt, wie der Schädel
zur letzten Ruhe kommen kann. Zufrieden ist er damit nicht, aber es wäre
zumindest versöhnlich. Sollte es in absehbarer Zeit nicht mit der Rückgabe
klappen, dann nimmt Gerhard Ziegenfuß den Schädel mit in sein Grab.
4 Feb 2018
## AUTOREN
Elisabeth Kimmerle
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Lesestück Recherche und Reportage
Deutscher Kolonialismus
Schwerpunkt Völkermord an den Herero und Nama
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Klage
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