# taz.de -- Koloniales Erbe in Namibia: Das Land der Ahnen | |
> Vor über 100 Jahren nahmen deutsche Kolonialherren Einheimischen in | |
> Namibia den Boden weg. Bis heute spaltet die Landfrage die Gesellschaft. | |
Bild: Die Kargheit des Landes macht es Farmern in Namibia sehr schwer | |
WINDHOEK taz | Auf der Farm Düsternbrook steht in der Mittagshitze alles | |
still, nur die Bettlaken auf der Wäscheleine bläht der Wind. Von Weitem | |
sind Schreie von Pavianen zu hören. Das Farmhaus liegt auf einer Anhöhe am | |
Rand des Khomashochlands, nordwestlich von Windhoek. Johann Vaatz, Ende 60, | |
steht in T-Shirt und Khakishorts auf der Terrasse seiner Farm und blickt | |
über das trockene Flussbett und die Savanne. | |
Vaatz lebt von Übernachtungstourismus und Safaris. Nach Düsternbrook kommen | |
Gäste aus Europa, um Zebras, Giraffen und Leoparden zu sehen. Oder um Tiere | |
zu schießen, ein Pavian kostet 50 Euro, eine Kudu-Antilope 1.200. Die | |
Trophäenjagd macht aber nur einen Bruchteil des Geschäfts aus. Zum Konzept | |
der Gästefarm gehört es, dass die Touristen den Farmalltag in Namibia | |
erleben und beim Abendessen den Geschichten des Farmers über die Dürre und | |
die Weite des Landes zuhören. Und Johann Vaatz erzählt gern. | |
An der Rezeption der Gästefarm steht eine Trinkgeldkasse. Alles, was die | |
Gäste dort hineinwerfen, verteilt Vaatz an seine 18 Angestellten. Am | |
meisten bekommen die Frauen, die in der Wäscherei oder anderswo arbeiten, | |
wo die Touristen sie nicht sehen. Am wenigsten bekommen die Guides, denen | |
die Touristen nach der Safari ohnehin einen Zehner in die Hand drücken. | |
„100 Prozent Gerechtigkeit schafft man nie, aber ich versuche das | |
auszugleichen“, sagt Vaatz. Im Kleinen funktioniert das. | |
Im Großen ringt Namibia mit der Frage, was Gerechtigkeit heißt – und wie | |
man historisches Unrecht wiedergutmachen kann. Konkret geht es darum, wie | |
man enteignetes Land gerecht umverteilt und Menschen für ihren Verlust | |
entschädigt. Knapp 30 Jahre nach der Unabhängigkeit und [1][mehr als 100 | |
Jahre nach der Kolonialzeit], in der die Kolonialherren sich Land | |
aneigneten, auf dem seit Jahrhunderten Menschen ohne Eigentumsurkunde | |
gelebt hatten, hat die Landfrage nichts von ihrer Sprengkraft verloren. | |
Kann es eine Lösung für ein Unrecht geben, das so lang zurückliegt? | |
Als Namibia 1990 nach 30 Jahren des deutschen Kolonialismus und 75 Jahren | |
südafrikanischen Apartheidregimes unabhängig wurde, beschloss die | |
Swapo-Regierung, das von Weißen enteignete Land mit einer Landreform an | |
schwarze Namibier umzuverteilen. Doch die Landreform ging nur sehr langsam | |
voran: Laut einer Erhebung der Namibia Statistics Agency von 2018 sind bis | |
heute 70 Prozent des kommerziellen Farmlands im Besitz weißer Farmer, die | |
nur eine kleine Minderheit der namibischen Bevölkerung ausmachen. | |
Von seinem Vater hat Johann Vaatz gelernt, dass man im Leben alles | |
verlieren kann – sein Land, sein Zuhause, alles, was man sich aufgebaut | |
hat. Als seine Eltern in den 1940er Jahren eine Farm in Namibia kauften, | |
hatte seine Familie schon eine Landreform hinter sich. Bei der | |
[2][Oktoberrevolution 1917] enteigneten Kommunisten die Familie seines | |
Vaters – Schwarzmeerdeutsche, die seit mehreren Generationen in der Ukraine | |
Landwirtschaft betrieben hatten. Der Grundbesitz wurde in Kolchosen | |
aufgeteilt. Es kam es zu einer Hungersnot, bei der Millionen Menschen | |
sterben. | |
Die Farm Düsternbrook, rund 45 Autominuten von Windhoek entfernt, kauften | |
Johann Vaatz’ Eltern während des Zweiten Weltkriegs. Als Sicherheit. Sie | |
hatten Angst, die südafrikanische Verwaltung könnte ihr Geld auf der Bank | |
einfrieren. Vaatz’ Vater wurde vom südafrikanischen Regime wie viele andere | |
deutschstämmige Namibier interniert und kehrte erst nach sechs Jahren aus | |
dem Lager zurück. In den 1960er Jahren bauten sie auf Düsternbrook die | |
erste Gäste- und Jagdfarm Namibias auf. Johann Vaatz wurde hier geboren und | |
ist während der Apartheid mit den Kindern der Farmarbeiter aufgewachsen. | |
„Es war mehr wie eine Großfamilie“, sagt er. „Nur haben die Arbeiter eben | |
da oben gewohnt und wir hier.“ | |
Fast sein gesamtes Leben hat er auf Düsternbrook verbracht, und auf einer | |
Farm heißt das: sieben Tage die Woche schuften, vom Morgengrauen bis nach | |
Sonnenuntergang, die Wasserstellen kontrollieren, auf Regen hoffen. | |
Im Oktober 2018 kündigte der namibische Präsident Hage Geingob an, vermehrt | |
weiße Landbesitzer zu enteignen. Die namibische Verfassung ermöglicht | |
Enteignungen mit gerechter Entschädigung. Am 27. November werden der | |
Präsident und das Parlament neu gewählt, und vor diesen Wahlen stellen | |
einige mit Vehemenz die Frage, ob nun nicht zurückgeholt werden muss, was | |
zu Kolonialzeiten gestohlen wurde. Notfalls ohne Entschädigung. | |
Vor einer Enteignung habe er keine Angst, sagt Vaatz. „Ich bin namibischer | |
Bürger, warum sollte ich Angst haben? Ich gehöre zu diesem Land. Warum | |
sollte ich enteignet werden? Nur weil ich weiß bin? Das wäre ja | |
rassistisch.“ Er halte grundsätzlich nicht viel von Umverteilung. „Mir | |
fehlen da die Erfolgsgeschichten. Deswegen frage ich mich: Was wird | |
gewonnen? Befriedigt man nur eine ideologische Gerechtigkeit, oder ist das | |
Endziel, dass es der Bevölkerung besser geht?“ Auf die Frage, was für ihn | |
Gerechtigkeit bedeute, denkt er einen Moment nach. Dann sagt er: „Die | |
Gesetze eines Landes müssen gerecht sein, aber man kann darüber hinaus | |
nicht eine künstliche Gerechtigkeit für eine Kolonialzeit schaffen, die 100 | |
Jahre her ist.“ | |
Johann Vaatz’ Familie hatte Düsternbrook erst nach der Kolonialzeit von | |
einem deutschen Kapitänleutnant gekauft. Der wiederum hatte das Land 1908 | |
von der deutschen Kolonialverwaltung erworben. Die Farm liegt im Ahnenland | |
der Ovaherero und Damara, das Land hatte sich wohl die deutsche | |
Kolonialverwaltung angeeignet. | |
Im Nationalarchiv in Windhoek liegen die Dokumente zum Landerwerb, jede | |
Farm hat hier ihre eigene Akte. Der Akte Düsternbrook sind ein Kaufvertrag | |
mit Siegel und Stempel und eine Skizze des Grundstücks beigeheftet. Im | |
Kaufvertrag heißt es: „Das Kaiserliche Distriktsamt Okahandja verkauft und | |
übergibt vorbehaltlich der Genehmigung des Kaiserlichen Gouvernements an | |
den Farmer Robert Matthiessen die auf anliegender Skizze näher bezeichnete | |
(…) Farm mit einem Flächeninhalt von ungefähr 5.000 Hektar.“ Der Kaufpreis | |
betrug damals 1 Mark und 20 Pfennig pro Hektar, insgesamt 6.000 Mark. | |
Zwischen den blauen Aktendeckeln findet sich auch ein mit Schreibmaschine | |
getippter Brief von 1921, in dem der Kapitänleutnant den Kaiserlichen | |
Gouverneur um Landzukauf bittet. Da seine Farm ausschließlich aus bergigem | |
Gelände bestehe, sei Landwirtschaft nur mit zusätzlichem Farmland | |
wirtschaftlich. „Ich empfinde jedenfalls ein dringendes | |
Ausdehnungsbedürfnis. Diese Ausdehnung ist nicht Marotte, sondern | |
Lebensfrage für mich und meine Familie!“ | |
Die Geschichte Namibias ist geprägt von Verdrängung und Aneignung. Als 1884 | |
die Deutschen kamen und die Kolonie Deutsch-Südwestafrika gründeten, zogen | |
sie als Erstes Grenzen. Zuvor hatte es keinen Privatbesitz gegeben, Land | |
war Ahnenland, auf dem die ethnischen Gruppen kollektiv lebten. Schon vor | |
der Kolonialzeit hatten die Gruppen der Damara und San Land verloren, weil | |
sie von den Ovaherero verdrängt worden waren. Doch die Grenzen der Gebiete | |
waren durchlässig, weil die nomadischen Gruppen mit dem Regen zogen. Nun | |
wurden die Ovaherero, Nama, Damara und San immer weiter verdrängt. | |
Mutjinde Katjiua pinnt die Nachdrucke zweier alter Landkarten an die Wand | |
seines Unibüros. Der Professor in kariertem Kurzarmhemd mit Brille und | |
Schnurrbart ist Ovaherero. Er leitet die Abteilung für Land- und | |
Eigentumsstudien an der Namibia University for Science and Technology und | |
ist Generalsekretär der Ovaherero Traditional Authority. „Das Ahnenland zu | |
verlieren bedeutete für die enteigneten Gruppen, dass sie die Verbindung zu | |
ihren Vorfahren verloren haben“, sagt er. „Mit der Landenteignung haben sie | |
ihr Vieh und die Rechte an Ressourcen wie Bergbau und Fischereigründen | |
verloren, was ihre Armut bis heute fortsetzt.“ | |
Auf einer der beiden Karten, der „Völkerkarte von Deutsch-Südwestafrika vor | |
den Aufständen 1904–1905“, sind die ehemaligen Gebiete der verschiedenen | |
ethnischen Gruppen eingezeichnet. Mit dieser Landkarte lässt sich erahnen, | |
wie es in Namibia aussah, bevor die deutsche Kolonialverwaltung nach dem | |
Genozid neue Grenzen zog. | |
Mit dem Aufstand der Ovaherero 1904, bei dem um die hundert weiße Siedler | |
getötet wurden, und dem Aufstand der Nama 1905 begann ihr Kampf um das | |
verlorene Land. Der Vernichtungsbefehl des Generalleutnants Lothar von | |
Trotha war der Ausgangspunkt für das, was heute als [3][der erste | |
Völkermord des 20. Jahrhunderts] gilt. Schätzungsweise 80.000 Ovaherero und | |
20.000 Nama starben bis 1908 in der Wüste oder in Konzentrationslagern. | |
Diejenigen, die überlebten, wurden per Anordnung der Kolonialverwaltung | |
enteignet. Diese parzellierte das Land und verkaufte es an deutsche | |
Siedler. Die Enteignungen gaben nicht nur den weißen Siedlern Land, sie | |
zwangen auch die schwarzen Namibier aus der Selbstständigkeit in die | |
Lohnarbeit. Und sie schufen eine soziale Struktur, die sich bis heute kaum | |
geändert hat. Ovaherero und Nama sind im heutigen Namibia marginalisierte | |
Minderheiten. | |
In den 1960er Jahren wurden schwarze Namibier ein weiteres Mal von ihren | |
Wohnorten vertrieben. Um die schwarze Bevölkerungsmehrheit zu spalten und | |
die weiße Vormachtstellung zu sichern, gründete die südafrikanische | |
Verwaltung für jede ethnische Gruppe eigene Homelands. Dieses Mal betraf | |
die Vertreibung alle schwarzen Namibier. | |
Für Mutjinde Katjiua ist die Landfrage weder kompliziert noch sensibel: Die | |
enteigneten Bevölkerungsgruppen der Ovaherero, Nama, Damara und San müssen | |
bei der Umverteilung Vorrang haben. Mit Nachdruck zeichnet er auf einem | |
Blatt Linien, um das Gesagte zu veranschaulichen. „Die Mehrheit in der | |
Regierung ist vom Genozid und der Enteignung nicht betroffen“, sagt er. | |
Deshalb habe die Regierung bisher nicht anerkannt, dass es einen Völkermord | |
und Enteignungen gegeben hat. | |
Seit 2015 verhandeln die deutsche und die namibische Regierung über die | |
Aufarbeitung des Genozids. Weil sie sich von den Verhandlungen | |
ausgeschlossen und von der eigenen Regierung nicht ausreichend vertreten | |
fühlten, haben Opferverbände im Januar 2017 in New York eine | |
[4][Sammelklage gegen Deutschland] eingereicht. Sie fordern die offizielle | |
Anerkennung des Geschehens als Genozid, eine Entschuldigung und | |
Wiedergutmachung. Die Klage liegt in New York inzwischen beim | |
Berufungsgericht. | |
Nach jahrzehntelangem Kampf schwindet unter den Nachkommen der Ovaherero | |
und Nama aber die Geduld. „Wir sind sehr friedlich und geduldig, aber wenn | |
alle friedlichen Wege vergebens sind, werden wir zu unserem Land | |
zurückkehren“, sagt Mutjinde Katjiua ruhig. Es klingt nüchtern wie eine | |
Feststellung. „Wenn alle rechtlichen und diplomatischen Prozesse scheitern, | |
werden wir auf Selbstbefreiung zurückgreifen, und die deutschen Farmer, die | |
auf unserem Land sitzen, werden packen und gehen müssen. Ist es das, was | |
wir wollen?“ | |
Auf der ersten nationalen Landkonferenz 1991 wurde eine Weiche gestellt, | |
was zur Frustration vieler Ovaherero und Nama beitrug, die darauf hofften, | |
dass das historische Unrecht nun wiedergutgemacht würde. In der Resolution | |
hieß es, Ansprüche auf Ahnenland könnten nicht berücksichtigt werden, da | |
aus überlappenden Gebietsansprüchen verschiedener ethnischer Gruppen zu | |
viele Konflikte entstünden. Das traf vor allem die Bevölkerungsgruppen, die | |
am stärksten unter den Enteignungen gelitten hatten. | |
Denn nicht alle ethnischen Gruppen in Namibia haben in der Kolonialzeit | |
Land verloren. Die Oshivambo sprechenden Gruppen aus dem Norden Namibias, | |
die heute die Mehrheit der Bevölkerung stellen, waren nicht von den | |
Enteignungen betroffen. 1991 kurz nach der Unabhängigkeit die Ansprüche auf | |
das Ahnenland nicht zu berücksichtigen war aber ein politischer Beschluss: | |
Die neu gegründete Republik konnte es sich nach Jahrzehnten der Segregation | |
nicht leisten, auf Partikularinteressen einzugehen, die eine noch | |
zerbrechliche Einheit hätten gefährden können. | |
Dass das Land ihrer Ahnen dadurch auch an schwarze Namibier umverteilt | |
wurde, die kein Land verloren hatten, war für die Ovaherero und Nama eine | |
weitere Enttäuschung. Viele Farmen gingen außerdem an die schwarze Elite, | |
die sich seit der Unabhängigkeit herausgebildet hatte. Deshalb ist die | |
Landreform inzwischen auch zu einer Klassenfrage geworden. | |
Es dauerte 27 Jahre bis zu einer zweiten nationalen Landkonferenz. Im | |
Oktober 2018 beschäftigte sich die Regierung auf Druck der betroffenen | |
Gruppen und zivilgesellschaftlichen Organisationen zum ersten Mal auch mit | |
der Frage des Ahnenlands. | |
Uhuru Dempers sitzt in der Deja Vu Cafeteria an der Independence Avenue. | |
Die Kantine im Zentrum Windhoeks ist um die Mittagszeit belebt, hier | |
treffen sich viele Angestellte in ihrer Pause. Immer wieder grüßt jemand | |
den Landaktivisten im Vorbeigehen. Er ist gut vernetzt, seit den frühen | |
Neunzigern beschäftigt er sich mit der Landreform. | |
Die letzten Monate, sagt Dempers, seien herausfordernd gewesen. Er meint | |
seine Arbeit in einer 15-köpfigen Kommission: Die Ancestral Land Commission | |
soll nichts Geringeres leisten, als die kolonial gezogenen Grenzen | |
innerhalb Namibias neu zu vermessen und eine Kartografie des vorkolonialen | |
Ahnenlands zu entwerfen. Die Kommission wurde vom namibischen Präsidenten | |
eingesetzt, um ein Jahr lang zu untersuchen, wo schwarze Namibier im | |
Kolonialismus Ahnenland verloren haben und welche Ansprüche sich daraus | |
ergeben. | |
Uhuru Dempers sagt gern: „Wir als Zivilgesellschaft“, wenn er von seiner | |
Arbeit spricht. Er ist ein pragmatischer Idealist, bereit, Kompromisse | |
auszuhandeln. Zwei Jahre lang ist er vor der zweiten Landkonferenz durchs | |
Land gefahren, hat Menschen zur Landreform befragt und nachts im Auto | |
geschlafen. | |
Das hat ihm Respekt verschafft. Und es hat dazu geführt, dass Dempers | |
zwischen die Fronten geraten ist. Denn manche traditionellen Autoritäten | |
der Ovaherero und Nama boykottierten die zweite Landkonferenz, weil sie | |
sich nicht einbezogen fühlten. Sie kritisierten die Ancestral Land | |
Commission als Wahlkampfgimmick. „Ich wurde sogar Verräter genannt“, sagt | |
Dempers, dessen eigene Vorfahren Ovaherero, Nama und Damara sind. Es ist | |
ihm anzusehen, dass ihn das schmerzt. „Ich sehe die Arbeit in der | |
Kommission nur als eine weitere Seite des Kampfes, als eine weitere | |
Strategie, um das zu erreichen, wofür wir gekämpft haben.“ | |
Zwei Monate ist Dempers dann auch mit der Kommission durch Namibia gereist | |
und hat auf öffentlichen Sitzungen Menschen zugehört, deren Vorfahren im | |
Kolonialismus enteignet wurden. Die Nachfrage sei überwältigend gewesen. | |
„Es gab Menschen, die uns gesagt haben, sie hätten ihr ganzes Leben auf | |
diese Kommission gewartet.“ Dass sich die Regierung damit auseinandersetzt, | |
wie Menschen für den Verlust ihres Ahnenlandes entschädigt werden, hält | |
Dempers für überfällig. „Es ist das erste Mal, dass wir Namibier so über | |
unsere Geschichte und den Verlust unseres Landes sprechen.“ | |
Dieses Sprechen hat auch alte Wunden aufgerissen, die nie richtig verheilt | |
sind. Öfter mussten die Sitzungen unterbrochen werden, weil die Emotionen | |
hochkochten. Manche kamen nur, um einmal öffentlich ihre Geschichte | |
erzählen zu können. Sie berichteten, ihr Urgroßvater sei auf der Farm, auf | |
der er arbeitete, vom Farmbesitzer umgebracht worden, andere, ihre | |
Großmutter sei von Soldaten vergewaltigt worden. Eine alte Frau sagte zu | |
Dempers: „Ich bin so froh, dass ich darüber sprechen konnte, ich habe das | |
so lang mit mir herumgetragen.“ | |
Die Journalistin Erika von Wietersheim ist bereits 2008 der Frage | |
nachgegangen, warum die Landreform für viele Namibier ein so emotionales | |
Thema ist. Für die Recherche zu ihrem Buch „This Is My Land“ reiste sie | |
5.000 Kilometer durchs Land und interviewte weiße und schwarze Farmer, | |
Farmarbeiter und Landminister. Als Treffpunkt hat von Wietersheim das Café | |
im Hinterhof des Goethe-Instituts in Windhoek vorgeschlagen, das Hupen der | |
allgegenwärtigen Sammeltaxis ist hier nur schwach zu hören. „In Namibia | |
Farmer zu sein, egal ob weiß oder schwarz, ist ein hartes Geschäft“, sagt | |
sie. „Man muss so viel aufbauen und mit Mühe erhalten, seien es Zäune, | |
Wasserstellen oder Wasserpumpen, und immer wieder Dürreperioden überstehen | |
mit neuen Ideen und finanziellen Opfern. Deshalb ist jeder Farmer, der | |
länger auf einer Farm lebt, sehr eng mit seinem Land verbunden.“ | |
Auch diejenigen, deren Vorfahren Farmen auf dem enteigneten Land der | |
Ovaherero und Nama gekauft haben, betrachten das Land nach vier | |
Generationen längst als eine Art Ahnenland. | |
Erika von Wietersheim weiß, wovon sie spricht: 20 Jahre lebte und arbeitete | |
sie selbst auf einer Farm im Süden Namibias. Als sie nach dem Studium mit | |
ihrem Mann auf die Farm der Schwiegereltern zog, lebte sie zum ersten Mal | |
mit schwarzen Familien zusammen. | |
„Wir als weiße Namibier hatten zuvor kaum Kontakt mit Schwarzen, außer mit | |
unseren Hausangestellten.“ Auch von den auf der Farm lebenden Nama waren | |
damals viele bei ihr angestellt, aber auf einer Farm teilt man ganz anders | |
das gesamte Leben: „Krankheit, Tod, Geburt, die tägliche Arbeit und all die | |
Katastrophen, die immer wieder passieren.“ | |
Sie gründet eine Farmschule für die Kinder der Farmarbeiter. Als sie den | |
Unterricht für die achte Klasse vorbereitet, stößt sie auf ihre eigene | |
Geschichte. „In meiner Kindheit haben wir kaum etwas über den Kolonialismus | |
gehört, und wenn, dann Horrorgeschichten von der Ermordung weißer Farmer | |
durch die Herero“, erzählt von Wietersheim. | |
Als sie den Unterricht vorbereitete, las sie entsetzt, was in Namibia | |
während der deutschen Kolonialzeit geschehen war: „Vor allem, dass es auf | |
der Haifischinsel, wo wir als Kinder so ahnungslos gespielt haben, ein | |
Konzentrationslager gab, in dem Hunderte von Menschen an Hunger, Schwäche | |
und Auszehrung gestorben sind.“ Es gab kein Geheimnis um diese Insel, sagt | |
von Wietersheim mit Tränen in den Augen. „Es war wie ausgelöscht aus dem | |
Gedächtnis der Menschen, zumindest der Weißen.“ | |
Den Nachfahren der Überlebenden war die Haifischinsel, eine 30 Hektar große | |
Halbinsel im Süden Namibias, dagegen ins Gedächtnis gebrannt. Sima Luipert, | |
stellvertretende Vorsitzende der Nama Traditional Leaders Association, | |
erinnert sich, wie ihre Großmutter ihr als Kind Geschichten erzählt hat. | |
„Als ich als junges Mädchen in die Stadt geschickt wurde, um Brot oder Salz | |
zu kaufen, haben die weißen Kinder Steine nach mir geworfen“, sagt sie. Die | |
Großmutter warnte sie: „Halt dich von diesen Kindern fern, oder du landest | |
auf der Insel.“ | |
## Die Folgen des Völkermords sind bis heute zu spüren | |
Erst später begreift Sima Luipert, dass ihre Urgroßmutter eine Überlebende | |
des Völkermords war und von ihrem Ahnenland vertrieben wurde. „Meine | |
Urgroßmutter war eine Gefangene im Konzentrationslager auf der | |
Haifischinsel.“ Drei Generationen später wuchs Sima Luipert unter sehr | |
bescheidenen Bedingungen in einem Dorf auf, das Teil eines Reservats war. | |
Für die Aktivistin sind Völkermord und Enteignung nichts, was vor 100 | |
Jahren passiert ist, sondern etwas, was bis heute zu spüren ist. | |
Luipert kämpft für Wiedergutmachung und Versöhnung. Die deutschstämmigen | |
Namibier, sagt sie, müssten anfangen, das Ausmaß des Schadens zu begreifen, | |
der angerichtet worden sei: „Wir haben die Souveränität verloren, wir haben | |
unsere Lebensgrundlagen verloren, und das ist uns nie zurückgegeben worden. | |
Wir bleiben am Rande der namibischen Gesellschaft.“ Sie fügt hinzu: „Wir | |
müssen einsehen, dass es keine Heilung geben kann, wenn wir die Landfrage | |
nicht lösen.“ | |
Ende November wird Uhuru Dempers dem Präsidenten den Bericht der Kommission | |
mit Empfehlungen zur Ahnenlandfrage überreichen. Die Erwartungen | |
derjenigen, die zu den öffentlichen Sitzungen der Kommission kamen, sind | |
hoch. Die Aktivisten erwarten dagegen nicht so viel. Sie haben schon viele | |
Kommissionen kommen und gehen sehen, ohne dass sich etwas verändert hätte. | |
Dempers hofft, dass der Bericht veröffentlicht wird. Dass sich etwas ändern | |
muss – darin sind sich schließlich die meisten einig. Was die Menschen | |
spaltet, ist vor allem die Frage, wem das Land heute gehört und wie eine | |
gerechte Umverteilung aussehen soll. Das karge, staubige Land ist nicht nur | |
Besitz. Für viele Menschen ist es der Ort, an dem die Ahnen begraben | |
liegen, ein Raum der Zugehörigkeit – und ein Sehnsuchtsort. | |
20 Nov 2019 | |
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## AUTOREN | |
Elisabeth Kimmerle | |
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