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# taz.de -- Der Lüneburger Musiker Tsepo Bollwinkel: Vom Verbrechen, geboren z…
> Tsepo Bollwinkel ist Solo-Oboist der Lüneburger Symphoniker. Sein
> Instrument hat ihm den sozialen Aufstieg ermögtlicht. Lieben tut er es
> nicht.
Bild: Tsepo Andreas Bollwinkel sagt über sich selbst, er sei eine garstige Per…
LÜNEBURG taz | Diesen Namen nicht verlieren, nicht falsch schreiben und
nicht vergessen: „Kalebe Keele“. Gleich in den Computer hacken und sich
zweimal zumailen, sofort bei der Heimkehr, Buchstabe für Buchstabe abtippen
von dem Zettelchen, auf den ihn Tsepo Bollwinkel am Ende des Gesprächs per
Kugelschreiber notiert hatte: „KALEBE KEELE“, in einer Handschrift, die
sich sichtlich müht, ihre sonst prekäre Lesbarkeit zu verbessern: den Namen
seines Vaters.
Den Namen, den das Bremerhavener Amt partout nicht in die Geburtsurkunde
eintragen wollte. „Es ist gut, dass du fragst“, hatte Tsepo Bollwinkel
dabei gesagt. „Das ist mir schon auch wichtig.“
Ihn spielen zu hören, hatte jetzt doch nicht mehr geklappt. Dabei hätte es
so gut gepasst: Tsepo Andreas Bollwinkel ist der Erste Oboist der
Lüneburger Symphoniker. Beim letzten Konzert der Spielzeit [1][hätte Gustav
Holsts „The Planets“ auf dem Programm gestanden]. Und im Herzstück des
zweiten Satzes dieser Orchestersuite, Venus gewidmet, hat die Oboe einen
großen Auftritt, der Liebe und Frieden in die Herzen zu gießen vermag.
Das hätte doch ein toller Eindruck sein können. Der letzte Durchlauf hatte
auch gut geklappt, „aber am nächsten Tag kam die Mail: Chef hat Covid“ –
Absage. „Uff: Also, das habe ich auch noch nicht erlebt“, sagt Bollwinkel,
der immerhin schon seit 1988 für die Oboen-Soli in Lüneburg zuständig ist.
„Nach der Generalprobe!“
## Das zugewiesene Instrument
Aber jetzt sind halt Ferien und das Ding, so seine saloppe Bezeichnung,
liegt im Kasten. „Ich muss mich von der Oboe erholen“, sagt er. Klingt
nicht nach jener ungesunden libidinösen Beziehung, die viele
Musiker*innen durch übermenschliche Übezeiten zu ihrem Instrument
unterhalten.
Die Oboe lieben? Nee, das hat er nie so empfunden, „definitiv nicht“, sagt
Bollwinkel. Um sein Verhältnis zu ihr auszudrücken, wählt er einen
Ausdruck, der, doppelt negativ, etwas gedrechselt klingt: „Auf etwas fahre
ich schon weniger ab als auf dieses Instrument.“
Er nennt es sein großes Glück, dass nicht er selbst sie sich ausgesucht
habe, sondern sie ihm zugewiesen wurde, von einem Bremerhavener
Musikschuldirektor, der die Reihen eines blockflötend
musikalisch-früherzogenen Jahrgangs abschritt und jedem Zögling mitteilte,
was er in Zukunft zu lernen habe. [2][Von der Existenz einer Oboe] hört
Bollwinkel da zum ersten Mal.
Sie erweist sich aber als seine Chance, sein Mittel, akzeptiert zu werden:
„Im Schulorchester war plötzlich egal, wo ich herkam, Aussehen, Gender, das
war auf einmal nicht mehr so wichtig: Entscheidend war, wie man spielte.“
Und Bollwinkel spielte gut. Hier ein Preis, da ein Stipendium,
Aufnahmeprüfung – Studium in Lübeck, Konzertexamen. Zu den Sachen, die er
an der Hochschule lernt, gehört auch die Fähigkeit, zugleich zu rauchen und
Oboe zu spielen. Heute nutze er sie jedoch nicht mehr.
Tsepo Bollwinkel, Jahrgang 1961, ist ein stattlicher Mensch, bewegliche
braune Augen hinter eckigen Brillengläsern, klug, mit Humor. Wie es klingt,
wenn er Oboe spielt, darüber gibt das Internet kaum Auskunft. Mehr Spuren
hat er damit hinterlassen, wie er denkt.
In einem Text teilt er die Erinnerung, wie es für ihn war, erstmals die
Zauberflöte zu erleben, mit sechs Jahren, seine zweite Oper. Eine
verstörende Erfahrung. Denn das Theater verlässt er mit einem Ohrwurm im
Kopf, dem Refrain [3][der Tenorarie „Alles fühlt der Liebe Freuden“] als
Ohrwurm: „… weil ein Schwarzer hässlich ist, weil ein Schwarzer hässlich
ist.“
Ein Vortrag mit sperrigem Titel seziert die bedrückende Sprachlosigkeit
deutscher menschenrechtlicher Arbeit im Blick auf LGBTIQ*-Menschen des
afrikanischen Kontinents, 2014 war das, na, vielleicht hat sich ja was
verändert. Ein paar ältere Bilder zeigen ihn noch mit einer betont seriös
wirkenden Kurzhaarfrisur.
Die aber ist einem ungestümen Kranz um eine hohe Stirn gewichen, die etwas
Fröhlich-Aufmüpfiges hat, aber vielleicht erzeugt auch nur die Blumentapete
im Hintergrund den Eindruck. Über sich selbst sagt Bollwinkel, er sei eine
garstige Person, aber das ist natürlich blanke Selbstironie von jemandem,
dem klar ist, dass manche ihm sein gesellschaftliches Engagement übel
nehmen.
Denn das ist im klassischen Musikbetrieb selten. Und es ist auch nur selten
gern gesehen: Symphonisch zu musizieren ist eine Praxis des Unterordnens
unter die Führerfigur des Dirigenten: „Das Orchester muss wirklich spielen,
wie er befiehlt“, hatte Adorno das einst beschrieben.
Eine empirische Studie zu weltanschaulichen Einstellungen von
Orchestermusiker*innen gibt es offenbar nicht. Dass viele
Spieler*innen politisch desinteressiert bis unbedarft sind, lässt sich
dennoch feststellen. „Ich konnte gar nicht anders als mich politisch zu
engagieren“, sagt dagegen Bollwinkel. „Da bleibt einem von meiner Sorte gar
keine andere Möglichkeit.“
## Der ferne Vater und das rassistische Amt
Meine Sorte: Da bleibt jetzt die Wahl, wie Bollwinkel das meint. Denn der
Oboist verkörpert sehr konkret das, was der Begriff Intersektionalität als
abstraktes Objekt benennt, eine Überschneidung der Zugehörigkeit zu
diskriminierten Gruppen: Er ist eine trans* Person; das soziale Umfeld, in
dem er aufgewachsen ist, würde ihm zufolge, in kulinarische Kategorien
übersetzt, der Frittenbude entsprechen; und aus rassistischen Gründen ist
schon Tsepo Bollwinkels Geburt Anfang der 1960er „ein Staatsverbrechen“,
wie er sagt.
In Südafrika herrschte damals Apartheid, das „Prohibition of Mixed
Marriages Act, 1949“, zu deutsch „Gesetz gegen Mischehen“, stellte eine
intime Beziehung „zwischen Europäern und Nicht-Europäern“ unter Strafe:
Gefängnis von unbestimmter Dauer. „Meine Mutter hat sozusagen den letzten
Flieger vor der Entbindung bestiegen“, sagt Bollwinkel.
„So kam sie nach Bremerhaven.“ Den Vater lernt Bollwinkel erst viel später,
in den 1990ern kennen. Denn dessen Flucht scheitert, Kalebe Keele wird beim
Versuch, sein Heimatland zu verlassen, gestellt, Nilpferdpeitsche, er
landet im Arbeitslager. In Bremerhaven ist das Standesamt besorgt um die
außenwirtschaftlichen Beziehungen. Also kein Eintrag seines Namens auf ein
deutsches Dokument. „Das ist mit Blick auf das gute Verhältnis zur Republik
Südafrika verweigert worden“, sagt Bollwinkel.
Dass Irene Bollwinkel, die alleinerziehende Mutter des nach amtlicher
Behördenlogik folglich vaterlosen Kindes, Krankenschwester ist, wird zudem
als Hinweis auf ihre fehlende sittliche Reife gewertet. Das Sorgerecht
erhält sie also nicht. Die Drohung, ins Heim zu kommen, imprägniert Tsepo
Andreas Bollwinkels Kindheit wie der Geruch des Stadtteils Fischereihafen,
in dem er aufwächst. „Wir waren die, die stinken.“
Beruflich ist er schon lange nicht mehr nur Musiker. Empowerment-Seminare
bietet er an, (Gruppen-)Trainings zu Anti-Rassismus, Diversität,
Intersektionalität und internationaler Zusammenarbeit. „Ancestral Healing“
heißt eines seiner Angebote. Das klingt esoterisch, ist es aber nicht,
versichert er: „Mit Eso habe ich so gar nichts am Hut.“ Es gehe dabei um
eine Praxis, die hier im Westen verloren sei, „aber bei den Völkern, zu
denen ich gehöre, bei den Sotho und den Khoisan, ist sie noch sehr
lebendig“.
Zumindest in den USA wird dieser psychotherapeutische Ansatz zur Behandlung
ererbter Traumata zunehmend erforscht. Und tatsächlich klingt ja der
freudianische Glaube, zu frühkindlichen Kränkungen und Verletzungen durch
Traumarbeit und Talking Cure vorstoßen zu können, nicht rationaler als die
Vorstellung, in Kontakt zu Ahnen zu treten, um die Verletzungen
aufzusuchen, die sie zugefügt und erlitten haben.
„Ob man das als real erlebt oder als einen rein imaginären Vorgang, ist
dafür völlig egal“, sagt Tsepo Andreas Bollwinkel. Wichtig sei nur, den
Schmerz zu erkennen; und die widerständigen Fähigkeiten wieder wahrzunehmen
und zu bearbeiten. „Davon gibt es viel“, sagt er, „unermesslich viel.“
22 Aug 2022
## LINKS
[1] https://www.theater-lueneburg.de/konzerte/sinfoniekonzert-no-6-2/
[2] https://www.reisser-musik.de/blog/ratgeber/wissenswertes-ueber-die-oboe/
[3] https://www.opera-arias.com/mozart/die-zauberflote/alles-fuhlt-der-liebe-fr…
## AUTOREN
Benno Schirrmeister
## TAGS
Schwerpunkt Rassismus
Musik
Lüneburg
Klassische Musik
Ausstellung
Lesestück Recherche und Reportage
Pianist
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