| # taz.de -- Musikgeschichten aus Namibia: Bild einer verlorenen Welt | |
| > Die Ausstellung „Stolen Moments. Namibian Music History Untold“ in | |
| > Stuttgart erzählt von einer Musikszene, die sich gegen Apartheid | |
| > behaupten musste. | |
| Bild: Die Musiker (v. li.): #Kharixurob, /Abe Bahe, Lekker Johannes und Arnoldu… | |
| „Bitter and sweet“ sei die Ausstellung „Stolen Moments. Namibian Music | |
| History Untold“, sagte der namibische Botschafter Martin Andjaba in seiner | |
| Rede bei der Vernissage im Stuttgarter Kunstverein Wagenhalle am Montag. | |
| Sie zeige die unterdrückten Facetten einer Musikkultur, bringe aber | |
| gleichzeitig ins Bewusstsein, dass die Menschen trotz Apartheidstaat | |
| Momente der Selbstbehauptung erleben konnten, zum Feiern zusammenkamen, zum | |
| Musizieren und zum Tanzen. Die Ausstellung rette, meint Andjaba außerdem, | |
| diejenigen vor dem Vergessen, die unter den Bedingungen der Apartheid eine | |
| namibische Popkultur geformt haben. | |
| Die Geschichte Namibias ist durchzogen von solchen „gestohlenen Momenten“, | |
| etwa einer eigenen musikalischen Sprache. Schon die [1][deutschen | |
| Kolonisatoren, die ab 1884 „Deutsch-Südwestafrika“ besiedelten], hatten | |
| wenig Interesse an der Kultur der unterschiedlichen Volksgruppen des | |
| Landes; mit dem Völkermord an den Herero und den Nama ab 1904 wurden auch | |
| deren kulturellen Traditionen zerschlagen. | |
| Stattdessen brachten die deutschen Siedler – etwa 12.000 waren es bei einer | |
| Gesamtbevölkerung von 200.000 im Jahr 1913 – ihre eigenen Kulturformen mit | |
| ins Land, von Schwarzwälder Kirschtorte bis zu Blasmusik. Mit dem Ende der | |
| deutschen Kolonie 1915 endete jedoch nicht die Zeit der Fremdbestimmung: | |
| 1919 erteilte der Völkerbund an Südafrika ein Mandat zur Verwaltung des | |
| Landes, woraufhin die dortigen Apartheidgesetze nach und nach auch im | |
| heutigen Namibia umgesetzt wurden. | |
| Insbesondere der [2][„Population Registration Act“] von 1950 organisierte | |
| im Alltag die räumliche Trennung zwischen Weißen und den als „Black“ | |
| kategorisierten Menschen, die in sogenannten Homelands angesiedelt wurden. | |
| Hier setzt die Ausstellung zeitlich an, die von der „Stolen Moments | |
| Research Group“ um die namibische Kuratorin Aino Moongo und den Filmemacher | |
| Thorsten Schütte als eine „erinnerungsarchäologische Spurensuche“ | |
| konzipiert worden ist. | |
| Sie geht dabei weniger didaktisch vor, sondern stellt vielmehr Material zur | |
| eigenen Interpretation bereit: Bildmaterial von Fotos über | |
| Zeitungsausschnitte bis zur Kunst auf Schallplattencovern sowie Hunderte | |
| digitalisierte Songs an Hörstationen. | |
| „Stolen Moments“ fragt nach dem Verhältnis von Politik und Popkultur, nach | |
| der Kultur als Speicher gesellschaftlicher Entwicklungen. Denn in den | |
| Homelands entwickelte sich vor der Folie der Traditionen von Nama, Herero, | |
| San oder Damara eine eigene musikalische Kultur, angereichet durch Folk- | |
| und Blueselemente, Bebop und Jazz. | |
| ## Für Hochzeiten und andere Feste | |
| Aus regelmäßigen Tanzabenden und Konzerten in den 1950ern entstand in den | |
| Augen der Machthaber ein Widerstandspotenzial, das sie dazu veranlasste, | |
| die unterschiedlichen Bevölkerungsgruppen wiederum in separaten Gebieten | |
| anzusiedeln. Doch trotz aller Zensurmaßnahmen, gewaltsamen Umsiedlungen und | |
| Verbote konnte nicht verhindert werden, dass sich die Popkultur Wege | |
| suchte, weiter die Menschen zu erreichen. | |
| Oftmals auch ungewollt vorbereitet wurde dies durch die weiße Gesellschaft, | |
| die schwarze Musiker als Hotelbands, für Hochzeiten und andere Feste | |
| engagierte und ihnen dabei westliche Popkultur nahebrachte: „Ich erinnere | |
| mich, dass wir die Beatles gespielt haben, ‚With a Little Help From My | |
| Friends‘ und ‚Here Comes the Sun‘“, erzählt Tony Figueira in einem 201… | |
| die Ausstellung geführten Interview. | |
| Baby Doeseb, Drummer der Ugly Creatures, ergänzt: „Wir wurden oft auch von | |
| Afrikaans sprechenden Weißen gebucht. Sie ließen uns in Hotels auftreten | |
| und gaben uns im Voraus ihre Lieblingsplatten, damit wir ihre Musik lernen | |
| konnten.“ | |
| Auch stellte das Regime Strukturen zur Verfügung, die sich die Schwarzen | |
| angeeignet haben: Ende der 1960er wurden Radioprogramme lanciert, die in | |
| unterschiedlichen Landessprachen der Schwarzen Bevölkerung das Gefühl von | |
| Beteiligung geben sollten, aber vornehmlich das Ziel hatten, sie | |
| ruhigzustellen. | |
| Ruhig waren sie allerdings keineswegs: Im Archiv der staatlichen | |
| Radioanstalt fanden die Kuratoren ungezählte Stunden Musik, die seit den | |
| Sechzigern vornehmlich auf Tonbändern aufgenommen worden war. Das | |
| musikalische Spektrum reicht von traditionellen Melodien, die mit Rock, | |
| Funk und Pop fusioniert wurden, über Singer/Songwriter-Folk bis hin zu | |
| krautigen Drums oder souligen Balladen. | |
| ## Leerstellen deutlich machen | |
| Children of Pluto nannten sie sich, an den Afrofuturismus-Zeitgeist eines | |
| Sun Ra anschließend, und The Dead Wood oder Rocking Kwela Boys. The Ugly | |
| Creatures, mit ihrem funkigen Rock die bekannteste Band Namibias in den | |
| 1970ern, singen in ihrem Song „Exit for the Artist exists“: „Wie ich mich | |
| als Künstler ausdrücke, ist nur ein kleiner Teil dessen, wie ich mich | |
| fühle.“ Die Musik ist das eine, daneben steht die reale Erfahrung im | |
| Alltag, ein Mensch zweiter Klasse zu sein, nicht von der Musik leben zu | |
| können und der Willkür des Staats ausgesetzt zu sein. | |
| Die Ausstellung macht diese Leerstellen deutlich: Musiker, die keine sein | |
| durften, die ins Exil gingen oder die Instrumente an den Nagel hängten; | |
| Tonbandaufnahmen, die über Jahrzehnte in Archiven schlummerten, und von den | |
| Machthabern zerkratzte Schallplatten, weil diese Momente der | |
| Selbstbehauptung ihnen zu heikel geworden waren. | |
| „Stolen Moments“ bringt diese Leerstellen zurück ins Bewusstsein, ergänzt | |
| um das, was war, was gewesen sein könnte, und um das, was verloren ist: | |
| Musik aus dem Radioarchiv wurde digitalisiert und zugänglich gemacht, | |
| Künstler der Gegenwart haben Plattencover für die nie erschienenen Alben | |
| entworfen, und Fotografen haben sich auf die Suche nach den ehemaligen | |
| Orten der Subkultur begeben. Sie haben die Gemeindesäle, Gemeindezentren | |
| und Bars fotografiert, die heute verlassen und nur noch stumme Zeugen einer | |
| ehemals lebendigen Kultur sind. | |
| Aus den vielen Stimmen und Songs, die in der Ausstellung zusammengetragen | |
| wurden, formt sich das Bild einer verlorenen Welt, das gleichzeitig | |
| deutlich macht, welche Kraft in Popkultur stecken kann: die Utopie einer | |
| besseren Welt, einer Welt, in der Blut und Boden, Hautfarbe und | |
| Zuschreibung keine Rolle mehr spielen. Die Ausstellung macht sich von | |
| Stuttgart aus übrigens auf den Weg zurück nach Namibia; die gestohlenen | |
| Momente kehren heim. | |
| 16 Oct 2021 | |
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| ## AUTOREN | |
| Jonas Engelmann | |
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