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# taz.de -- Neuerscheinung von Octavia Butlers „Wilde Saat“: Wandelbare Kö…
> Genderidentität, ethnische Zugehörigkeit, Feminismus: Butlers
> afrofuturistischer Klassiker „Wilde Saat“ erprobt heutige Diskurse in
> fantastischer Form.
Bild: Octavia Butler spricht Themen wie Sklaverei und Kolonialismus aus anderer…
Das Problem ist ein altes, daher nur kurz zur Erinnerung: Bei
[1][Science-Fiction] genügt es bis heute, den Namen dieses Genres zu
nennen, um viele potenzielle Leser in die Flucht zu schlagen. Was daran
liegt, dass auf dem Markt einiges unter dieser Bezeichnung läuft, das
literarisch eher weniger ambitioniert ist, sei es erzählerisch oder
stilistisch. Wobei eigentlich bekannt sein sollte, dass auch „richtige“
Romane besser oder schlechter sein können. Sollte als Hinweis gar nicht
nötig sein, die Erfahrung lehrt einen aber oft eines Besseren.
Auch Vorurteile gegenüber Verlagen, die nicht zu den renommierten
Literaturadressen zählen, ließen sich auf dem Weg abbauen. So hat der Heyne
Verlag in seiner Reihe „Meisterwerke der Science-Fiction“, in der Autoren
wie George Orwell, [2][J. G. Ballard] oder [3][Ursula K. Le Guin] vertreten
sind, mit „Wilde Saat“ der US-amerikanischen Schriftstellerin Octavia E.
Butler einen in mehrfacher Hinsicht bemerkenswerten Titel hinzugefügt.
Denn Butler ist nicht allein eine der wenigen Frauen in dieser
männerdominierten Liste, sie ist zudem eine der wenigen Schwarzen
Autorinnen des Genres. In den USA feierte die 1947 in Kalifornien geborene
und 2006 durch einen Unfall gestorbene Butler mit ihren Romanen Erfolge,
erhielt diverse Auszeichnungen, darunter zweimal den Hugo Award.
„Wilde Saat“ erschien 1980, für die aktuelle Neuauflage wurde Will Plattens
deutsche Übersetzung von 1984 überarbeitet. Und aktuell ist der Roman
allemal. Die Handlung ist selbst für Science-Fiction ungewöhnlich. Im
Mittelpunkt stehen Doro und Anyanwu, zwei Personen, die Dinge können, durch
die sie kaum noch menschlich wirken. Doro ist ein Unsterblicher, der zum
Überleben die Körper anderer benötigt. Er tötet, sobald sein Ich ein neues
„Zuhause“ wählt. Geist und Körper sind in dieser Welt demnach streng
getrennt.
## Heilung durch Gedanken
Anyanwu hingegen ist als Heilerin in der Lage, ihren Körper durch ihre
Gedanken von Krankheiten und Verletzungen zu kurieren, ein Wissen, mit dem
sie oft anderen hilft und durch das sie es ihrerseits zu einem
beträchtlichen Alter gebracht hat. Sie kann zugleich ganz grundsätzlich die
Gestalt ihres Körpers verändern, beliebig Alter, Geschlecht und Hautfarbe
wechseln. Sogar in ein Tier kann sie sich verwandeln.
Diese Hauptfiguren sind zunächst antagonistisch angelegt, hier der
destruktive Mann Doro, dort die „konstruktiv“ operierende Anyanwu. Mit der
Wahl des Kontinents ist die Erzählung entschieden afrofuturistisch: Beide
Figuren stammen aus Afrika, aus welchen Ländern, erfährt man nicht.
Anyanwu lebt zu Beginn der Handlung im Jahr 1690 noch in ihrem Dorf, als
Doro sie findet. Er hatte sie gesucht. Zu einem irritierenden Zweck: Doro
sammelt Menschen, um mit ihnen ein „Volk“ zu züchten.
Er wählt dazu Menschen, die wie er über außergewöhnliche Fähigkeiten
verfügen. Formal gesehen, geht es um durch angewandte Genetik
hervorgebrachte Superhelden. Butler macht daraus jedoch etwas völlig
anderes als eine Marvel-Avengers-Geschichte.
## Zyklisches Erzählen
Denn ihre Erzählung beobachtet die beiden Protagonisten bei ihrer
Begegnung, bei ihrem Kennenlernen, nimmt sich Zeit für den Austausch
untereinander, was es bedeutet, einen Körper zu wechseln, sei es gewaltsam
wie bei Doro oder durch eine avancierte Form der Introspektion wie bei
Anyanwu. Butler spricht auf diesem Weg Fragen der Genderidentität, der
ethnischen Zugehörigkeit oder des Feminismus an, ohne einen theoretischen
Diskurs darüber zu führen. Sie bleibt sehr ruhig und konzentriert bei den
konkreten Erfahrungen der beiden.
Doros mörderische Form des Fortbestehens führt dabei zwangsläufig zu
Konflikten. Anyanwu verurteilt Doro, wehrt sich dagegen, dass er sie
ebenfalls in seine Zuchtpläne einbezieht, flieht vor ihm. In drei Büchern,
über mehrere Jahrhundert hinweg, geht Butler diese Konstellation stets aufs
Neue an, es ist eine Art zyklisches Erzählen, das Zuspitzungen kennt, die
meiste Zeit aber bei einem aufmerksam zurückgenommenen Rhythmus bleibt.
Doros Zuchtprojekt schließlich nutzt Butler dazu, Themen wie Sklaverei und
Kolonialismus aus anderer Perspektive anzugehen. Denn Doro agiert wie ein
Sklavenhändler, verschifft seine „Leute“ in die USA. Einschließlich
Anyanwu. Bloß unter umgekehrten Vorzeichen: Er will keine Sklaven für die
weiße Bevölkerung heranzüchten, sondern versammelt die wegen ihrer
Andersartigkeit Marginalisierten in eigenen Kolonien. Wie er es zuvor lange
Zeit in Afrika getan hat.
Dass die Vorgehensweise Doros moralisch mehr als bedenklich ist, bildet
Butler als eine der Konstanten im Verhältnis von Anyanwu und Doro ab. Die
Ambivalenz, mit der sie das tut, mag beim Lesen irritieren. Sie gehört zu
den Stärken dieses wie für diese Zeiten geschriebenen Buchs.
20 Nov 2021
## LINKS
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## AUTOREN
Tim Caspar Boehme
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Literatur
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