# taz.de -- Buch über weibliche Selbstermächtigung: Vergessene Geschichte | |
> Rebellinnen, Radikale, Queers: Saidiya Hartman rekonstruiert die | |
> unkonventionellen Biografien junger afroamerikanischer Frauen. | |
Bild: Autorin Saidiya Hartman | |
Was ist der radikale Wunsch, ein freies Leben mit Liebe, Schönheit und | |
Hoffnung zu führen, gegen die Macht von Staat und Gesetz? In „Aufsässige | |
Leben, schöne Experimente“ erzählt und collagiert Saidiya Hartman die Leben | |
schwarzer Frauen und Queers der zweiten und dritten Generation nach dem | |
Ende der Sklaverei. Sie zeichnet ihre subversiven Leben fernab von | |
Konventionen und patriarchalen Normen nach. | |
[1][Hartman, US-Professorin für afroamerikanische Literatur,] stößt in | |
Archiven auf ihre Geschichten. Diese Archive geben vor, nüchterne | |
Aufbewahrungsorte von Geschichte zu sein. Tatsächlich sind sie Orte der | |
Macht, die „Wissen“ und „Wahrheiten“ produzieren. In den Archivmaterial… | |
sind die Porträtierten nur Delinquentinnen und Fürsorgefälle. | |
Delinquentinnen aus welcher Perspektive? | |
Sie will ihre Geschichten anders, neu erzählen: Anstelle einer reinen | |
Opfererzählung entwickelt sie eine Ermächtigungserzählung. Hartman verfasst | |
eine serielle Biografie, die vielen Handelnden vermischen sich zu einem | |
Chor. Phasenweise ist der Text atemlos, dabei rhythmisch so stark, dass er | |
wie ein Rap anmutet. | |
Anna Jäger hat ihn vorzüglich aus dem Englischen übertragen. Hartman | |
bedient sich literarischer Methoden, was die Sogwirkung ihres Buches | |
erklärt. So wählt sie den Modus des verschränkten Erzählens, bei dem | |
Erzählerstimme und Bewusstsein der Person, von der erzählt wird, | |
verschwimmen. | |
## Erzählen ohne Wahrheit | |
Weil es über die Personen, die Hartman porträtiert, nur wenige gesicherte | |
Informationen gibt, tritt an die Stelle des Wissens das Einfühlen. Das | |
klingt unwissenschaftlich, reflektiert aber die postmoderne Erkenntnis, | |
dass biografisches Erzählen ohnehin keine „Wahrheiten“ konstruieren kann. | |
Wer kann schon wissen, was ein Mensch wirklich dachte oder fühlte? | |
Andererseits ist dieser Erzählmodus seit Längerem in den | |
Geschichtswissenschaften etabliert. Der deutsche Leser etwa mag sich an | |
Johannes Frieds Biografie über Karl den Großen erinnern, die die | |
zahlreichen Leerstellen, die die Historiografie selbst bei diesem | |
berühmtesten der deutschen Kaiser kennt, mit Dichtung füllte. | |
Ausgangspunkt für ihr Buch, so beschreibt es die Autorin im Text, ist die | |
Betrachtung der Fotografie eines kleinen, schwarzen Mädchens, das nackt auf | |
dem Sofa eines weißen Malers posieren muss. Es ist ein namenloses Mädchen, | |
über das Hartman auch nach langer Recherche nichts herausfinden kann. Wer | |
immer sie, die als „Odaliske“ bezeichnet wird, sein mag: Das Bild erzählt | |
nur von einem Augenblick, der Betrachter ist gezwungen, sich vorzustellen, | |
was auf das Bild folgt. | |
Missbrauch steht als Möglichkeit im Raum. „Es ist ein andauerndes Bild | |
intimer Gewalt. Das Mädchen könnte mehrere Jahrhunderte alt sein, so viel | |
Zeit sammelt sich auf ihrem kleinen Körper an. Sie trägt das Gewicht von | |
Sklaverei und Imperium, verkörpert den Verkehr von Waren, vernäht die | |
Identität der Sklavin mit der der Prostituierten. All dies macht es ihr | |
unmöglich, ein Kind zu sein.“ | |
## Erschütternde Schicksale | |
Auch viele der anderen erzählten Schicksale sind erschütternd. Etwa die | |
Geschichte Matties, einer Teenagerin aus den Südstaaten, die nach New York | |
kommt, um frei zu sein. Doch auch hier muss sie von morgens bis abends für | |
einen mickrigen Lohn schuften. Neben der Ausbeutung durch Lohnarbeit sind | |
Frauen wie Mattie von sexueller Ausbeutung betroffen. | |
Schwarze Mädchen und Frauen erscheinen vor dem Gesetz als „unrapable“, da | |
man sie als frühreif bzw. promisk einstuft. Dann wird die Teenagerin | |
Mutter. Das genügt für ihre Internierung. Sie wird geschlagen, man | |
verweigert ihr Nahrung. Bei Besuchen kann die Mutter die verzweifelten | |
Schreie ihrer Tochter hören. | |
Hartman kann die Geschichte von Frauen wie Mattie nicht ändern. Aber sie | |
kann sie als Menschen mit Träumen und eigenen Absichten porträtieren. Sie | |
lebten ihr Leben mit radikalem Mut, einer Form von Mut, wie sie nur aus der | |
Hoffnungslosigkeit entsteht. | |
10 Jul 2022 | |
## LINKS | |
[1] https://english.columbia.edu/content/saidiya-v-hartman | |
## AUTOREN | |
Marlen Hobrack | |
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