# taz.de -- Familien gegen EU: Fürs Klima vors Gericht | |
> Zehn Familien verklagen die EU, weil sie schärfere CO2- Ziele erreichen | |
> wollen. Das liegt im Trend: Weltweit wird so in etwa 1.000 Prozessen | |
> Politik gemacht. | |
Bild: Einzige deutsche Kläger-Familie: Maike und Michael Recktenwald stehen vo… | |
BERLIN taz | Klimawandel? Den habe sie vor der Haustür, sagt Maike | |
Recktenwald, wenn man sie auf Langeoog anruft. Die Stürme gefährdeten den | |
Strand, Starkregen drohe die Brunnen zu verschmutzen. „Für uns geht es ums | |
Ganze“, sagt Recktenwald, die mit ihrem Mann das Restaurant Seekrug führt. | |
„Wir möchten, dass die Natur und das Klima so bleiben, wie die Natur es | |
gewollt hat.“ | |
Deshalb hat ein Team von Juristen auch in ihrem Namen am Donnerstag beim | |
Gericht der Europäischen Union in Luxemburg Klage eingereicht – den | |
„People’s Climate Case“. Der Vorwurf gegen den EU-Rat und das EU-Parlamen… | |
Europa missachte die Grundrechte seiner Bürger, weil es sie nicht genug vor | |
dem Klimawandel schütze. Das Ziel: schärfere Ziele für die EU. Statt der | |
bislang geplanten Reduktion der Klimagase um 40 Prozent bis 2030 sollten es | |
„zwischen 50 und 60 Prozent“ sein, fordern die Kläger. | |
Was damit in der EU beginnt, ist weltweit längst üblich: Der Kampf ums | |
Klima wird zunehmend vor Gerichten ausgetragen. Laut UN-Umweltprogramms | |
Unep waren 2017 weltweit 884 Prozesse in 24 Ländern anhängig, bei denen es | |
ums Klima geht. Eine weltweit vernetzte Gemeinde von Anwälten, | |
Umweltorganisationen und Wissenschaftlern will die UN-Staaten so zwingen, | |
ihre großen Versprechungen etwa im Pariser Abkommen von 2015 umzusetzen – | |
und das teilweise mit erstaunlichem Erfolg. „Vor Gericht zu gehen ist heute | |
wohl wichtiger als je zuvor“, heißt es im Unep-Bericht „Klimawandel vor | |
Gericht“. | |
Die EU-Klage ist 107 Seiten dick und hat 6.000 Seiten Anhänge. Ein Team von | |
Juristen und Umweltgruppen hat zehn betroffene Familien zusammengebracht: | |
einen Bauern aus Portugal, dessen Land Waldbrände verwüsteten; einen Farmer | |
aus Rumänien, dessen Rinder kein Wasser mehr finden; einen französischen | |
Lavendelfarmer in der Provence, der in den letzten sechs Jahren 44 Prozent | |
seiner Ernte einbüßte. Aber auch Familien aus Fidschi und Kenia sind dabei | |
und die Jugendorganisation der samischen Ureinwohner in Schweden, die den | |
Verlust ihrer Rentiere beklagen. „Die klagenden Familien vertrauen auf das | |
Rechtssystem der EU, um ihre Grundrechte auf Leben, Gesundheit, Arbeit und | |
Eigentum zu schützen, die durch den Klimawandel bedroht sind“, sagt Roda | |
Verheyen, eine von drei AnwältInnen der EU-Klage. Und Christoph Bals, | |
Geschäftsführer der Entwicklungsorganisation Germanwatch, die die Klage | |
unterstützt, sagt: „Die Betroffenen fügen sich nicht in die Opferrolle, | |
sondern verlangen den Schutz ihrer Rechte.“ | |
## Bremser und Lobbyisten | |
Dabei brüstet sich die EU seit Langem damit, Vorreiter beim Klimaschutz zu | |
sein. In der Tat ist das 40-Prozent-Ziel relativ ambitioniert und war in | |
Brüssel gegen die Industrielobby und gegen Bremserstaaten wie Polen nur | |
schwer durchzusetzen. Aber für die Einhaltung des Pariser Abkommens müssten | |
die Europäer ihre Emissionen mindestens um 55 Prozent zurückfahren, hat | |
unlängst das Öko-Institut kalkuliert. Paris hat weltweit den Klimaklagen | |
kräftig Schub gegeben. Es begründet zwar keine direkten Rechtspflichten, | |
aber die Festlegung von fast 200 Staaten auf gemeinsame Klimaziele liefert | |
den Klägern gute Argumente. Die meisten Prozesse laufen in den USA, gefolgt | |
von Australien, Neuseeland und Europa, aber auch in Kolumbien, Indien, den | |
Philippinen oder Mikronesien wird prozessiert. | |
Die Beschwerden lassen sich in mehrere Gruppen unterteilen: Einerseits | |
verklagen Umweltgruppen ihre Regierung: So zwang die niederländische Gruppe | |
„Urgenda“ 2015 die Regierung per Gerichtsbeschluss, ihre Klimaziele von | |
minus 17 auf minus 25 Prozent zu erhöhen. Seitdem hat das konservative | |
Kabinett einen Ausstieg aus der Kohle und aus dem Verbrennungsmotor | |
verkündet und will den CO2-Preis anheben. In Pakistan zwang ein Gericht | |
2015 den Staat, Bauern besser gegen die Folgen des Klimawandels | |
abzusichern. Im US-Bundesstaat Oregon verhandelt ein Gericht die Klage von | |
21 Jugendlichen, die durch das Verbrennen von Kohle, Öl und Gas ihre Rechte | |
auf „Leben, Freiheit und Glück“ verletzt sehen. | |
Zweite Variante: Ein Betroffener klagt gegen einen Konzern. So verlangt der | |
peruanische Bergführer Saúl Luciano Lliuya vom deutschen Energieriesen | |
RWE, dass der sich an der Sicherung seines Hauses beteilige. Lliuyas Haus | |
in den Anden wird von einem See bedroht, der durch schmelzende Gletscher | |
angeschwollen ist. Das Oberlandesgericht Hamm fand den Fall Ende 2017 so | |
erfolgversprechend, dass es nun in die Beweisaufnahme eingestiegen ist, ob | |
und in welchem Maße RWE mit seinen CO2-Emissionen an der Gletscherschmelze | |
schuld ist. In ähnlichen Fällen fordern Gemeinden in Kalifornien und New | |
York von Ölkonzernen Schadenersatz für Sturm- und Wasserschäden. | |
Das Klima landet manchmal auch vor Gericht, wenn Bauprojekte angegriffen | |
werden. So verhinderten 2017 Umweltschützer den Bau einer dritten Startbahn | |
am Flughafen Wien. Begründung: Mehr Flugverkehr führe zu mehr CO2, das aber | |
widerspreche dem Klimaschutzgesetz Österreichs. Das Urteil wurde allerdings | |
vom Verfassungsgericht kassiert. In Kolumbien untersagte ein Gericht die | |
Bebauung sensibler Bereiche der „Páramos“ mit Verweis auf den Klimaschutz. | |
Und in Norwegen klagen Ökogruppen gegen neue Lizenzen für Gas- und | |
Ölbohrungen. Das Argument: Fossile Brennstoffe müssten im Boden bleiben. | |
## Investoren und Flüchtlinge | |
Schließlich verklagen Investoren Energiekonzerne, wenn diese das Risiko des | |
Klimawandels geleugnet und damit den Börsenkurs manipuliert haben. In einem | |
der größten Verfahren geht der Staat New York gegen ExxonMobil vor. | |
Zunehmend landen auch Fälle von „Klimaflüchtlingen“ etwa in Australien | |
und Neuseeland vor den Gerichten, wo Bewohner bedrohter Inseln einen | |
Flüchtlingsstatus anstreben. | |
Die Klageflut täuscht darüber hinweg, dass es grundsätzlich hohe Hürden für | |
den Erfolg gibt. Im aktuellen EU-Fall etwa müssen Berechtigte zwar | |
persönlich betroffen sein – sind aber viele betroffen, können sie gemäß d… | |
Vorschriften nicht klagen. Außerdem müssen Kläger nachweisen, dass die | |
konkrete Dürre oder Gletscherschmelze, die sie gefährdet, eine Folge des | |
Klimawandels ist. Das war früher fast unmöglich. Jetzt aber hilft die | |
„Zuordnungswissenschaft“. Wissenschaftler etwa an der Universität Oxford | |
können inzwischen ziemlich genau belegen, wie groß der „Fingerabdruck“ des | |
Klimawandels in einem Sturm oder einer Hitzewelle ist. | |
Waffengleichheit vor Justitia herrscht allerdings nicht. Einem globalen | |
Problem stehen nur nationale oder regionale Rechtssysteme gegenüber, manche | |
großen Verschmutzer wie China oder Saudi-Arabien haben keine unabhängige | |
Justiz. Und zwischen Opfern und Verursachern des Klimawandels gebe es ein | |
großes Informations- und Machtgefälle, bemängelt die Unep. Die Konzerne | |
lassen sich von mächtigen Anwaltskanzleien vertreten. Die EU-Klage wird | |
deshalb von der Organisation „Protect the Planet“ unterstützt, um die | |
Kosten zumindest bis in die zweite Instanz zu tragen. | |
Nicht alle Experten sind allerdings so skeptisch wie die herrschende Lehre. | |
Felix Ekardt, Juraprofessor an der Uni Rostock und Leiter der | |
Forschungsstelle Nachhaltigkeit und Klimapolitik, mahnt, dass das Pariser | |
Abkommen und die Menschenrechte viel drastischeren Klimaschutz erfordern. | |
„Rechtlich gesehen ist bei Existenzfragen wie dem Klimawandel nur eine | |
Politik zulässig, die mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit die | |
Temperaturgrenze einhält“, schreibt er in einem aktuellen Gutachten für den | |
„Solarenergie-Förderverein“. Diese Rechtslage könne es erleichtern, echten | |
Klimaschutz „einzufordern, klimaschädliche Maßnahmen anzufechten und große | |
Energiekonzerne zumindest anteilig für Klimawandelfolgen haftbar zu | |
machen“. | |
26 May 2018 | |
## AUTOREN | |
Bernhard Pötter | |
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