| # taz.de -- Im Kolonialismus geraubte Körperteile: Wem gehört der Schädel? | |
| > Gerhard Ziegenfuß hat einen Totenkopf aus Deutsch-Südwestafrika geerbt. | |
| > Er will ihn zurückgeben. Aber das ist gar nicht so einfach. | |
| Bild: Über den Großonkel, ein Missionar, kam der Schädel in die Familie Zieg… | |
| Ennigerloh/Dingelstädt/Berlin taz | Das Geheimnis der Familie Ziegenfuß | |
| wiegt 900 Gramm und lagert in einem DHL-Paket, adressiert an die Botschaft | |
| der Republik Namibia, Berlin. Ein nachgedunkelter Menschenschädel mit | |
| tiefen Augenhöhlen, Unterkiefer und Zähne fehlen, das rechte Jochbein ist | |
| abgebrochen, die Schädelnähte sind noch deutlich erkennbar. | |
| Gerhard Ziegenfuß zögert, als er den Karton auf der Terrasse öffnet. Der | |
| pensionierte Biologielehrer hat sich ein Leben lang mit Skeletten | |
| beschäftigt, doch den Schädel will er nur ungern anfassen, als fürchte er, | |
| die Totenruhe zu stören. Behutsam nimmt er den Schädel schließlich hoch und | |
| hält ihn wie etwas sehr Zerbrechliches. Da steht Ziegenfuß nun in seinem | |
| Rosengarten im Münsterland, ein schmächtiger 77-Jähriger mit geradem | |
| Schnurrbart, Brille und Sportschuhen, das Karohemd in die Jeans gesteckt. | |
| Mit der Vergangenheit in seinen Händen will er seit fast zehn Jahren | |
| abschließen – und wird doch immer auf sie zurückgeworfen. | |
| Denn der Schädel ist nicht nur ein dunkler Fleck in der Ziegenfuß’schen | |
| Familiengeschichte. Er ist Teil eines dunklen Kapitels der deutschen | |
| Geschichte, das immer noch nicht aufgearbeitet ist. In | |
| Deutsch-Südwestafrika, dem heutigen Namibia, schlug die Kolonialtruppe den | |
| antikolonialen Widerstandskampf der Herero und Nama in den Jahren 1904 bis | |
| 1908 gnadenlos nieder. Es war der erste Völkermord des 20. Jahrhunderts. | |
| Schätzungsweise 80.000 Herero und 10.000 Nama starben in der Region | |
| Omaheke, auch Sandfeld genannt, oder in den Konzentrationslagern. | |
| Militärärzte trennten die Köpfe der Leichen ab und schickten sie als | |
| Forschungsobjekte für rassenanthropologische Untersuchungen nach | |
| Deutschland. | |
| Vertreter von Herero und Nama haben im Jahr 2017 vor dem | |
| Bundesbezirksgericht in New York eine Sammelklage gegen die deutsche | |
| Bundesregierung eingereicht. Sie fordern unter anderem | |
| Entschädigungszahlungen. Auch andere ehemalige Kolonialmächte schauen auf | |
| diesen Prozess. Sollten die Herero und Nama Erfolg haben, könnte das | |
| weitere Klagen nach sich ziehen. Ende Januar vertagte das Gericht eine | |
| Anhörung zu der Frage, ob die Klage überhaupt zulässig ist. Am 3. Mai soll | |
| es weitergehen. | |
| ## Leopardenfell mit Kopf | |
| Im Elternhaus von Gerhard Ziegenfuß gibt es eine Familienlegende: Der | |
| Großonkel von Ziegenfuß geht im Jahr 1900 als Missionar in die damalige | |
| Kolonie Deutsch-Südwestafrika, um die Menschen dort zum Christentum zu | |
| bekehren. Pater Alois Ziegenfuß ist im Eichsfeld, einer katholischen | |
| Enklave im protestantischen Thüringen, ein hoch angesehener Mann und der | |
| ganze Stolz der Familie. Als der Kolonialkrieg ausbricht, wird er als | |
| Feldgeistlicher eingezogen und betreut die Truppe als Seelsorger. Der | |
| Schädel, so geht die Familienlegende, soll einem Häuptling gehört haben und | |
| dem Pater Alois Ziegenfuß von einem bekehrten Stamm als Geschenk übergeben | |
| worden sein. Der soll ihn zusammen mit Tiergebeinen in eine Kiste gepackt | |
| und seiner Familie in Thüringen geschickt haben. | |
| Gerhard Ziegenfuß, Jahrgang 1940, wächst in einem Bauernhaus in Thüringen | |
| auf, in dem schon sein Großonkel geboren ist. In der Diele liegt damals ein | |
| Leopardenfell mit Kopf, in der Vitrine stehen zwei Elefantenfiguren aus | |
| Ebenholz. In der Familie erzählt man sich abenteuerliche Geschichten über | |
| die Jagdzüge des Onkels und den „Krieg gegen die Wilden“. Der Schädel ist | |
| seit Jahrzehnten im Wohnzimmerschrank verstaut. Über ihn zu sprechen | |
| vermeidet die Familie. | |
| Bis sich im Jahr 1960 Gerhard Ziegenfuß, inzwischen Biologiestudent in | |
| Münster, an den Totenkopf im elterlichen Wohnzimmerschrank erinnert. Im | |
| Anatomiekurs an der Universität vermessen sie Schädel. Die anderen | |
| Studenten belächeln Ziegenfuß wegen seines Plastikschädels, sie haben | |
| echte. Kurz entschlossen fährt er zu seinem Elternhaus in der DDR. So | |
| gelangt der Schädel über die deutsch-deutsche Grenze ins Münsterland, wo | |
| Ziegenfuß noch heute lebt. Dort landet er nach dem Studium im Keller. | |
| Ziegenfuß heiratet, wird Gymnasiallehrer und Vater von zwei Kinder. Den | |
| Schädel vergisst er. | |
| „Meine Mutter war erleichtert, als sie mir den Totenkopf gegeben hat“, sagt | |
| Ziegenfuß heute. Die Verbrechen der Kolonialzeit seien in der DDR kein | |
| Thema gewesen. „Da war die Geschichte mit den Weltkriegen, Stalin wurde | |
| glorifiziert. Die hatten anderes zu tun.“ | |
| Im Jahr 1995 besucht Helmut Kohl als erster deutscher Kanzler seit 1908 | |
| Namibia. Ein Zusammentreffen mit Herero-Abgesandten meidet er. Die deutsche | |
| Regierung bedauert das Geschehene, spricht aber nicht von Völkermord – mit | |
| dem Hinweis, dass die UN-Völkermordkonvention von 1948 nicht rückwirkend | |
| gelte. | |
| Im selben Jahr entrümpelt Gerhard Ziegenfuß mit seiner Frau Friederike den | |
| Keller. Über die Jahre als Biologielehrer hat Ziegenfuß eine Sammlung an | |
| tierischen Knochen gehortet. Da liegt auch der Schädel. „Das kannst du | |
| unseren Söhnen nicht antun, dass sie plötzlich diesen Schädel vererbt | |
| kriegen“, sagt seine Frau. Der Schädel muss also weg. | |
| Doch was tun damit? Der Vorschlag eines Kollegen, den Schädel in einer | |
| Plastiktüte in der Straßenbahn zu vergessen, kommt für Ziegenfuß nicht | |
| infrage. Er will ihn dorthin zurückbringen, wo er hergekommen ist. Einer | |
| seiner Schüler plant eine Reise nach Namibia. Ziegenfuß will ihm den | |
| Schädel mitgeben. Doch was wird der Zoll dazu sagen? Er lässt die Idee | |
| fallen. So einfach kann er sich seines kolonialen Erbes nicht entledigen. | |
| Zum hundertsten Jahrestag des Genozids an den Herero und Nama nimmt die | |
| Bundesentwicklungsministerin Heidemarie Wieczorek-Zeul (SPD) im Jahr 2004 | |
| an einer Gedenkfeier am Waterberg in Namibia teil. „Die damaligen | |
| Gräueltaten waren das, was heute als Völkermord bezeichnet würde“, sagt sie | |
| anschließend in ihrer Rede und bittet um Vergebung. Es ist das erste Mal, | |
| dass eine offizielle Vertreterin Deutschlands das Wort ausspricht. Doch die | |
| Äußerung ist nicht abgesprochen. Die Bundesregierung zieht sich schnell auf | |
| die alte Position zurück, spricht weiter von Gräueltaten, um | |
| Entschädigungsforderungen zu vermeiden. | |
| ## „Der Schädel gehört nicht in dieses Haus“ | |
| Im Jahr 2008 tauchen in den anthropologischen Sammlungen der Universität | |
| Freiburg Schädel aus Namibia auf, das Fernsehmagazin „Fakt“ berichtet | |
| darüber. Zur selben Zeit wird bei Familie Ziegenfuß renoviert. Friederike | |
| Ziegenfuß hat genug. „Der Schädel gehört nicht in dieses Haus“, sagt sie | |
| ihrem Mann, „finde endlich eine Lösung“. | |
| Gerhard Ziegenfuß ist inzwischen pensioniert, es gibt keine Ausreden mehr. | |
| Er beschließt, sich der Sache zu widmen. Dass er bald mitten in die | |
| diplomatischen Verwerfungen zwischen Deutschland und Namibia geraten würde, | |
| mitten in den Konflikt über die schleppende Aufarbeitung der kolonialen | |
| Verbrechen, ahnt Gerhard Ziegenfuß zu diesem Zeitpunkt nicht. | |
| Zunächst versucht er, den Schädel über den offiziellen Weg an Namibia | |
| zurückzugeben und wendet sich an die namibische Botschaft in Berlin. | |
| E-Mail von der namibischen Botschaft am 25. August 2008: Sehr geehrter Herr | |
| Ziegenfuß, herzlichen Dank, dass Sie diese wichtige Information mit uns | |
| teilen, und ich kann Ihnen versichern, dass die Botschaft Sie in jeder | |
| Hinsicht unterstützen wird. | |
| E-Mail vom Auswärtigen Amt am 18. Mai 2009: Sehr geehrter Herr Ziegenfuß, | |
| die namibische Botschaft hat Kontakt mit dem Auswärtigen Amt aufgenommen | |
| und uns Ihre Schreiben an die Botschaft von August und September 2008 | |
| übermittelt. Sie schreiben darin, dass Sie im Nachlass Ihres Großonkels | |
| einen Schädel vorgefunden haben, der aus Namibia stamme und den Sie gerne | |
| dorthin zurückführen möchten. Dieses Anliegen möchten wir gerne | |
| unterstützen. | |
| Es gibt in Deutschland kein Gesetz, das die Rückgabe von geraubten | |
| menschlichen Überresten regelt. Nachdem in anthropologischen Sammlungen von | |
| Berlin über Dresden bis Freiburg Gebeine aus ehemaligen Kolonien gefunden | |
| worden sind, fordern die Nachfahren diese aber zurück. Im Jahr 2010 startet | |
| in Berlin das Charité Human Remains Project, das die Herkunft und den | |
| Gewerbskontext der Knochen klären soll. Das ist in vielen Fällen schwierig: | |
| Ohne historische Quellen ist eine Zuordnung zu einer Bevölkerungsgruppe | |
| kaum möglich. Die Gebeine auf biologische Merkmale zu untersuchen, ist | |
| zudem problematisch, da Wissenschaftler mit den Methoden und auf Grundlage | |
| kolonialen Wissens arbeiten. | |
| Im Jahr 2011 reist eine Delegation aus Namibia nach Berlin, um 20 Schädel | |
| entgegenzunehmen. Es ist die erste Restitution namibischer Schädel in | |
| Deutschland. Bei den Übergabefeierlichkeiten kommt es zum Eklat. Die | |
| Staatsministerin im Auswärtigen Amt, Cornelia Pieper von der FDP, findet in | |
| ihrer Rede viele Worte für das Geschehene, sie spricht von blutiger | |
| Niederschlagung, Brutalitäten, Zwangsarbeit, Gräueltaten. Den Begriff | |
| Genozid meidet sie. Als Pieper dem namibischen Volk „Versöhnung“ anbietet, | |
| protestieren Aktivisten im Publikum lautstark, Pieper verlässt grußlos den | |
| Saal. | |
| Gerhard Ziegenfuß ist zu der offiziellen Übergabe in Berlin eingeladen, | |
| doch er nimmt nicht teil. Seinen Schädel hat er im Jahr 2009 per Post an | |
| einen Humanbiologen in Berlin geschickt, der den Ursprung untersuchen soll. | |
| Um das Übrige, nimmt Ziegenfuß an, werden sich dann die namibische | |
| Botschaft und das Auswärtige Amt kümmern. Er glaubt, die Vergangenheit los | |
| zu sein. | |
| Doch sie holt ihn wieder ein. An einem Tag kurz vor Weihnachten 2012 | |
| bekommt er ein Paket. Es ist der Schädel, versehen mit einer kurzen Notiz | |
| des Humanbiologen, er habe keine Zeit gehabt, sich damit | |
| auseinanderzusetzen. „Ich muss ehrlich sagen, wenn ich gewusst hätte, dass | |
| in dem Paket der Schädel ist, hätte ich die Annahme verweigert“, sagt er. | |
| Doch Ziegenfuß ist niemand, der schnell aufgibt. Er läuft Marathon, bringt | |
| die Dinge vernünftig zu Ende. Dass er den Schädel einfach nicht loswird, | |
| will er nicht hinnehmen. Jetzt erst recht nicht mehr. | |
| Ziegenfuß schickt den Schädel erneut zur Klärung seiner Herkunft an die | |
| Charité nach Berlin, und als er dort kein eindeutiges Ergebnis bekommt, | |
| nach München zur Isotopen-Untersuchung und nach Münster zur DNA-Analyse. | |
| Anfang März 2014 gibt Deutschland zum zweiten Mal Schädel an Namibia | |
| zurück, der von Ziegenfuß ist nicht dabei. | |
| ## Reise nach Namibia | |
| Weil sich auf offiziellem Weg nichts tut, beschließt er, den Schädel selbst | |
| nach Namibia zu bringen. | |
| E-Mail von Gerhard Ziegenfuß an die namibische Botschaft vom 18. März 2014: | |
| Nächste Woche werde ich die Ergebnisse der Isotopen-Untersuchung des | |
| Schädels, der sich über 100 Jahre in der Obhut meiner Familie befunden hat, | |
| von der Uni München erhalten. Wenn der namibische Ursprung bestätigt wird, | |
| plane ich nun eine persönliche Repatriierung und in dem Zusammenhang eine | |
| Bestattung in Namibia. Bzgl. der vorgesehenen Repatriierung ergeben sich | |
| ein paar Fragen: Brauche ich ein Dokument der namibischen Vertretung für | |
| die Einreise bzw. die Kontrollen beim Einchecken für den Flug? Wer könnte | |
| in Namibia Ansprechpartner für die geplante Bestattung sein? | |
| E-Mail von der namibischen Botschaft vom 31. März 2014: Sehr geehrter Herr | |
| Ziegenfuß, sollte der namibische Ursprung bestätigt werden, wäre es nicht | |
| im Sinn der Sache, dass Sie den Schädel nach Namibia bringen, um ihn dort | |
| zu bestatten. Auch wenn der Schädel nach hiesigen Regeln wohl in Ihrem | |
| Eigentum ist, so sollte die Rückgabe, bzw. Rückführung in jedem Fall in | |
| Einvernehmen mit der namibischen Regierung stattfinden, was ja auch in | |
| Ihrem Sinn ist. | |
| Befund des Instituts für Rechtsmedizin des Universitätsklinikums Münster | |
| vom 21. Juli 2014: Die Ergebnisse der genetischen Analyse sind mit der | |
| Annahme vereinbar, dass es sich bei dem untersuchten Schädel um den Schädel | |
| eines Mannes aus dem Raum südlich der Sahara handelt, wahrscheinlich aus | |
| dem westlichen oder zentralen Raum des südlichen Afrikas. | |
| ## „Wirf den Schädel in den Rhein“ | |
| Gerhard Ziegenfuß fährt trotzdem nach Namibia, ohne den Schädel. Er will | |
| dort mit Vertretern der Herero und Nama sprechen und im Archiv des | |
| Oblatenordens seines Großonkels nach Spuren suchen, die etwas über die | |
| Identität des Toten verraten, zu dem der Schädel gehört. Doch die Reise ist | |
| wenig erfolgreich. Die Oblatenbrüder lassen ihn nicht in ihr Archiv. Die | |
| Herero und Nama wollen den Schädel nicht annehmen, wenn nicht geklärt ist, | |
| welcher Ethnie er angehört. Ziegenfuß begreift, wie wenig er über die | |
| Gefühle der Betroffenen weiß. | |
| Der Sprecher der Ovaherero Genocide Foundation, Festus Muundjua, antwortet | |
| auf die Frage, was Ziegenfuß mit dem Schädel tun solle: „Wenn die Regierung | |
| ihn nicht haben will, wirf ihn in den Rhein.“ Aus seinen Worten spricht | |
| Verbitterung. Vertreter der Herero haben die Bundesregierung aufgefordert, | |
| den Völkermord offiziell anzuerkennen und die Nachfahren der Genozidopfer | |
| förmlich um Entschuldigung zu bitten. Doch die Bundesregierung verhandelt | |
| bis heute mit der namibischen Regierung, die Nachfahren der Opfer fühlen | |
| sich ausgeschlossen. | |
| Im Juni 2016 erkennt der Bundestag mit der Armenienresolution das türkische | |
| Massaker an den Armeniern 1915 als Völkermord an. Über den Genozid in | |
| Namibia kein Wort. | |
| Im Januar 2017 reichen Vertreter der Herero und Nama in New York eine | |
| Sammelklage gegen Deutschland ein. Die Bundesregierung hält den Prozess für | |
| unzulässig und beruft sich auf den Grundsatz der Staatenimmunität: Das New | |
| Yorker Gericht sei dafür nicht zuständig. Die jetzt lebende | |
| Urenkelgeneration sei zudem nicht unmittelbar persönlich vom Völkermord | |
| betroffen und habe daher keinen Anspruch auf Entschädigung, sagt Ruprecht | |
| Polenz, der Sondervermittler in den Verhandlungen mit Namibia. | |
| Gerhard Ziegenfuß sucht unterdessen weiter nach Hinweisen zum Schädel. Er | |
| versucht herauszufinden, wie er zur Familie Ziegenfuß kam, klammert sich an | |
| jede Spur. Die Vergangenheit füllt sein Arbeitszimmer mit Akten. Dabei, das | |
| ist ihm wichtig, sind Gebeine nicht sein Hobby. Seine Leidenschaft gilt der | |
| Kakteen- und Rosenzucht. | |
| Den Schädel zurückzugeben, das war für ihn anfangs eine lästige Pflicht, | |
| dann eine Herausforderung. Inzwischen weiß er so viel über die Verbrechen | |
| der Kolonialzeit, dass der Schädel für ihn zum Symbol geworden ist: für | |
| eine Schuld, die nicht gesühnt wurde. Das Verhalten Deutschlands findet er | |
| unsäglich. „Bei uns ist die Auseinandersetzung mit der Kolonialgeschichte | |
| an Peinlichkeit nicht zu überbieten, da könnte ich mich für schämen“, sagt | |
| er. Je mehr er versucht, den Schädel würdevoll zurückzugeben, je | |
| schwieriger die Restitution wird, desto mehr wird sie für ihn zur ethischen | |
| Verpflichtung. | |
| Brief vom Auswärtigen Amt und der namibischen Botschaft vom 7. Juli 2017: | |
| Auf Bitten der namibischen Regierung planen wir jetzt nach 2011 und 2014 | |
| eine weitere Rückführung von Gebeinen, die voraussichtlich in der zweiten | |
| Jahreshälfte stattfinden und die menschlichen Überreste einbeziehen soll, | |
| deren Herkunft aus Namibia zweifelsfrei geklärt ist. […] Für Ihre | |
| Zusammenarbeit danken wir Ihnen erneut sehr herzlich. Sie ist essentiell, | |
| um dieses finstere Kapitel der Kolonialgeschichte aufzuarbeiten und den | |
| Verstorbenen endlich eine letzte Ruhe in Würde zu ermöglichen. | |
| Dieses Mal steht der Name von Gerhard Ziegenfuß auf der Liste der | |
| angeschriebenen Institutionen. Klappt die Übergabe jetzt doch endlich? | |
| ## „Gefangene Eingeborene“ | |
| Ein Tag im Juli, der Ziegenfuß’sche Wohnzimmertisch ist übersät mit | |
| Postkarten des Missionars. Siebzig sind erhalten geblieben, Herero sind | |
| darauf zu sehen, mit Ketten um den Hals, ein Reiter in der Steppe. | |
| Ziegenfuß hat die Karten nach Datum, Absendeort, Motiv und Adressat | |
| geordnet. Ganz rechts hat er Stichwörter zum Inhalt der Karte notiert. | |
| 22.09.1900 Hamburg – Abreise nach Afrika, 07.10.1900 Kanarische Inseln – | |
| „Es lebe Afrika!“, 1.11.1900 Swakopmund – Gefangene Eingeborene, dahinter | |
| hat Ziegenfuß ein Ausrufezeichen gesetzt. 03.06.1908 Otawi, „Mutter bekommt | |
| das 1. Tigerfell“. | |
| Von einem Schädel ist nirgends die Rede. Nur in einer Postkarte aus dem | |
| Jahr 1913 erkundigt sich Alois Ziegenfuß nach dem Erhalt der „Gehörne“. I… | |
| das die Kiste mit den Tiertrophäen, in der auch der Totenkopf zur Familie | |
| gelangte? Ziegenfuß glaubt nicht an die tradierte Familienerzählung. | |
| „Welcher Stamm verschenkt Gebeine von Angehörigen?“, fragt er. | |
| An einem schönen Oktobertag fährt Ziegenfuß mit dem Auto ins thüringische | |
| Dingelstädt, seinen Geburtsort. Seine Schwester Agatha Kuchenbuch lebt noch | |
| immer im Haus des Großonkels. Im benachbarten Heiligenstadt gibt es ein | |
| Kreisarchiv, in dem sich Aufzeichnungen über den Missionar finden lassen | |
| müssten. Ziegenfuß schaltet das Navigationssystem ein, das letzte Mal war | |
| er vor eineinhalb Jahren zur Beerdigung seines Bruders hier. | |
| „In meiner Familie bin ich der Exot“, sagt Gerhard Ziegenfuß auf der Fahrt. | |
| Die Familie seiner Schwester verstehe nicht, warum er sich so für etwas | |
| engagiere, was so lange her ist. Für weit entfernte Verwandte ist er ein | |
| Nestbeschmutzer, weil er Dinge ausgräbt, die nicht ins Bild des guten | |
| Missionars passen, nach dem in Windhuk sogar eine Straße benannt ist. | |
| ## Tiertrophäen entsorgt | |
| Heute liegt kein Leopardenfell mehr im Elternhaus des Paters, nur ein | |
| Gemälde der namibischen Steppe erinnert an ihn. Agatha Kuchenbuch, eine | |
| Siebzigjährige mit aubergine gefärbtem Kurzhaarschnitt, tischt eine | |
| Wurstplatte und Mett auf. Sie will mit dem Familienerbe nichts zu tun | |
| haben. „Das geht mich doch gar nichts mehr an.“ Die Tiertrophäen hat sie | |
| nach der Wende entsorgt. | |
| „Jetzt sag mir mal: Wieso hat der einen Totenkopf mitgebracht?“, will sie | |
| von ihrem Bruder wissen. Ziegenfuß kann ihr das nicht beantworten. Damals | |
| habe es professionelle Schädelsammler gegeben, erklärt er, aber der | |
| Missionar sei keiner gewesen. „Was hat der dann gemacht, der Pater?“, hakt | |
| seine Schwester nach. „In seinen Tagebuchaufzeichnungen wird deutlich, dass | |
| er völkisch-nationales Gedankengut hatte, was er da geschrieben hat, ist | |
| menschenverachtend“, sagt er zögernd. Agatha Kuchenbuch nickt. „Manchmal | |
| kann man sich einer Sache nicht entziehen. Wie in der DDR. Was willst’n | |
| machen? Aus den Fängen kommst du nicht mehr raus.“ | |
| Aufzeichnungen von Pater Alois Ziegenfuß „Aus meinen Kriegerlebnissen“, | |
| 1906: Major von Estorff verfolgte unausgesetzt den flüchtenden Feind, | |
| während wir von Oparakone über Eware, Otiunda (Sturmfeld), den eisernen | |
| Ring schlossen und die Herero ihrem Schicksal überließen. […] Arme, | |
| hungernde und ermattete Weiber und Kinder wurden ohne Wasser ins Sandfeld | |
| zurückverwiesen. […] Unbemerkt ritten wir an das große Hererolager heran; | |
| um ein mächtiges Feuer in der Mitte brannten in rabenschwarzer Nacht etwa | |
| 200 kleinere Feuerchen, an denen sich die schwarze Gesellschaft plaudernd | |
| und lärmend zu schaffen machte. „Seitengewehre pflanzt auf“, erscholl das | |
| Kommando, und auf Leben und Tod, in voller Karriere, ging es hinein „ins | |
| volle Menschenleben“! | |
| Gerhard Ziegenfuß sagt: „Wie er die Kampfhandlungen beschreibt … das tut | |
| richtig weh zu lesen. Das passt überhaupt nicht, zumindest für einen | |
| Theologen.“ Mittlerweile glaubt er, dass sein Großonkel den Schädel gar | |
| nicht selbst nach Deutschland geschickt hat. Nur so kann er diesen | |
| Widerspruch auflösen. Es könnte ja sein, dass Soldaten den Schädel in die | |
| Kiste gepackt haben. Aber warum hätten sie das tun sollen? Ziegenfuß zuckt | |
| mit den Schultern. „Vielleicht war’s nur Jux. Oder um ihn zu überraschen.�… | |
| Überzeugt klingt er nicht. | |
| Früh am nächsten Morgen macht sich Ziegenfuß, der jeden Tag um fünf Uhr | |
| aufsteht, mit seinem Aktenkoffer auf den Weg ins Kreisarchiv von | |
| Heiligenstadt. Er erhofft sich eine Spur in den Zeitungen. Alois Ziegenfuß | |
| wurde im Eichsfeld verehrt, er veröffentlichte Reiseberichte und | |
| Pfingstgrüße in der Heimatzeitung. Im Lesesaal steht Ziegenfuß gebeugt über | |
| einer Ausgabe der Eichsfelder Volkszeitung vom Januar 1923. Er blättert die | |
| steifen, vergilbten Seiten um, sein Blick streift von oben nach unten. | |
| Plötzlich schlägt er auf den Zeitungsband und ruft: „Bingo! Ich wusste | |
| doch, dass wir was finden!“ Ein Reisebericht des Missionars. Aber vom | |
| Schädel – wieder kein Wort. | |
| Auch Wissenschaftler haben nicht mehr über den Schädel von Gerhard | |
| Ziegenfuß herausfinden können. Der Historiker Holger Stoecker hat im Human | |
| Remains Project der Charité die historische Quellenlage untersucht. Dass | |
| Missionare in das koloniale Projekt eingebunden waren, ist laut Stoecker | |
| belegt. „Es gibt in der Geschichte einige Beispiele dafür, dass Missionare | |
| sich am Schädelsammeln beteiligt haben“, sagt er. Dass Alois Ziegenfuß dazu | |
| gehörte, lasse sich aus den Zeitdokumenten nicht rekonstruieren. „Aber die | |
| Hemmschwelle war damals deutlich herabgesetzt, und er hatte die Möglichkeit | |
| dazu.“ | |
| Historisch ist es zumindest denkbar, dass der Pater den Schädel auf dem | |
| Feld gefunden oder von der kaiserlichen Schutztruppe überreicht bekommen | |
| hat. Doch auch Stoecker sagt: Im Fall Ziegenfuß bleiben viele Fragen offen. | |
| ## KZ auf der Haifischinsel | |
| Ein kalter Januarabend im Café Fredericks in Berlin-Wedding, dem Stammcafé | |
| der Aktivisten des Bündnisses „Völkermord verjährt nicht“. Die | |
| Lüderitzstraße, in der es liegt, ist benannt nach einem deutschen Kaufmann, | |
| der die Nama um ihr Land betrog. Es gab Proteste, nun soll die Straße einen | |
| neuen Namen bekommen. Auch das Café selbst hieß früher nach Lüderitz, heute | |
| erinnert es an Cornelius Fredericks, einen Widerstandskämpfer der Nama, der | |
| im Konzentrationslager auf der Haifischinsel ums Leben kam. | |
| Im Kleinen tut sich doch etwas im Umgang mit der kolonialen Geschichte. | |
| Auch dank Israel Kaunatjike, dem einzigen Herero-Aktivisten in Berlin. | |
| Inmitten seiner Mitstreiter sitzt er im Café. Er war im Jahr 2004 der | |
| Erste, der gefordert hat, namibische Schädel aus anthropologischen | |
| Sammlungen zu restituieren. Zum Fall Ziegenfuß sagt er: „Wenn man nicht | |
| identifizieren kann, ob der Schädel von den Herero oder von den Nama ist, | |
| kann man damit nicht viel anfangen. Wir können ihn nicht annehmen.“ | |
| Ziegenfuß tut Kaunatjike leid. „Er gibt sich seit Jahren Mühe und wird | |
| ignoriert. Diesen Mann so im Stich zu lassen, finde ich nicht gut“, sagt | |
| er. | |
| „Was sind zehn Jahre im Vergleich zu den hundert Jahren, die er den Schädel | |
| hat?“, wirft Esther Muinjangue ein. Die Vorsitzende der Ovaherero Genocide | |
| Foundation ist aus Namibia angereist. „Er kann warten, bis die Regierung | |
| sagt, jetzt ist es an der Zeit, den Schädel zu restituieren.“ | |
| ## Lost in Restitution | |
| Für Muinjangue haben die Schädel eine wichtige Funktion in der Debatte. Sie | |
| erinnern die Deutschen an den Genozid. „Wir wissen, dass sie ihn leugnen | |
| wollen“, sagt sie. „Aber jedes Mal, wenn die Schädel an die Öffentlichkeit | |
| kommen, haben sie den Beweis.“ | |
| Seit neun Jahren versucht Gerhard Ziegenfuß nun schon, den Schädel | |
| zurückzugeben. Er sei „lost in restitution“, sagt er halb ironisch, halb | |
| verzweifelt. Von der im Juli angekündigten Rückführung weiterer Schädel hat | |
| er nichts mehr gehört. Das Auswärtige Amt antwortet auf Nachfrage der taz | |
| nur, die Bundesregierung führe mit der namibischen Regierung „Gespräche | |
| über eine zukunftsgerichtete Aufarbeitung der gemeinsamen | |
| Kolonialvergangenheit“. Die namibische Botschaft ist auch nach wiederholten | |
| Anfragen nicht erreichbar. | |
| Ziegenfuß hat sich inzwischen einen anderen Weg überlegt, wie der Schädel | |
| zur letzten Ruhe kommen kann. Zufrieden ist er damit nicht, aber es wäre | |
| zumindest versöhnlich. Sollte es in absehbarer Zeit nicht mit der Rückgabe | |
| klappen, dann nimmt Gerhard Ziegenfuß den Schädel mit in sein Grab. | |
| 4 Feb 2018 | |
| ## AUTOREN | |
| Elisabeth Kimmerle | |
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| Hamburgs Kolonialismus-Forscher Jürgen Zimmerer hat ein Fotoprojekt zur | |
| künstlerischen Aufarbeitung des Genozids an den Herero und Nama aufgelegt. | |
| Deutscher Völkermord an Herero: New Yorker Gericht vertagt sich | |
| Die Bundesregierung erscheint erstmals offiziell vor Gericht in den USA – | |
| und will mehr Zeit. Kritik kommt von Herero- und Nama-Vertretern aus | |
| Namibia. | |
| Klage der Herero gegen Deutschland: Sühne für einen Völkermord | |
| Vor einem Jahr reichten Herero und Nama vor einem New Yorker Zivilgericht | |
| Klage gegen die Bundesrepublik ein. Das sind die Hintergründe. | |
| Klage der Herero gegen Deutschland: Völkermord? Nicht zuständig | |
| Vor einem Jahr haben die Nachfahren der Opfer des Genozids Klage in New | |
| York eingereicht. Die Bundesregierung ignoriert sie. |