# taz.de -- Angela Merkel im taz-Interview: „Ja, dies ist mein Land“ | |
> Man kann afghanische Flüchtlinge auch mit freundlichem Gesicht | |
> abschieben, sagt die Kanzlerin – und erklärt, was an ihr grün und links | |
> ist. | |
Bild: „Nichts würde ich mir mehr wünschen als das“ – Merkel über die F… | |
Berlin, 10 Uhr, draußen über dem Tiergarten scheint die Sonne. Drinnen im | |
siebten Stock des Kanzleramts ist es still, auf dem Gang erinnern | |
Schwarzweißfotos von Konrad R. Müller an vergangene Kanzler. Brandt und | |
Kiesinger hängen etwas schief. Sonst ist alles perfekt, Angela Merkel | |
wartet an der Tür ihres hellen, großen Arbeitszimmers. An einem Ende des | |
Konferenztischs liegen Akten, Autogrammkarten und ein Bernstein. Sie setzt | |
sich ans andere Ende. Sie weiß, dieses Interview ist eine Premiere. | |
taz: Frau Bundeskanzlerin, Winfried Kretschmann hat gesagt, er bete jeden | |
Tag für Sie. Beten Sie manchmal auch für den Grünen Kretschmann? | |
Angela Merkel: Das muss ich mit Nein beantworten. So konkret politisch bete | |
ich sowieso nicht, aber das ist ohnehin eine sehr private Angelegenheit. | |
Unabhängig davon schätze ich Ministerpräsident Kretschmann sehr. | |
Ihr jüngerer Bruder Marcus war während der Wendezeit bei Bündnis 90. Warum | |
sind Sie damals eigentlich nicht bei Bündnis 90 und dann den Grünen | |
gelandet? | |
In der Tat habe ich im Herbst 1989 einen Suchprozess durchgemacht. Ich war | |
beim Demokratischen Aufbruch und bei der SDP, wie die Sozialdemokraten in | |
der DDR damals noch hießen, und ich habe mir natürlich auch das Neue Forum, | |
den Vorläufer von Bündnis 90, angesehen. Aber das Neue Forum stand für den | |
sogenannten dritten Weg, eine demokratisch erneuerte DDR, und daran glaubte | |
ich nicht. Ich gehörte zu denen, die die schnelle deutsche Einheit wollten, | |
die soziale Marktwirtschaft. Schon am Tag der Maueröffnung haben etliche | |
meiner Freunde das ganz anders bewertet als ich. So bin ich beim | |
Demokratischen Aufbruch gelandet und schließlich in der Allianz für | |
Deutschland, in der wir dann mit der Deutschen Einheit 1990 CDU-Mitglieder | |
wurden. | |
Unsere Frage zielte auf Ihren möglicherweise grünen Kern ab. | |
Das habe ich auch so verstanden. Ich war ja Bundesumweltministerin, eine | |
sehr spannende Zeit. Und ich habe mich auch in der CDU dafür eingesetzt, | |
dass wir in unserem Grundsatzprogramm nicht nur von der sozialen, sondern | |
auch von der ökologischen Marktwirtschaft sprechen. Andererseits habe ich | |
zum Beispiel 1986, als das furchtbare Reaktorunglück in Tschernobyl | |
passierte, allein die sowjetischen Verhältnisse dafür verantwortlich | |
gemacht, den schlechten Sicherheitsstandard dort und nicht die friedliche | |
Nutzung der Kernenergie an sich. Es hat dann noch bis zur Katastrophe von | |
Fukushima im Jahr 2011 gedauert, bis ich meine Haltung grundsätzlich | |
geändert habe. | |
In Reden und erst neulich im Wahlkampf gebrauchen Sie immer wieder das Bild | |
von der „frischen Luft“. Ist das Ihr Begriff von Grün? | |
Damit meine ich, dass man sich immer wieder ins Neue vorwagen muss. Wir | |
leben in einer Welt großer Veränderungen. Und frische Luft heißt da | |
einfach: immer wieder über den Tellerrand gucken, neugierig sein, auf Neues | |
zugehen. Manchmal denke ich, dass wir in Deutschland auf so hohem Niveau | |
leben, dass wir nicht immer innovationsfreudig genug sind. | |
Ist irgendwas an Ihnen links? | |
Ich kann mit solchen Schubladen wenig anfangen. Schauen Sie, erst mal bin | |
ich CDU, mit der ich liberale, christlich-soziale und konservative Wurzeln | |
gleichermaßen verbinde. Mir ist die menschliche Gestaltung der | |
Globalisierung wichtig, ebenso wie das Thema Nachhaltigkeit, also | |
Generationengerechtigkeit, nachhaltige Finanzen und Ressourcenverbrauch. | |
Daran habe ich immer gearbeitet. | |
Aber nichts Linkes. | |
Sie möchten gerade definieren, was ich nicht bin, und ich antworte jetzt | |
damit, was ich bin. Aus den liberalen, christlich-sozialen und | |
konservativen Wurzeln der CDU, die ich sehr achte, ergeben sich bestimmte | |
Berührungspunkte mit dem, was man gemeinhin links nennt. Nehmen Sie zum | |
Beispiel das Christlich-Soziale: Die christliche Soziallehre hat auch | |
Berührungspunkte mit sozialdemokratischem Denken, die CDU hat sich zum | |
Beispiel immer zur wichtigen Rolle der Gewerkschaften bekannt, denn es ist | |
immer wichtig, sowohl über das Erwirtschaften des Wohlstands als auch über | |
gerechte Verteilung zu sprechen. Ich weiß nicht, ob das für Sie links ist | |
oder nicht – für mich ist es christlich-sozial oder anders gesagt CDU pur. | |
Was sagen Sie: Leiden die Grünen mittlerweile darunter, dass sie sich zu | |
weit von ihren linken Wurzeln entfernt haben und auf Sie und die | |
bürgerliche Mitte zubewegt haben? | |
Auch die Grünen haben ja aus meiner Sicht unterschiedliche Wurzeln. Eine, | |
wie ich es sagen würde, sehr staatskritische Wurzel und eine, bei der es um | |
die Bewahrung der Schöpfung geht. Bei diesem behutsamen Umgang mit der | |
Schöpfung sehe ich große Nähe zu meinen Überzeugungen in der CDU. Und | |
dennoch gibt es auch eine sehr starke Staatskritik, die wir in der CDU und | |
ich persönlich überhaupt nicht teilen. | |
Worin sehen Sie die Aufgabe der Grünen im Parteienspektrum? | |
Es ist nicht an mir, den Platz der Grünen im politischen Spektrum zu | |
definieren. Das würde ich umgekehrt auch nicht mögen. Wichtig scheint mir, | |
dass sie sich immer wieder neue Themen erarbeiten, weil sich manche Themen, | |
zum Beispiel die Kernenergie, weitgehend erledigt haben. Ich stelle mir | |
vor, dass die humane Gestaltung der Globalisierung auch für die Grünen ein | |
spannendes Thema sein kann. | |
Frau Merkel, in den ersten Wochen der großen Flüchtlingsdebatte, am 15. | |
September 2015, haben Sie hier im Kanzleramt eine Pressekonferenz gegeben. | |
Auf die Frage, ob Sie Flüchtlinge zum Kommen nach Deutschland animiert | |
haben, erwiderten Sie: „Wenn wir jetzt anfangen, uns noch entschuldigen zu | |
müssen dafür, dass wir in Notsituationen ein freundliches Gesicht zeigen, | |
dann ist das nicht mein Land.“ Hatten Sie sich den Satz vorher überlegt? | |
Nein, ich hatte mir den Satz nicht zurechtgelegt. Er kam auf eine | |
Nachfrage, was ich zu dem Vorwurf sagen würde, dass ich durch mein Vorgehen | |
Flüchtlinge zur Flucht animiert hätte. | |
Der Selfie-Vorwurf. | |
Unter anderem. Ich fand das abwegig, in zweierlei Hinsicht. Einmal waren | |
bis zu dieser Aussage im Sommer 2015 schon rund 400.000 Flüchtlinge | |
gekommen. Es gab außerdem Mitte August eine Prognose des | |
Bundesinnenministeriums von 800.000 Flüchtlingen für das gesamte Jahr. Zum | |
Schluss kamen rund 890.000, wir lagen also nicht ganz daneben. Das Zweite | |
war, dass es ja gar nicht allein meine Haltung war, sondern die der | |
Menschen am Bahnhof in München und anderswo, der vielen Menschen, die die | |
Geflüchteten freundlich aufgenommen haben. In dieser Situation habe ich | |
gesagt: Wenn man Menschen hilft und kein freundliches Gesicht dazu machen | |
darf, dann ist das nicht mein Land. Das war spontan. Es kam aus meinem | |
Innersten. Weil das meine Überzeugung ist. | |
Viele Linke und Linksliberale, auch viele taz-Leser haben damals gestutzt: | |
Ups, dürfen wir Merkel gut finden? Und in der taz entstand ein Titel, der | |
das mit Herzen thematisierte. | |
Wir haben ja gerade über die christlich-sozialen Wurzeln der Parteien | |
gesprochen. In diesem Sinne war mein Satz eine Aussage, die genauso im | |
Einklang mit Prinzipien der CDU wie mit Prinzipien anderer Menschen und | |
sicher auch anderer Parteien stand. | |
Waren die Sympathiekundgebungen von links damals ein ernster Hinweis für | |
Sie, wie weit weg Sie sich zu diesem Zeitpunkt von Ihren Konservativen | |
entfernt hatten? | |
Nein. Auch viele in der Union haben es ja durchaus unterstützt, die | |
Flüchtlinge aus Ungarn nach Deutschland einreisen zu lassen. Erst waren | |
diese Menschen mit Zügen gekommen, dann zu Fuß, weil Ministerpräsident | |
Orbán ihnen urplötzlich die Reisemöglichkeit entzogen hatte. Die großen | |
Meinungsunterschiede drehten sich viel mehr um die Frage: Wie geht es | |
weiter? Mir war klar: so natürlich nicht, denn kriminelle Schlepper und | |
Schleuser verdienten mit dem Elend der Flüchtlinge ihr Geld. Deshalb habe | |
ich ab Anfang September an diesem EU-Türkei-Abkommen gearbeitet, nachdem | |
ich schon den ganzen Sommer darüber nachgedacht hatte. Das ist viele | |
Monate ja gar nicht beachtet worden. Ich war dann, vorsichtig formuliert, | |
sehr erstaunt, dass das Abkommen, als es Mitte März 2016 abgeschlossen | |
werden konnte, auf eine so negative Bewertung stieß, und zwar | |
parteiübergreifend. Trotzdem war das der einzige Weg, eine gewisse Ordnung | |
und Steuerung in diese Sache zu bringen, und zwar so, dass es auch im | |
Interesse der Zuflucht suchenden Menschen ist und das Sterben in der Ägäis | |
aufhören kann. | |
Sie haben das freundliche Gesicht gegen ein hartes, strenges ausgetauscht. | |
Aussetzung des Familiennachzugs für subsidiär Schutzberechtigte, vor allem | |
Syrer. Die Möglichkeit, psychisch Kranke abzuschieben. Abschiebungen ohne | |
Ankündigung, Abschiebungen nach Afghanistan. Ist dieses Land damit immer | |
noch „ihr Land“? | |
Ja, dies ist mein Land, denn wir geben jedem, der in Deutschland um Asyl | |
bittet, die Chance, einen Antrag zu stellen, und wir schaffen bessere | |
Lebensbedingungen vor Ort, in dem wir Fluchtursachen bekämpfen. Zugleich | |
müssen wir auch deutlich machen, dass es Regeln gibt. An der Stelle finde | |
ich übrigens, dass die grüne Programmatik sehr unklar ist. Sie drückt sich | |
um die schweren Fragen. Wir helfen Afrika doch nicht, indem wir sagen, dass | |
wir jeden aufnehmen, der kommen möchte. Wir müssen ganz anders an die Sache | |
herangehen: Flucht- und Migrationsursachen bekämpfen, zu besseren | |
Lebensbedingungen beitragen und Perspektiven in den Heimatländern schaffen, | |
legale Wege der Migration finden, statt den Schleppern die Hand zu reichen. | |
Deshalb gehören zu unserem humanitären Asylrecht auch die strengen Regeln. | |
Im Übrigen kann man eine Rückführung mit einem freundlichen Gesicht | |
verbinden. | |
Wie soll das gehen, Abschiebungen mit einem freundlichen Gesicht? | |
Es ist ohne Zweifel ein schwerer Weg, den dieser Mensch gehen muss, aber | |
auch dabei kann und soll man ihm mit Respekt und Menschlichkeit begegnen. | |
Wir sollten nicht die einfache Botschaft senden, dass Millionen Menschen | |
zum Beispiel aus Afghanistan bei uns eine neue Heimat finden, sosehr ich | |
auch Verständnis für wirtschaftliche Not habe. In diesen Fragen, das sage | |
ich ganz offen, spüre ich, wie schwer politische Verantwortung auch sein | |
kann. Ich sehe die individuellen Schicksale – aber ich muss auch ordnen, | |
steuern und darauf achten, dass Illegalität nicht noch gefördert wird. Das | |
würde niemandem helfen. | |
Sie haben Afrika angesprochen. Um Flüchtlinge dort aufzuhalten, paktieren | |
Sie mit dem verbrecherischen Regime im Sudan. Das bekommt sogar 100 | |
Millionen Euro von der EU, die deutsche Gesellschaft für Internationale | |
Zusammenarbeit schult sudanesische Polizisten. Ist das „ihr Land“, ein Land | |
also, das mit dieser weltweit geächteten Diktatur zusammenarbeitet? | |
Wenn in Deutschland über Afrika und Migration gesprochen wird, geht es | |
meist um die Menschen, die von Libyen nach Italien kommen. Was oft zu wenig | |
gesehen wird: Auf dem Kontinent selbst gibt es enorme | |
Binnenfluchtbewegungen. Wir legitimieren natürlich überhaupt nicht das | |
Regime im Sudan. Wir gehören zu denen, die den dortigen Präsidenten | |
al-Baschir boykottieren. Dennoch stellt sich die Frage, welche und wie viel | |
Entwicklungszusammenarbeit trotzdem sinnvoll ist und wie man Staatlichkeit | |
dort festigt. | |
Der ehemalige Sudan-Ermittler der UN, Jérôme Tubiana, sagt, es sei „eine | |
Schande“, dass die GIZ sich auf so eine Zusammenarbeit einlasse. Es sei bei | |
solchen Trainings unklar, wer ein Scherge sei, egal welche Uniform er | |
gerade trage. | |
Sehen Sie, der Sudan ist ein wichtiges Transit-, Herkunfts- und | |
Aufnahmeland von Flüchtlingen am Horn von Afrika. Fast 400.000 Flüchtlinge | |
haben dort Zuflucht gefunden, vor allem aus Südsudan und Eritrea. Sudan ist | |
somit ein Schlüsselland für die Bewältigung der Migration am Horn von | |
Afrika. Wir wollen gezielt gegen Schleusertum, Menschenhandel und illegale | |
Migration vorgehen. Dazu arbeiten wir mit der EU, den Vereinten Nationen | |
und internationalen Organisationen wie IOM an der Verbesserung der | |
Lebensbedingungen von Flüchtlingen, Verbesserung des Grenzschutzes, bei der | |
Rückkehr und bei Informationskampagnen eng zusammen. | |
Grenzmanagement-Maßnahmen werden dabei als Teilbereich des so genannten | |
Migrationsmanagements durchgeführt. Dabei soll etwa erreicht werden, dass | |
Beamte des Grenzmanagements Schutzbedürftige, also zum Beispiel Betroffene | |
des Menschenhandels, erkennen und sie unter Beachtung aller internationalen | |
Standards an die zuständigen staatlichen beziehungsweise | |
zivilgesellschaftlichen Stellen weitervermitteln. Dabei prüfen wir sehr | |
sorgfältig, mit wem wir zusammenarbeiten. | |
Nach Deutschland darf man allein aus politischen, aus humanitären Gründen. | |
Es fehlt die zweite Tür. Würde ein viertes Kabinett Merkel ein | |
Einwanderungsgesetz schaffen? | |
Wir haben in unser Regierungsprogramm geschrieben, dass kein freier | |
Arbeitsplatz unbesetzt bleiben darf, und wir haben uns in dem Zusammenhang | |
erstmals ausdrücklich auch zu einem Fachkräfte-Zuwanderungsgesetz bekannt. | |
Es gibt ja heute schon Mechanismen, etwa die Blue Card. Zum Teil haben wir | |
aber auch noch eher komplizierte Prozeduren. | |
Nirgendwo steht ganz oben: Einwanderung nach Deutschland ist möglich. | |
Einwanderung nach Deutschland ist eine Realität. Wir haben den europäischen | |
Binnenmarkt und damit die Freizügigkeit für jeden Europäer. Im | |
Regierungsprogramm bekennen wir uns dazu, dass wir Zuwanderung brauchen. | |
Ich kann mir sehr gut vorstellen, dass wir mit afrikanischen Ländern | |
Kontingente vereinbaren, wonach eine bestimmte Anzahl von Menschen hier | |
studieren oder arbeiten kann. So würden wir Anreize dafür schaffen, legale | |
Wege zu finden. Nur zu sagen, Illegalität geht nicht, und gar nichts | |
anzubieten, ist falsch. | |
Geht es Ihnen da also um „nützliche“ Flüchtlinge? | |
Nutzen finde ich im Zusammenhang mit Menschen einen falschen Begriff. | |
Flüchtlingen, die nach Deutschland gekommen sind, müssen wir Schutz vor | |
Krieg und politischer Verfolgung gewähren. Bei Menschen, die zu uns aus | |
wirtschaftlichen Gründen kommen wollen, geht es natürlich darum, dass | |
diejenigen kommen, die wir brauchen, Pflegekräfte beispielsweise. Aber eine | |
Einwanderung in ein Studium oder eine Arbeitsmöglichkeit ist auch im | |
Interesse der Migranten und eröffnet ihm oder ihr neue Chancen. | |
Zu einem anderen Thema: Sie haben viele Jahre eng mit der Autoindustrie | |
zusammengearbeitet. Die Vorstandsvorsitzenden durften oft hierher zu Ihnen | |
ins Kanzleramt kommen und ihre Sorgen vortragen … | |
… Herr Zetsche war auch schon auf dem Grünen-Parteitag. | |
… Und jetzt schlagen Sie neue Töne gegenüber der Autoindustrie an: Es sei | |
betrogen worden. Schonungslose Aufklärung sei nötig. Ist das wieder so ein | |
Rollenwechsel Marke Merkel? Von der Freundin der Autobosse zur Anklägerin | |
der Autobosse? | |
Weder noch. Die Automobilindustrie ist eine eminent wichtige Säule unserer | |
Wirtschaft. Sie beschäftigt 800.000 bis 900.000 Menschen, und das sind sehr | |
gute Arbeitsplätze. Diese Industrie ist in einem starken Umbruch: durch die | |
Digitalisierung, durch neue Antriebstechnologien. Jetzt ist es in unser | |
aller Interesse, dass dieser Wirtschaftszweig die Zeichen der Zeit nicht | |
verschläft. Nun sind aber gravierende Vorkommnisse passiert, die uns alle | |
zu Recht empören. Damit setze ich mich auseinander. | |
Warum haben Sie nicht viel früher auf ein schnelleres Umdenken Richtung | |
Zukunft gedrängt? | |
Ich habe mich immer wieder damit befasst, ob die Automobilindustrie mit der | |
Entwicklung auch wirklich mitgeht. Da war das Tempo nicht so hoch, aber man | |
hat ja inzwischen auch einiges getan. Die Automobilfirmen stecken besonders | |
viel in Forschung und Entwicklung. Die Frage ist nur, ob sie sich immer auf | |
die richtigen Schwerpunkte konzentriert haben. Nun muss die Politik | |
schonungslos benennen, wo etwas falsch gelaufen ist. Da Maß und Mitte zu | |
finden, das ist die Aufgabe. | |
Im Klimaschutz versagt die Autoindustrie völlig. Aus deutschen Autos kommen | |
heute praktisch so viele Co2-Emissionen wie 1990. Ist diese Industrie so | |
veränderungsresistent, dass sie untergehen könnte? | |
Dass sie im Klimaschutz völlig versagt, sehe ich nicht so. Unsere | |
europäischen Co2-Vorgaben für die Flotten der einzelnen Hersteller sind | |
durchaus ambitioniert. Die Zahl der Autos ist ja seit 1990 auch erheblich | |
gestiegen. Aber wir sind uns einig: Wenn dieses Jahrhundert weitgehend | |
Co2-frei enden soll, dann muss sich im Verkehr massiv etwas ändern. Auf | |
diese Veränderung, ob sie nun in der E-Mobilität liegt oder in der | |
Wasserstoff-Brennstoffzelle, muss sich die Industrie vorbereiten. | |
Verbrennungsmotoren bleiben für längere Zeit noch als Brückentechnologie | |
wichtig. Deshalb müssen wir aufpassen, dass wir nicht auch moderne und | |
insbesondere die sauberen Diesel verteufeln, sonst werden wir die | |
Co2-Vorgaben kaum einhalten können. | |
Alle Welt streitet über Fahrverbote für Diesel in Innenstädten. Aber das | |
Problem kommt vor allem daher, dass sich der Bund weigert, eine | |
einheitliche Regelung zu treffen. Eine blaue Plakette für neuere | |
Dieselwagen würde schon helfen. Warum verweigert der Bund die? | |
Die Grenzwerte für Stickoxide werden überschritten, und daran müssen wir | |
etwas ändern. Jetzt könnte man mit Fahrverboten für bestimmte Autotypen | |
antworten, dafür gäbe es die blaue Plakette. Wir wollen aber Fahrverbote | |
verhindern. Wir haben politisch die Menschen animiert, Dieselfahrzeuge zu | |
kaufen, weil die Co2-ärmer sind. Wir würden also gerade die mit | |
Fahrverboten bestrafen, die sich klimaschonend verhalten haben. | |
Haben Sie sich geärgert, dass die Umweltministerin und das Umweltbundesamt | |
die Ergebnisse Ihres Dieselgipfels zerschossen haben? Das Amt hat | |
ausgerechnet, dass Software-Updates und Umtauschaktionen nicht reichen, um | |
Fahrverbote in den meisten relevanten Städten zu verhindern. | |
Dass der Gipfel im August nicht ausreicht, die verschiedenen Probleme zu | |
lösen, war immer klar. Ich habe von einem ersten Schritt gesprochen, dem | |
weitere folgen müssen. Es wurden Arbeitsgruppen beschlossen, die man nun | |
auch arbeiten lassen sollte. Unbestritten ist, dass mit dem reinen | |
Software-Update die Grenzwerte nicht eingehalten werden. Wir haben zwei | |
weitere Bausteine. Das eine sind die Umtauschprämien, die ja gerade erst | |
angelaufen sind, es ist also noch offen, wie viele Menschen davon Gebrauch | |
machen und was das für die Emissionen bedeutet. Der zweite ist die Frage, | |
was man im Verkehrsmanagement der Städte noch verändern kann, zum Beispiel | |
über den öffentlichen Personennahverkehr. | |
Jetzt schieben Sie die Sache zu den Kommunen. | |
Ich habe für den 4. September die Vertreter der am stärksten betroffenen | |
Kommunen und die Ministerpräsidenten zur Beratung ins Kanzleramt | |
eingeladen. Wir müssen jede Kommune individuell betrachten. In Kiel sind | |
die Stickoxid-Emissionen auch deshalb so hoch, weil Schiffe betankt werden. | |
In Stuttgart spielt die besondere geografische Lage eine Rolle. Ich will, | |
dass wir gerade aus diesen Städten die fortschrittlichsten machen, was | |
Mobilität anbelangt, Städte mit intelligenten Lösungen für die neuen | |
Mobilitätsbedürfnisse. Arbeitgeber könnten zum Beispiel mehr Ladestellen | |
für E-Mobilität einrichten, oder man könnte das verstärkt in Parkhäusern | |
anbieten. | |
Warum wird nicht die Hardware in alten Dieselfahrzeugen nachgerüstet? | |
Wenn ich in alte Technologie pro Auto noch mal 1.000 bis 2.000 Euro stecke | |
und die Wirtschaft dafür zwischen 10 und 20 Milliarden Euro aufwenden muss, | |
die sie nicht in die Entwicklung neuer Technologien stecken kann – ist das | |
eine Investition, die der Staat befördern sollte? Da müssen wir erst alle | |
anderen Wege prüfen, bevor wir dazu ein abschließendes Urteil fällen. Ich | |
möchte keine Lösung, die zwar Millionen Dieselfahrer betrifft, aber | |
gleichzeitig dazu führt, dass die Autoindustrie sich nicht ausreichend um | |
eine ressourcenschonende Zukunft kümmern kann. Die taz ist doch jetzt schon | |
der Meinung, dass das nicht ausreichend geschieht, und hat dafür auch | |
einige gute Argumente. | |
Noch eine Frage, die uns wichtig ist. Unser Kollege Deniz Yücel sitzt immer | |
noch in der Türkei in Haft. Warum konnten Sie bisher nicht erreichen, dass | |
er freikommt? | |
Wir setzen uns auf allen Kanälen für ihn ein. Das ist leider sehr | |
kompliziert, weil Deniz Yücel Doppelstaatler ist und wir da konsularisch | |
nicht so viele Rechte haben. Trotzdem tun wir alles in unserer Macht | |
Stehende für ihn, öffentlich, aber vor allem auch in unseren Kontakten mit | |
türkischen Behörden. Wir sorgen uns auch um Mesale Tolu und Peter Steudtner | |
und die weiteren Inhaftierten. Wir haben die Reisehinweise für die Türkei | |
verändert und gehen weit restriktiver an wirtschaftliche Kontakte heran. | |
All das hat leider bisher noch nicht zur Freilassung Ihres Kollegen | |
geführt, aber nichts würde ich mir mehr wünschen als das. | |
28 Aug 2017 | |
## AUTOREN | |
Georg Löwisch | |
Anja Maier | |
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