# taz.de -- Jugend im Gespräch: Generation Merkel | |
> 2005 gingen sie in die Schule. Nun sind sie erwachsen. Vier Erstwähler | |
> über die Kanzlerin und Freundschaft mit Andersdenkenden. | |
Bild: Dennis, Lioba, Brenda und Simon: Fußball ja, Freundschaft eher nicht | |
Brenda Geckil, Dennis Krauß, Lioba Hölzle und Simon Schroers sitzen an | |
weißen Tischen im Verlagshaus der taz. Sie sind aus Greifswald, München und | |
Mönchengladbach nach Berlin gekommen, um mit uns über das Aufwachsen in | |
einem Land zu sprechen, das seit zwölf Jahren nur eine Kanzlerin kennt: | |
Angela Merkel. | |
taz.am wochenende: Ihr habt euch gerade kennengelernt. Stellt euch doch mal | |
vor. Jeder den neben sich. | |
Dennis: Also Lioba kommt aus Bayern und studiert Mathe in München. Sie | |
spricht fließend Esperanto und engagiert sich für die Flüchtlingshelfer von | |
Jugend Rettet. Und wie alt bist du? | |
Lioba: Ich bin 18. Das ist Dennis aus Wolgast in Mecklenburg-Vorpommern. Er | |
ist 20, hat eine Ausbildung zum Fachlageristen gemacht und eine linke Bar | |
mitbetrieben. Es gibt da viele Probleme mit Nazis. | |
Simon: Ich stelle Brenda vor, sie ist 21, kommt aus Karlsruhe, lebt aber in | |
Berlin und studiert Politik und Verwaltung. Sie findet, Leute, die nicht | |
von Rassismus betroffen sind, sollten sich mehr mit ihm auseinandersetzen. | |
Brenda: Das ist Simon, 19 Jahre alt, aus Mönchengladbach. Simon ist nach | |
dem Abi durch Neuseeland gereist. Danach hat er ein Praktikum bei einem | |
Abgeordneten der CDU/CSU gemacht. Er spielt gern Fußball. Und er will Jura | |
studieren. | |
Werdet ihr am 24. September zur Wahl gehen? | |
Simon: Definitiv. Das ist wichtig für unsere Demokratie, gerade in den | |
heutigen Zeiten. | |
Brenda: Ja. | |
Dennis: Wählen ist schon wichtig. | |
Welche Partei werdet ihr wählen? | |
Lioba: Bei uns Bayern ist CSU wählen quasi Pflicht. Nee, im Ernst: Ich | |
finde, die Union macht gute Sachen. Ich bin aber auch der FDP nicht | |
abgeneigt. Über Facebook folge ich den Jugendorganisationen mehrerer | |
Parteien. Da sind die Jungen Liberalen besonders aktiv. Noch schwanke ich. | |
Simon: CDU mit Erst- und Zweitstimme. Vor ein paar Monaten habe ich | |
angefangen, mich in der Jungen Union zu engagieren. Ich wähle das, wofür | |
ich gekämpft habe. | |
Brenda: Wahrscheinlich wähle ich Die Linke, weil die meinen Vorstellungen | |
näher kommt als die anderen. Aber ich bin nicht glücklich damit. Sahra | |
Wagenknecht hat gesagt, Merkel sei Schuld an dem Terroranschlag am | |
Breitscheidplatz in Berlin. So etwas würde eben passieren, wenn man die | |
Grenzen offen lässt. Da klang sie wie eine AfD-Politikerin. | |
Dennis: Ich wähle Die Linke und Die Partei. Ich finde es gut, sich für die | |
sozial Schwachen einzusetzen und nicht nur für geldgeile Säcke wie die FDP. | |
Und Die Partei ist provokativ und zweideutig. | |
Warum nicht Grüne oder SPD? | |
Brenda: Vor dem Gespräch habe ich noch mal Martin Schulz gegoogelt und | |
einige Videos angeguckt. Da wurde mir klar: Die SPD ist eigentlich die CDU, | |
aber die verkaufen sich als linke Partei. | |
Simon: Ich habe mich gefragt: Wofür stehe ich am meisten ein? Und das ist | |
das christlich-demokratische Grundverständnis. | |
Brenda: Die Grünen haben sich in Flüchtlingsfragen nicht so verhalten, wie | |
sie es versprochen haben. Parteien sind nicht immer das, wofür sie werben. | |
Keiner von euch will nicht wählen? | |
Lioba: Ich freue mich darauf, endlich selber Kreuze zu machen. Meine | |
Familie ist früher immer sonntags nach der Kirche wählen gegangen. Das lag | |
auf dem Weg. | |
Simon: Wenn wir alle nicht wählen würden, stünde die Demokratie als | |
legitimes Ausdrucksmittel unserer Gesellschaft infrage. Und die | |
Vergangenheit hat gezeigt, dass andere Systeme als die Demokratie für uns | |
nicht tragbar sind. | |
Dennis: Man sollte das Wählen schmackhafter machen. Irgendein Bonze, der | |
mit seinem Mercedes vorfährt, hat doch gar kein Interesse an mir, der will | |
meine Stimme und schnackt dann vier Jahre lang nur Scheiße. Über | |
Flüchtlinge verliert Angela Merkel jetzt ja auch kein Wort mehr, weil es | |
sie den Kopf kosten könnte. | |
Simon: Im Wahlkampf neigen Politiker dazu, etwas überspitzt zu sagen oder | |
sich zurückzuhalten, weil sie keine Wähler vergraulen möchten. Für seine | |
Wahlentscheidung sollte man in die Parteiprogramme schauen und sich | |
ansehen, was die Parteien bisher erreicht haben. | |
Brenda: Parteipolitik ist für eine bestimmte Gruppe. Es dürfen nicht alle | |
Menschen wählen. Auch die Geflüchteten nicht, um die es gerade geht. Neben | |
Parteien braucht man andere Organisationen und Gruppen, die Leuten helfen | |
und demonstrieren. | |
Was war eure letzte Demo? | |
Lioba: Pulse of Europe in München. In der Katholischen Hochschulgemeinde | |
haben wir ein Wochenende lang Workshops zu Europa-Themen organisiert, und | |
am Sonntag war Pulse of Europe. | |
Simon: Ich selbst war noch nie auf einer Demonstration. Aber ich könnte mir | |
vorstellen, bei solchen Demos mitzumachen, die für etwas stehen. Zu wenige | |
sagen: Es läuft super, das möchte ich zeigen. Aber es ist natürlich auch | |
wichtig, dass Menschen sagen dürfen, wenn etwas falsch läuft. | |
Dennis: Na, wenn der Staat nicht toll findet, wogegen du da demonstrierst, | |
dann kommen die Prügeltrupps und hauen dich ordentlich zusammen. In der | |
Rigaer Straße in Berlin war ich mal auf einer Demonstration. Wir saßen bloß | |
herum und wurden von Polizisten verprügelt, wahllos mit Pfefferspray | |
besprüht, und Leute wurden von Polizeiautos umgefahren. Da gibt es zig | |
Handyvideos. | |
Brenda: Meine letzte Demo war die Black-Lives-Matter-Demo in Berlin. | |
Dennis und Brenda, wie oft geht ihr auf Demonstrationen? | |
Brenda: Früher alle zwei Wochen. Mittlerweile nur noch alle paar Monate. | |
Ich will aber öfter gehen. | |
Dennis: Mindestens einmal im Monat. Letzten Monat waren es drei. Wir haben | |
zum Beispiel eine Demo gegen eine Wahlveranstaltung der AfD in Wolgast | |
gemacht. | |
Warst du bei den G20-Protesten in Hamburg? | |
Dennis: Nein, ich hatte schon Megastress wegen der AfD. Deswegen war ich | |
beim „Störfaktor“, das ist so eine Mischung aus Demo und linkem Festival in | |
Zwickau. Da ging es auch gegen den G20. | |
Angela Merkel wurde 2005 Kanzlerin, da wart ihr in der Grundschule. Was ist | |
eure erste Merkel-Erinnerung? | |
Dennis: Sie wurde mal so richtig hochgenommen von der Fernsehsendung „Extra | |
3“. Ich weiß nicht mehr warum, aber die haben ihr so ein Schweinegesicht | |
gemacht. | |
Simon: Mit sieben hatte ich mit Politik noch nicht viel am Hut. | |
Brenda: Ich war vielleicht zehn. Meine Tante und meine Mutter haben gesagt: | |
Endlich mal kein Mann! Ich dachte: Oh, eine Frau! Aber dann hat mir eine | |
Cousine erzählt, dass Merkel nicht viel für Frauenrechte tun wird. | |
Lioba: Ich kann mich interessanterweise noch daran erinnern, dass Schröder | |
Kanzler war, aber nicht an die Wahl von Merkel. | |
Wie würdet ihr Merkel beschreiben? | |
Dennis: Sie ist zurückhaltend. Wo andere draufhauen, hält sie sich im | |
Hintergrund. | |
Simon: Und trotzdem zielstrebig. Sie weiß, was sie will. | |
Dennis: Sie ist schon keine dumme Frau. Was die da hingelegt hat, auch in | |
der Schule, das war einfach nur geradeaus, nach oben. | |
Brenda: Vielleicht ist sie eine nette Person. Simon, du sagst, sie weiß, | |
was sie will. Vielleicht weiß sie das, aber sie ist zwischen sich und der | |
Partei hin- und hergerissen. | |
Was war das Beste, das Angela Merkel politisch bisher gemacht hat? | |
Simon: Wirklich nur eins? | |
Nur eine Sache. | |
Simon: Sie hat halt viel richtig gemacht. Wir haben 50 Prozent weniger | |
Arbeitslose als 2005. Da waren es fünf Millionen und jetzt sind es | |
zweieinhalb. | |
Dennis: Die Arbeitsagentur rechnet sich ihre Statistiken schön. | |
Lioba: Ich finde gut, dass sie im Ausland, obwohl sie eine Frau ist, von | |
den Staatsoberhäuptern respektiert wird. Den Respekt hat sie sich gut | |
erarbeitet. | |
Brenda: Die meisten mögen Merkel irgendwie. Sie hat global gesehen eine | |
eher schlichtende Rolle. Sie bemüht sich, alle Menschen … obwohl, der | |
G20-Gipfel war ein absoluter Flop. | |
Dennis: Damals, als sie gesagt hat, „Wir schaffen das“, habe ich ihr das | |
geglaubt. Aber jetzt schieben wir Leute ab. Wahrscheinlich war das am | |
Anfang ihre persönliche Meinung, und dann hat sie einen Dämpfer bekommen | |
und musste zurückrudern. | |
Wie fandet ihr diesen „Wir schaffen das“-Satz von Merkel? | |
Lioba: Ein Freund von mir hat gesagt: Die Politik wirbt jetzt schon mit | |
Slogans von „Bob der Baumeister“. Es ist exakt das. | |
Brenda: Es bringt nichts, das zu sagen und nicht entsprechend zu handeln. | |
Aber als Merkel dieses geflüchtete Mädchen aus dem Libanon in dieser | |
Fernsehsendung getroffen hat: Das hat sie eben doch berührt. Wenn das Kind | |
vor ihr heult, dann wird sie plötzlich emotional. | |
Was ist schlecht an Mitleid? | |
Brenda: Mitleid entsteht aus Schuldgefühlen. Schuldgefühle hat man, wenn | |
man weiß, man macht was falsch. Mitleid bringt nichts. | |
Simon: Herr Gauck hat das treffend formuliert: „Unsere Herzen sind weit, | |
unsere Möglichkeiten sind endlich.“ Natürlich möchte man jedem, der | |
schlechter lebt als man selbst, die Möglichkeit geben, ein genauso schönes | |
Leben zu führen. Aber wir haben mehr als eine Million Flüchtlinge | |
aufgenommen auf Merkels Satz hin. | |
Dennis: Und dann hat Frau Merkel mit Herrn Erdoğan einen schönen Pakt | |
geschlossen. Er hält die Leute mit Verstößen gegen die Menschenrechte fern, | |
einige wurden abgeknallt, andere in nicht sichere Herkunftsländer | |
zurückgeschickt, und das unterstützt Merkel mit ihrem Scheißgeld. Ich bin | |
der Meinung, Merkel ist eine Mörderin. | |
Simon: Nein. | |
Dennis: Doch. Und sie kriecht Erdoğan in den Arsch, wenn er wieder mal | |
droht, die Grenzen aufzumachen. | |
Brenda: Ich habe Videos gesehen, in denen syrische Geflüchtete | |
zusammenschlagen werden. Die Leute liegen auf dem Boden und heulen. Das ist | |
sicher nicht in der ganzen Türkei so, aber nationales Gedankengut ist dort | |
sehr stark. | |
Simon: Die Bundesregierung kriecht dem türkischen Präsidenten nicht | |
wirklich in den Arsch. Das sieht man an den letzten Aussagen, und da werden | |
Taten folgen. Man muss die ganze Situation dieses Flüchtlingspakts | |
berücksichtigen. Es werden auch Flüchtlinge aus der Türkei von Europa | |
aufgenommen. Wir müssen als Gesamteuropa besser zusammenarbeiten. Noch eine | |
Million kann Deutschland nicht aufnehmen. | |
Dennis: Warum nicht? Deutschland ist einer der größten Waffenexporteure. | |
Wir haben eine Fürsorgepflicht. | |
Ihr alle seid euch aber in einem einig: Flüchtlinge aufzunehmen ist okay? | |
Simon: Nach Artikel 16a Grundgesetz, ja. | |
Dennis: Ich finde, wir sind alle Gäste auf dieser Welt. Wer gibt uns das | |
Recht, Grenzen zu ziehen? Warum kann ich als Angolaner nicht einfach nach | |
Deutschland reisen? | |
Simon: Das würde heißen, unser gesamtes gesellschaftliches System ist | |
Schrott. Wenn jeder sein Stückchen Land hat und baut seine Sachen an, und | |
es keine Grenzen, keine Ordnung, keine staatliche Verwaltung gibt, dann | |
leben wir wie vor was weiß ich wie vielen tausend Jahren. Dann wären viele | |
Errungenschaften der Menschheit nicht passiert. | |
Dennis: Ich weiß auch, dass das nicht klappen wird in totaler Anarchie. | |
Aber zu viel hängt am Geld. Wenn einer als Millionär aus Syrien kommt, | |
hat er kein Problem mit Grenzen. Aber wenn einer kommt, der nichts hat, | |
darf er sich erst mal in ein Lager setzen. Für mich sind Grenzen einfach | |
kacke und menschenverachtend. | |
Lioba, du überlegst CSU zu wählen, engagierst dich aber bei Jugend Rettet, | |
einer Organisation, die Rettungsschiffe im Mittelmeer finanziert hat. Wie | |
passt das zusammen? | |
Lioba: Seehofer mit seiner Obergrenze nimmt von den Leuten, die ich kenne | |
und die die Union gut finden, keiner ernst. Aber die CSU macht andere | |
Sachen nicht schlecht. Neulich habe ich den Kandidaten für den Wahlkreis | |
München-Nord getroffen. Der hat ein Bildungsunternehmen, da dürfen Leute, | |
die eine Ausbildung und mindestens drei Jahre Berufserfahrung haben, | |
studieren. Die Absolventen werden denen nur so aus den Händen gerissen. | |
Wann wollt ihr anfangen zu arbeiten? | |
Brenda: Ich bin nächstes Jahr fertig mit dem Bachelor, dann bin ich 22. Ich | |
weiß nicht, ob ich den Master machen soll. Vielleicht mache ich erst einmal | |
ein paar Praktika, die nicht zu schlecht bezahlt sind. | |
Lioba: Wenn ich meinen Bachelor in der Regelstudienzeit mache, hab ich ihn | |
mit 21. Meine Abschlussarbeit will ich in einer Firma schreiben, am | |
liebsten bei der Deutschen Bahn. | |
Wieso ausgerechnet bei der Deutschen Bahn? | |
Lioba: Ich fahre unglaublich gern Zug. Für die Münchner | |
Verkehrsgesellschaft befrage und zähle ich Leute, die U-Bahn fahren. Ich | |
will mehr hinter die Kulissen schauen, lernen, wie es läuft in so einem | |
Betrieb. Ich will mehr wissen als die, die nur mitfahren. | |
Du möchtest im meist gehassten Unternehmen Deutschlands arbeiten? | |
Lioba: Das ist das Spannendste daran. | |
Findet ihr es eigentlich schwer, die Ansichten der anderen hier in der | |
Diskussion auszuhalten? | |
Simon: Hier sagt ja niemand etwas, was total verfassungswidrig ist, dann | |
müsste man da schon einschreiten. | |
Dennis fällt da vielleicht noch was ein … | |
Simon: Dennis hat ja versucht, fundiert darzulegen, wie er das sieht. Da | |
kann man ihm zuhören und mit seinen eigenen Argumenten dagegenhalten. | |
Dennis: Wenn ich ein linker Faschist wäre und sagen würde: Du bist einer | |
von der CDU, mit dir unterhalte ich mich nicht, das wäre kacke. | |
Lioba: Ich habe auch schon mit Leuten diskutiert, die meinten, dass Merkel | |
eine Diktatorin wäre, die weg müsse, und dass Flüchtlinge nur unser Land | |
demolieren würden – da ist kein Diskurs mehr möglich, würde ich sagen. | |
Dennis: In Wolgast, wo ich herkomme, stellen sich die Rechten auf den | |
Marktplatz, hören einem Typen zu und labern das dann weiter. Dass nur | |
männliche Flüchtlinge kommen oder nur Frauen mit vielen Kindern. Und wenn | |
ich zu viel nachfrage, ob die mir das mal mit Zahlen beweisen können, | |
kriege ich auf die Fresse. Vor einiger Zeit standen die Nazis in unserer | |
Bar und haben mit Gaspistolen auf uns geschossen. Oder neulich ist ein | |
Familienvater mit der Eisenstange in der Hand in die Bar marschiert. | |
Versuchst du mit Nazis zu reden? | |
Dennis: Mit Nazis redest du in Wolgast immer. Gestern haut er dir aufs | |
Maul, heute kaufst du dir eine Cola im Supermarkt, und der sitzt an der | |
Kasse. Wir haben einen Verein in Wolgast. Da habe ich in die Satzung | |
reingeschrieben, dass wir Nazis nicht akzeptieren. Wenn aber einer zu uns | |
kommt und sagt: Es hat sich was bewegt in meinem Kopf, dann versuchen wir | |
zu helfen. Da war ein Junge, der vor zwei Wochen noch in einer Jacke von | |
Thor Steinar vor uns stand und der fragte, wie er aus der Kameradschaft | |
herauskommt. Das ist nicht einfach. Einer, der aussteigen wollte, musste | |
wegziehen, weil seine Kinder angegriffen wurden. | |
Warum machst du das? | |
Dennis: In Wolgast wird man quasi rechts geboren, weil die Leute nichts | |
anderes kennen. Ich war auch mal in der Szene drin. Das sind meine Freunde | |
von früher aus der Schule. Für die ist es komplett normal, dass ein | |
Schwarzer zusammengetreten wird. Oder dass man den Neger nennt. Diese Leute | |
fühlen sich im Recht. Das macht sie so gefährlich. Wenn ich mich komplett | |
im Recht fühle, dann ziehe ich das durch, dann zünde ich auch ein | |
Flüchtlingsheim an. Deshalb sagen wir als Linke: Wenn du Hilfe brauchst, | |
komm zu uns. | |
Könnten sich die anderen vorstellen, so etwas zu machen? | |
Simon: So etwas habe ich noch nie erlebt, also bleibt das für mich ein | |
bisschen abstrakt. Aber als ich für die CDU am Wahlkampfstand stand, es war | |
Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen, da wurde ich auch von Rechten | |
beschimpft. Natürlich wäre es ein Erfolg, die von etwas anderem zu | |
überzeugen. | |
Brenda: Wenn ich einer rechten Person begegne – das ist mir schon oft | |
passiert –, dann werde ich wütend. Aber ich versuche, ruhig zu bleiben. Ich | |
würde keinen Nazi einfach beschimpfen. Was soll es mir bringen, außer | |
Schläge? Diese Person projiziert Selbsthass und Komplexe auf mich, weil ich | |
anders aussehe. Vielleicht fühlt sie sich in ihrer Gruppe wohl, weil sie | |
sonst nichts hat. Ich kann Menschen verstehen, die so sind. Aber ich halte | |
nicht die andere Wange hin. | |
Dennis: Letzte Woche standen wir mit Plakaten in Wolgast beim AfD-Büro. Da | |
meinte einer von denen zu mir, wir Deutschen wären die Herrenrasse. Und ich | |
so: Der deutsche Durchschnittspenis liegt bei 14 Zentimeter. Wenn wir die | |
Herrenrasse sind, müssten wir doch den längsten haben. | |
Wie hat er reagiert? | |
Dennis: Er meinte, er hätte so ein Riesending, und das würde er mir gleich | |
links und rechts ins Gesicht hauen. So unterhält man sich in Wolgast. Der | |
hat auch erzählt, wir hätten die Autobahn erfunden, darauf könnten wir | |
stolz sein. Und ich sagte, na, dann sei mal stolz auf deine A20. | |
Ist es okay zu sagen: Ich bin stolz, deutsch zu sein? | |
Simon: Das ist unser Recht. Ich bin stolz, die Werte dieses Landes | |
vertreten zu dürfen, also laut unserem Grundgesetz die Achtung der | |
Menschenwürde, der Gleichberechtigung, Freiheit. Das vertreten auch andere | |
Kulturen, darauf kann man als Europäer und Deutscher stolz sein. Thomas de | |
Maizière hat den Begriff „aufgeklärte Patrioten“ benutzt. | |
Lioba: Können wir mal das Wort Stolz definieren? Wenn ich sage, ich bin | |
stolz auf mein Land, worauf dann genau? Stolz bin ich, wenn ich selber | |
etwas geschafft habe. Auf eine gute Note in der Matheklausur. | |
Brenda: Genau. Ich kann nichts dafür, dass meine Mutter mich in Karlsruhe | |
in der Marienklinik geboren hat. | |
Was schätzt ihr an Deutschland? | |
Brenda: Dass alle Menschen ihre Meinung vertreten dürfen. Wobei, können das | |
alle Menschen? Nein. Okay, ich finde es gut, dass die Möglichkeit besteht, | |
zu demonstrieren. | |
Dennis: Dass ich ein Recht auf ein faires Gerichtsverfahren habe und nicht | |
geköpft oder gesteinigt werde. | |
Lioba: Dass ich keine Angst haben muss, auf der Straße erschossen zu | |
werden. | |
Simon: Wir sollten es schätzen, wie wir mit unserer Vergangenheit umgehen. | |
Dass wir nicht einfach vergessen, was passiert ist. | |
Brenda: Das gilt nur teilweise. Über den deutschen Kolonialismus hatte ich | |
nie etwas in der Schule. | |
Brenda, deine Eltern kommen aus der Südtürkei. Du gehörst zur ersten | |
Generation deiner Familie, die studiert. War das ein harter Weg? | |
Brenda: Auf jeden Fall. Es ist für Kinder schwieriger, zu lernen, wenn man | |
das von zu Hause nicht gewohnt ist, wenn die Eltern nicht lesen. Meine | |
Eltern haben sich richtig angestrengt, mir viele andere Möglichkeiten zu | |
bieten. Meine Grundschullehrerin war mit meiner Mutter befreundet und hat | |
mir Nachhilfe gegeben. Alles, was der Staat nicht macht, muss man privat | |
finanzieren. Das geht halt nur, wenn man privilegiert ist und Ressourcen | |
dafür hat. Bildungspolitik zeigt, wo wir gerade stehen. | |
Könnt ihr euch vorstellen, euren Partner oder eure Partnerin online | |
kennenzulernen? | |
Dennis: Über Parship verliebt sich ja alle elf Minuten einer. | |
Brenda: Ich hab mehr als die Hälfte meiner Freunde übers Internet | |
kennengelernt. | |
Dennis: Kumpels okay, aber die Partnerin? | |
Lioba: Warum nicht? Meine Oma kommt aus Polen, mein Opa aus Deutschland, | |
die haben sich über eine Kontaktanzeige in einer katholischen | |
Esperanto-Zeitschrift kennengelernt. Das war das Internet von damals. | |
Sprichst du Polnisch? | |
Lioba: Nein, meine Oma wollte schnell Deutsch lernen. Und mit meinem Opa | |
hat sie nur Esperanto gesprochen, wenn ihre Kinder es nicht verstehen | |
sollten. Aber meine Mutter hat es sich dann selbst beigebracht. Und ich | |
kann es auch. | |
Brenda: In meiner Familie sprechen wir Arabisch, aber wenn mein Bruder und | |
ich nichts verstehen sollten, haben sich meine Eltern immer auf Türkisch | |
unterhalten. Das haben wir dann auch gelernt. | |
Könntet ihr euch vorstellen, miteinander befreundet zu sein? | |
Simon: Definitiv. Natürlich hat man manchmal Diskussionen, und das ist auch | |
gut so, solange es sachlich bleibt. | |
Dennis sagt, Merkel ist eine Mörderin, und du sagst dann: Lass mal noch ein | |
Bier trinken. | |
Simon: Wenn ich mehr darüber nachdenke, wäre es wohl doch schwierig. Allzu | |
tiefe Gespräche könnten wir wohl nicht führen, und das hat dann auch keinen | |
Freundschaftscharakter. Aber mit Dennis würde ich vielleicht mal Fußball | |
spielen gehen. Mit Brenda auch, wenn sie möchte. | |
Brenda: Als Kind habe ich hobbymäßig gespielt, Mittelfeld oder Sturm. Ich | |
bin ganz gut. | |
Dennis: So einen Typen wie Simon habe ich noch nie getroffen. Aber er steht | |
zu seinen Überzeugungen, auch wenn alle anderer Meinung sind. Das finde ich | |
cool. | |
Brenda: Bei euch, Lioba und Simon, wundert es mich, dass ihr so CDU/CSU | |
seid. Ich hätte gedacht, ihr seid mittiger. Ihr kommt mir so offen vor. | |
Simon: Die CDU ist ja eine Partei der Mitte. Konservativ heißt, an dem | |
festzuhalten, was gut ist, aber offen für Innovationen zu sein. | |
Brenda: Ich könnte nicht mit Leuten befreundet sein, die unsensibel und | |
respektlos sind. Wenn man aber einfach verschiedene Meinungen hat und sich | |
trotzdem respektiert, geht das schon. Was mir schwerfällt, ist, mit | |
Menschen befreundet zu sein, die von manchen Sachen nicht betroffen sind, | |
aber sich nicht weiterbilden. Wenn ich hetero bin und eine Person, die ich | |
mag, nicht, warum eigne ich mir dann kein Wissen über die sexuelle | |
Orientierung an? Ich sollte das tun, weil es um die Identität dieser Person | |
geht. | |
Lioba: Bei mir im Freundeskreis sind die Mittelmeerflüchtlinge ein großes | |
Streitthema. Ein Freund ist für einen Pakt mit Libyen, um die Flüchtlinge | |
zurückzuführen. Ich finde diese Lösung schlecht. Der sieht das nicht ein, | |
aber wir sind trotzdem befreundet. | |
Schadet es, nur mit Leuten befreundet zu sein, die ähnliche Meinungen | |
haben? | |
Lioba: Das ist kein Problem, wenn genug Input von außen kommt. | |
Simon: Wer demokratische Werte unterstützt, kann fast immer reflektieren. | |
Aber wenn Meinungen nur noch auf Emotionen und gar nicht mehr auf Fakten | |
basieren, wird es kritisch. | |
Brenda: Bei Freunden ist das nicht schlimm. An der Uni kann ich die Leute, | |
die so denken wie ich, an einer Hand abzählen. In meinem Studiengang gibt | |
es eine Person, die hilft in einem Geflüchtetenheim und meinte zu mir, man | |
sollte alle männlichen Personen aus dem Nahen Osten töten, dann würde | |
nichts mehr passieren. Zu mir! Mein Opa, mein Onkel … | |
War sie betrunken? | |
Brenda: Sie meinte das wirklich ernst. Ich finde, dieses | |
Filterblasenproblem gibt es oft, wenn nur weiße oder nicht rassifizierte | |
Personen zusammen abhängen und nicht über Rassismus reden, weil sie davon | |
nicht betroffen sind. | |
Dennis: Als ich in Wolgast aus dem rechten Spektrum raus bin, war ich froh, | |
noch andere zu finden, die ähnlich dachten. Am Anfang waren wir drei, und | |
irgendwann hatten wir die coolste Kneipe der Stadt. | |
12 Sep 2017 | |
## AUTOREN | |
Philipp Daum | |
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