| # taz.de -- Jugend in Vorpommern: Wolgast Blues | |
| > Aufgewachsen sind sie zwischen Nazis und Ostseestrand: Drei Jungs | |
| > erzählen, wie sie ihr Leben an der pommerschen Küste auf die Reihe | |
| > kriegen. | |
| Bild: Wolgast von oben | |
| Das ist die Geschichte von Dennis, Titus und Paule. Von Dennis, der mit 19 | |
| Jahren endlich „ein bürgerliches Leben“ führen will. Von Titus, der auf | |
| seinem rechten Arm die Strukturformeln von THC, Kokain und LSD tätowiert | |
| hat und Überstunden schiebt, um das Haus seines verstorbenen Vaters | |
| schickzumachen. Und von Paule, der mit 28 Jahren tagsüber einen | |
| Klempnerbetrieb leitet und abends die einzige linke Bar in Wolgast. | |
| Das ist eine Geschichte darüber, wie man sein Leben auf die Reihe kriegt. | |
| Wolgast, eine 12.000-Einwohner-Stadt im Nordosten Deutschlands, das klingt | |
| in der Broschüre des Touristenbüros so: „Stadt am Peenestrom“, „Tor zur | |
| Insel Usedom“, „bietet in seiner Umgebung viel Wasser und Grün“. Das Faz… | |
| „Ein Besuch in Wolgast lohnt sich!“ Dennis sagt, früher in der Schule | |
| hatten sie auch ein Motto: „Hartzen, wo andere Urlaub machen.“ | |
| Die Wahrheit liegt irgendwo dazwischen, zwischen Strand und Amt, der Weite | |
| des Meeres und der Enge der Provinz. | |
| Am Freitagabend geht man in die Kesselbar. Es ist der einzige Laden in | |
| Wolgast, in dem man sichergehen kann, nicht auf Glatzen zu treffen, sagen | |
| Dennis und Titus. Die Kesselbar hat Paule vor zwei Jahren gegründet. Dafür | |
| hat er den Heizungskeller eines ehemaligen Postamts, das heute ein Hostel | |
| ist, umgebaut. | |
| Herausgekommen ist eine Bar, in der sich Hostelbesucher und Linke mischen, | |
| in der aber auch mal CDU-nahe Vermögensberater am Tresen sitzen. Nur wer | |
| Thor-Steinar-Klamotten oder andere Marken aus der rechten Szene trägt, wird | |
| nicht reingelassen. | |
| ## Man trinkt Rostocker Bier. Und Flugzeugbenzin | |
| Hier unten riecht es nach Keller und Rauch, umgewälzt von Zugluft. Nackte | |
| Wände mit Fotos von noch mehr nackten Wänden, oben verlaufen Heizungsrohre, | |
| unten stehen Tische auf roten Hydranten, alles wird orangerot beleuchtet. | |
| Am Freitagabend, 21.30 Uhr, sind etwa zehn Leute da. Hinten steht ein | |
| Kickertisch (kostenlos!), vorn an der Bar hängt eine Dartscheibe (auch | |
| umsonst). | |
| Hinter der Bar, die sich um den namensgebenden Heizungskessel zieht, | |
| schenkt Paule aus, meistens M&O, Rostocker Bier, wenn es hart auf hart | |
| kommt aber auch „Flugzeugbenzin“: Cola, Bier und Schnaps durch einen | |
| Kaffeetrichter gegossen und so übereinander geschichtet (heute kommt es | |
| nicht hart auf hart). | |
| Flugzeugbenzin hat zwei Vorteile: Bringt erstens Geld und macht zweitens | |
| sofort betrunken, so dass man missliebige Gäste rausschmeißen kann. Paule | |
| sieht aus, wie man sich einen linken Barbesitzer vorstellt, Löcher in den | |
| Ohren, den Arm so tätowiert, als hätte er ihn einmal in Tinte eingetaucht. | |
| Dennis und Titus tragen eher Streetstyle: Basecaps, Silberketten. | |
| An der Bar beginnt dann das, was Paule „Laberflash“ nennt. Es kommen nicht | |
| so oft Besucher nach Wolgast und fragen nach Geschichten. | |
| ## Pommern bleibt sauber | |
| Es geht sofort um Nazis. Ende Juli wurde Dennis von einer Gruppe von zehn | |
| Rechten verprügelt. Er schildert das so: Es war Freitagabend, er lief mit | |
| seiner Freundin von der Kesselbar zur Peenebrücke nach Usedom. Dann | |
| tauchten ein paar steinewerfende „Spinner“ auf. Dennis schickt noch seine | |
| Freundin weg: „Geh, nimm das Handy, ruf nach Verstärkung“, da stehen schon | |
| „zehn Faschos“ vor ihm, auf den T-Shirts steht: „Pommern bleibt sauber“. | |
| Dennis kam glimpflich davon. Das Einzige, was ihm eine Woche später von dem | |
| Angriff geblieben ist, ist eine Schramme am Knie. Das kommt ihm selber | |
| komisch vor, aber er meint: Das sollte eine Machtdemonstration werden. | |
| Zehn Besoffene, die sich stark in der Gruppe fühlen, schubsten ihn herum, | |
| hielten ihn zu Boden, jeder durfte mal reintreten, aber nicht zu hart. | |
| Erst nach ein paar Wochen geht Dennis zu Lobbi e.V., einem Verein, der | |
| Opfern rechter Gewalt hilft. Er zögert lange, denn er macht sich Sorgen um | |
| die Rache der Rechten, um seine Schwester und seine Freundin. Nun hat er | |
| doch Anzeige erstattet. | |
| In der Kesselbar geht der Laberflash weiter, Geschichte zwei: Wolgast war | |
| schon in den 1990er Jahren für die „Hafengang“ berühmt, eine Gruppe von | |
| Nazihools. So berühmt, dass Paule einmal, als er am Flughafen war, von der | |
| Polizei gleich für einen Hooligan gehalten wurde, nur weil in seinem | |
| Ausweis „Wolgast“ stand. Außerdem erfährt man: Dennis ist von der Schule | |
| geflogen. Titus’ Vater ist tot, Bauchspeicheldrüsenkrebs. Dennis’ Vater ist | |
| tot, Alkohol. Paules Vater ist tot, er hat sich umgebracht. | |
| Am Ende des Abends sagt Paule am Tresen: „Ich weiß nicht, woran es liegt. | |
| Aber ich kenne niemanden hier ohne schweres Leben.“ Jeder hier hat | |
| Probleme. | |
| ## 13 Stunden Akkordarbeit | |
| Am Samstagmittag sitzt Titus auf seiner Couch in seinem Wohnzimmer mit zwei | |
| Fernsehern und blickt auf Wolken, Wind und Meer. Ziemitz, im Westen von | |
| Usedom gelegen, ist ein feiner Fleck. Gleich nebenan hat ein Staatsanwalt | |
| aus München sein Ferienhaus. Das Wohnzimmer, in dem eine Grinsekatze an die | |
| Wand gemalt ist, liegt unterm Dach. | |
| Es gibt eine Truhe für Chips und einen Tisch voller Bier, es ist ein Zimmer | |
| wie gemacht für einen halb verregneten Samstagnachmittag wie heute. Also | |
| Playstation spielen, Tekken und Battlefield 4, Zigarettchen, Chips, | |
| Bierchen. So läuft das normalerweise am Wochenende ab in Titus’ Haus. Er | |
| hat es vor zwei Jahren nach dem Tod seines Vaters geerbt. Sein Freund | |
| Dennis hat ein eigenes Zimmer bei ihm. | |
| Titus ist jetzt auf dem Sprung, er muss noch etwas besorgen. „Hey Mäusi, du | |
| hast mir doch gesagt, du willst einen Roller haben? Ich kauf dir einen“, | |
| flüstert er als Sprachnachricht in sein Handy. Zwei Minuten später stellt | |
| sich heraus, dass die an die falsche Person ging. Egal. Titus geht jetzt | |
| einen Roller für seine Freundin kaufen. | |
| Titus arbeitet als Industriedachdecker. Gerade machen sie ein | |
| 23.000-Quadratmeter-Dach in der Nähe von München fertig. Sonntagabend um 20 | |
| Uhr wird er mit einem Kollegen nach Berlin fahren, um den Vorarbeiter | |
| abzuholen und dann die Nacht durch bis Bayern zu fahren. Um 7 Uhr morgens | |
| beginnen, um 8 Uhr abends Feierabend, zehn Tage lang, dann vier Tage frei, | |
| Fahrzeit nicht eingerechnet. | |
| Titus bekommt Akkordlohn: Je mehr Dachfläche er deckt, umso mehr verdient | |
| er. Mit dem zusätzlichen Geld baut er sein Haus um. Seine Freundin, die er | |
| in Bayern kennengelernt hat, soll mit ihrer kleinen Tochter zu ihm ziehen. | |
| Also baut er an seinen freien Wochenenden eine Veranda, macht das Reetdach | |
| runter und ein Blechdach rauf, weil die Versicherungskosten dafür viel | |
| billiger sind. | |
| Titus ist 30. Sein Leben war Techno, Feiern, Rausch, das sieht man nicht | |
| nur an seinen Tätowierungen. Auf seinem Hals steht: „Music was my first | |
| love and will be my last“, aber vielleicht stimmt das gar nicht mehr. Das | |
| mit seiner neuen Freundin ist etwas Ernstes, sagt er. | |
| Titus fährt also nach Wolgast, und Dennis geht mit dem Haushund raus. Flumm | |
| ist sehr lieb, aber man darf ihr nicht in die Augen schauen. Der American | |
| Staffordshire Terrier ist ein Listenhund, also als Kampfhund eingestuft. | |
| Eigentlich sehr beliebt bei den Nazis. Hier ist es nämlich so: Alle haben | |
| Hunde. Die Rechten Listenhunde, die Linken Mischlinge und die anderen | |
| verzogene Wadenbeißer. Titus erbte Flumm von einem Großcousin, der Probleme | |
| hatte. Und jetzt hilft Flumm Titus’ Mutter, die gleich im Haus nebenan | |
| lebt, den Verlust ihres Mannes zu verkraften: „Flumm schnarcht wie mein | |
| Papa“, sagt Titus. | |
| ## Erst Rechter, dann Linker | |
| Als Dennis am Hafen von Ziemitz ankommt, legt er Flumm ein Würgehalsband | |
| um. Sonst ist sie sofort im Wasser, erklärt er, und wir kriegen sie zwei | |
| Stunden nicht mehr heraus. Dann macht Flumm einen Haufen, aber Dennis hat | |
| keinen Beutel dabei. Hier, in Ziemitz, beschweren sich Leute über so etwas. | |
| In Wolgast nicht, sagt er. Dort gibt es andere Probleme. | |
| Dennis ist froh, nicht mehr in Wolgast zu wohnen, denn auch er hatte | |
| Probleme. Falsche Freunde, falsche Entscheidungen. In der Grundschule war | |
| noch alles gut. Dann kam der Geschichtsunterricht. Drittes Reich. Plötzlich | |
| war Politik im Klassenraum ein Thema. Ein Mitschüler hört von seinem Vater, | |
| dass das alles nicht stimme, was die Lehrer da sagen. Ein anderer Vater | |
| kommt gleich mal in die Schule und erzählt den Lehrern, wie das damals | |
| wirklich abgelaufen ist. | |
| Dennis Vater starb vor zehn Jahren. Aber richtig hat er ihn nie | |
| kennengelernt. Seine Mutter war bei seiner Geburt noch nicht volljährig, | |
| der Vater Alkoholiker. „Und dann stand sie halt da: Ist 17, hat ’nen Kerl, | |
| der säuft, und hat gesagt: Das will ich nicht.“ Sie trennte sich, für | |
| Dennis blieb sein Vater ein fremder Mann. | |
| ## Die Welt erklärten ihm andere | |
| Dennoch ist sich Dennis im Rückblick sicher: Sein Vater hat ihm gefehlt. | |
| Keine Grenzen. „Ich habe gemacht, was ich wollte.“ Er hing mit älteren | |
| coolen Jungs rum, die den Jüngeren die Welt erklärten. Nämlich: Hitler war | |
| der Geilste. So einer sollte heute an die Macht kommen. Es gab auch | |
| kleinere Lügengeschichten des rechten Alltags, die wichtigste wohl: Döner | |
| ist eine deutsche Erfindung. | |
| Also kann man den als aufrechter Deutscher essen. Und Dennis war eben | |
| dabei. Nicht aus Überzeugung, sagt er, er war einfach ein guter Freund. Er | |
| war da, wenn es Schlägereien gab. Hitlergruß zeigen, wenn Punks | |
| vorbeigehen. Solche Sachen. | |
| In der siebten Klasse flog Dennis von der Schule. Er kam auf die | |
| Förderschule. Zum Psychologen. Der erklärte: Nicht ausbildungsreif. | |
| Berufsvorbereitungsjahr beim Christlichen Jugenddorfwerk. Dann schickte ihn | |
| ein Sozialpädagoge nach Zinnowitz ins Bildungszentrum. Er lernte Titus | |
| kennen und ging feiern, statt mit den Rechten rumzuhängen. Er lernte Paule | |
| kennen und wurde ein Linker. | |
| Dennis schaffte einen guten Hauptschulabschluss. Er sagt: „Wenn du den Weg | |
| aus den Augen verlierst, geht das los. So werden Hartzer geboren.“ Viele | |
| werden erst spät erwachsen, Dennis mit 18 Jahren. Damals entschied er: | |
| Jetzt wird es Zeit für ein bürgerliches Leben. Heute hat er einen | |
| Ausbildungsplatz als Lagerist in Greifswald, einer „außerbetrieblichen | |
| Einrichtung“ mit Nachhilfe und Sozialpädagogen. | |
| ## Döner und Techno | |
| Abends grillen, im Garten von Titus’ Mutter. Bei Salat und Schweinesteaks | |
| Gespräche über Instagram, Partys in der Kesselbar, über Techno und Döner – | |
| Dennis sagt, er kann sechs Stück täglich essen und nimmt nicht zu (es gibt | |
| Fotos auf Facebook, die ihn oben ohne zeigen und ihm Recht geben). | |
| Naziüberfälle und Familientragödien sind gerade ganz weit weg unter diesem | |
| Pavillondach an der Ostsee. | |
| Und dann erzählt Dennis, wie sie vor ein paar Wochen einen Bagger geholt | |
| haben, nachts um drei, und ein Loch im Acker gebuddelt haben. | |
| „Hat das einen Zweck erfüllt?“ | |
| „Ja, Mann. Ich hab ein Loch gebuddelt. Das kannst du in der Stadt nicht.“ | |
| Abends wieder Kesselbar. Um 22.45 Uhr sind vierzehn Leute da, mehr werden | |
| es nicht. Es ist also leer, aber es gibt Wärme. Jeder ist plauderbereit, | |
| ein junger Typ mit großen Augen erzählt, wie scheiße es ihm geht, sein Hund | |
| ist tot. | |
| Alle haben Hunde und Probleme. | |
| In der Kesselbar hat Paule neulich eine Veranstaltung organisiert. Monchi, | |
| der Sänger von Feine Sahne Fischfilet, einer bekannten linken Band aus der | |
| Gegend, und Jennifer Weist, Frontfrau von Jennifer Rostock, einer ebenso | |
| bekannten Band aus der Gegend, waren zu Gast und sprachen darüber, wie es | |
| war, hier aufzuwachsen. Der Abend lief unter dem Label der „Noch nicht | |
| komplett am Arsch“-Tour, einer Tour gegen den Rechtsruck im Nordosten. | |
| Der Tenor dabei ist: Ja, es ist gerade schwierig, aber deswegen geben wir | |
| doch nicht auf! Das Gespräch in der Kesselbar wurde mit den Worten | |
| beworben: „Was kann man machen, damit man nicht nur meckert, sondern auch | |
| was reißt!“ Oben auf der Bühne saßen an diesem Abend zwar Monchi und | |
| Jennifer Weist. | |
| Man hätte auch Dennis, Titus und Paule fragen können. | |
| 27 Aug 2016 | |
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| Philipp Daum | |
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