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# taz.de -- Angela Merkel im taz-Interview: „Ja, dies ist mein Land“
> Man kann afghanische Flüchtlinge auch mit freundlichem Gesicht
> abschieben, sagt die Kanzlerin – und erklärt, was an ihr grün und links
> ist.
Bild: „Nichts würde ich mir mehr wünschen als das“ – Merkel über die F…
Berlin, 10 Uhr, draußen über dem Tiergarten scheint die Sonne. Drinnen im
siebten Stock des Kanzleramts ist es still, auf dem Gang erinnern
Schwarzweißfotos von Konrad R. Müller an vergangene Kanzler. Brandt und
Kiesinger hängen etwas schief. Sonst ist alles perfekt, Angela Merkel
wartet an der Tür ihres hellen, großen Arbeitszimmers. An einem Ende des
Konferenztischs liegen Akten, Autogrammkarten und ein Bernstein. Sie setzt
sich ans andere Ende. Sie weiß, dieses Interview ist eine Premiere.
taz: Frau Bundeskanzlerin, Winfried Kretschmann hat gesagt, er bete jeden
Tag für Sie. Beten Sie manchmal auch für den Grünen Kretschmann?
Angela Merkel: Das muss ich mit Nein beantworten. So konkret politisch bete
ich sowieso nicht, aber das ist ohnehin eine sehr private Angelegenheit.
Unabhängig davon schätze ich Ministerpräsident Kretschmann sehr.
Ihr jüngerer Bruder Marcus war während der Wendezeit bei Bündnis 90. Warum
sind Sie damals eigentlich nicht bei Bündnis 90 und dann den Grünen
gelandet?
In der Tat habe ich im Herbst 1989 einen Suchprozess durchgemacht. Ich war
beim Demokratischen Aufbruch und bei der SDP, wie die Sozialdemokraten in
der DDR damals noch hießen, und ich habe mir natürlich auch das Neue Forum,
den Vorläufer von Bündnis 90, angesehen. Aber das Neue Forum stand für den
sogenannten dritten Weg, eine demokratisch erneuerte DDR, und daran glaubte
ich nicht. Ich gehörte zu denen, die die schnelle deutsche Einheit wollten,
die soziale Marktwirtschaft. Schon am Tag der Maueröffnung haben etliche
meiner Freunde das ganz anders bewertet als ich. So bin ich beim
Demokratischen Aufbruch gelandet und schließlich in der Allianz für
Deutschland, in der wir dann mit der Deutschen Einheit 1990 CDU-Mitglieder
wurden.
Unsere Frage zielte auf Ihren möglicherweise grünen Kern ab.
Das habe ich auch so verstanden. Ich war ja Bundesumweltministerin, eine
sehr spannende Zeit. Und ich habe mich auch in der CDU dafür eingesetzt,
dass wir in unserem Grundsatzprogramm nicht nur von der sozialen, sondern
auch von der ökologischen Marktwirtschaft sprechen. Andererseits habe ich
zum Beispiel 1986, als das furchtbare Reaktorunglück in Tschernobyl
passierte, allein die sowjetischen Verhältnisse dafür verantwortlich
gemacht, den schlechten Sicherheitsstandard dort und nicht die friedliche
Nutzung der Kernenergie an sich. Es hat dann noch bis zur Katastrophe von
Fukushima im Jahr 2011 gedauert, bis ich meine Haltung grundsätzlich
geändert habe.
In Reden und erst neulich im Wahlkampf gebrauchen Sie immer wieder das Bild
von der „frischen Luft“. Ist das Ihr Begriff von Grün?
Damit meine ich, dass man sich immer wieder ins Neue vorwagen muss. Wir
leben in einer Welt großer Veränderungen. Und frische Luft heißt da
einfach: immer wieder über den Tellerrand gucken, neugierig sein, auf Neues
zugehen. Manchmal denke ich, dass wir in Deutschland auf so hohem Niveau
leben, dass wir nicht immer innovationsfreudig genug sind.
Ist irgendwas an Ihnen links?
Ich kann mit solchen Schubladen wenig anfangen. Schauen Sie, erst mal bin
ich CDU, mit der ich liberale, christlich-soziale und konservative Wurzeln
gleichermaßen verbinde. Mir ist die menschliche Gestaltung der
Globalisierung wichtig, ebenso wie das Thema Nachhaltigkeit, also
Generationengerechtigkeit, nachhaltige Finanzen und Ressourcenverbrauch.
Daran habe ich immer gearbeitet.
Aber nichts Linkes.
Sie möchten gerade definieren, was ich nicht bin, und ich antworte jetzt
damit, was ich bin. Aus den liberalen, christlich-sozialen und
konservativen Wurzeln der CDU, die ich sehr achte, ergeben sich bestimmte
Berührungspunkte mit dem, was man gemeinhin links nennt. Nehmen Sie zum
Beispiel das Christlich-Soziale: Die christliche Soziallehre hat auch
Berührungspunkte mit sozialdemokratischem Denken, die CDU hat sich zum
Beispiel immer zur wichtigen Rolle der Gewerkschaften bekannt, denn es ist
immer wichtig, sowohl über das Erwirtschaften des Wohlstands als auch über
gerechte Verteilung zu sprechen. Ich weiß nicht, ob das für Sie links ist
oder nicht – für mich ist es christlich-sozial oder anders gesagt CDU pur.
Was sagen Sie: Leiden die Grünen mittlerweile darunter, dass sie sich zu
weit von ihren linken Wurzeln entfernt haben und auf Sie und die
bürgerliche Mitte zubewegt haben?
Auch die Grünen haben ja aus meiner Sicht unterschiedliche Wurzeln. Eine,
wie ich es sagen würde, sehr staatskritische Wurzel und eine, bei der es um
die Bewahrung der Schöpfung geht. Bei diesem behutsamen Umgang mit der
Schöpfung sehe ich große Nähe zu meinen Überzeugungen in der CDU. Und
dennoch gibt es auch eine sehr starke Staatskritik, die wir in der CDU und
ich persönlich überhaupt nicht teilen.
Worin sehen Sie die Aufgabe der Grünen im Parteienspektrum?
Es ist nicht an mir, den Platz der Grünen im politischen Spektrum zu
definieren. Das würde ich umgekehrt auch nicht mögen. Wichtig scheint mir,
dass sie sich immer wieder neue Themen erarbeiten, weil sich manche Themen,
zum Beispiel die Kernenergie, weitgehend erledigt haben. Ich stelle mir
vor, dass die humane Gestaltung der Globalisierung auch für die Grünen ein
spannendes Thema sein kann.
Frau Merkel, in den ersten Wochen der großen Flüchtlingsdebatte, am 15.
September 2015, haben Sie hier im Kanzleramt eine Pressekonferenz gegeben.
Auf die Frage, ob Sie Flüchtlinge zum Kommen nach Deutschland animiert
haben, erwiderten Sie: „Wenn wir jetzt anfangen, uns noch entschuldigen zu
müssen dafür, dass wir in Notsituationen ein freundliches Gesicht zeigen,
dann ist das nicht mein Land.“ Hatten Sie sich den Satz vorher überlegt?
Nein, ich hatte mir den Satz nicht zurechtgelegt. Er kam auf eine
Nachfrage, was ich zu dem Vorwurf sagen würde, dass ich durch mein Vorgehen
Flüchtlinge zur Flucht animiert hätte.
Der Selfie-Vorwurf.
Unter anderem. Ich fand das abwegig, in zweierlei Hinsicht. Einmal waren
bis zu dieser Aussage im Sommer 2015 schon rund 400.000 Flüchtlinge
gekommen. Es gab außerdem Mitte August eine Prognose des
Bundesinnenministeriums von 800.000 Flüchtlingen für das gesamte Jahr. Zum
Schluss kamen rund 890.000, wir lagen also nicht ganz daneben. Das Zweite
war, dass es ja gar nicht allein meine Haltung war, sondern die der
Menschen am Bahnhof in München und anderswo, der vielen Menschen, die die
Geflüchteten freundlich aufgenommen haben. In dieser Situation habe ich
gesagt: Wenn man Menschen hilft und kein freundliches Gesicht dazu machen
darf, dann ist das nicht mein Land. Das war spontan. Es kam aus meinem
Innersten. Weil das meine Überzeugung ist.
Viele Linke und Linksliberale, auch viele taz-Leser haben damals gestutzt:
Ups, dürfen wir Merkel gut finden? Und in der taz entstand ein Titel, der
das mit Herzen thematisierte.
Wir haben ja gerade über die christlich-sozialen Wurzeln der Parteien
gesprochen. In diesem Sinne war mein Satz eine Aussage, die genauso im
Einklang mit Prinzipien der CDU wie mit Prinzipien anderer Menschen und
sicher auch anderer Parteien stand.
Waren die Sympathiekundgebungen von links damals ein ernster Hinweis für
Sie, wie weit weg Sie sich zu diesem Zeitpunkt von Ihren Konservativen
entfernt hatten?
Nein. Auch viele in der Union haben es ja durchaus unterstützt, die
Flüchtlinge aus Ungarn nach Deutschland einreisen zu lassen. Erst waren
diese Menschen mit Zügen gekommen, dann zu Fuß, weil Ministerpräsident
Orbán ihnen urplötzlich die Reisemöglichkeit entzogen hatte. Die großen
Meinungsunterschiede drehten sich viel mehr um die Frage: Wie geht es
weiter? Mir war klar: so natürlich nicht, denn kriminelle Schlepper und
Schleuser verdienten mit dem Elend der Flüchtlinge ihr Geld. Deshalb habe
ich ab Anfang September an diesem EU-Türkei-Abkommen gearbeitet, nachdem
ich schon den ganzen Sommer darüber nachgedacht hatte. Das ist viele
Monate ja gar nicht beachtet worden. Ich war dann, vorsichtig formuliert,
sehr erstaunt, dass das Abkommen, als es Mitte März 2016 abgeschlossen
werden konnte, auf eine so negative Bewertung stieß, und zwar
parteiübergreifend. Trotzdem war das der einzige Weg, eine gewisse Ordnung
und Steuerung in diese Sache zu bringen, und zwar so, dass es auch im
Interesse der Zuflucht suchenden Menschen ist und das Sterben in der Ägäis
aufhören kann.
Sie haben das freundliche Gesicht gegen ein hartes, strenges ausgetauscht.
Aussetzung des Familiennachzugs für subsidiär Schutzberechtigte, vor allem
Syrer. Die Möglichkeit, psychisch Kranke abzuschieben. Abschiebungen ohne
Ankündigung, Abschiebungen nach Afghanistan. Ist dieses Land damit immer
noch „ihr Land“?
Ja, dies ist mein Land, denn wir geben jedem, der in Deutschland um Asyl
bittet, die Chance, einen Antrag zu stellen, und wir schaffen bessere
Lebensbedingungen vor Ort, in dem wir Fluchtursachen bekämpfen. Zugleich
müssen wir auch deutlich machen, dass es Regeln gibt. An der Stelle finde
ich übrigens, dass die grüne Programmatik sehr unklar ist. Sie drückt sich
um die schweren Fragen. Wir helfen Afrika doch nicht, indem wir sagen, dass
wir jeden aufnehmen, der kommen möchte. Wir müssen ganz anders an die Sache
herangehen: Flucht- und Migrationsursachen bekämpfen, zu besseren
Lebensbedingungen beitragen und Perspektiven in den Heimatländern schaffen,
legale Wege der Migration finden, statt den Schleppern die Hand zu reichen.
Deshalb gehören zu unserem humanitären Asylrecht auch die strengen Regeln.
Im Übrigen kann man eine Rückführung mit einem freundlichen Gesicht
verbinden.
Wie soll das gehen, Abschiebungen mit einem freundlichen Gesicht?
Es ist ohne Zweifel ein schwerer Weg, den dieser Mensch gehen muss, aber
auch dabei kann und soll man ihm mit Respekt und Menschlichkeit begegnen.
Wir sollten nicht die einfache Botschaft senden, dass Millionen Menschen
zum Beispiel aus Afghanistan bei uns eine neue Heimat finden, sosehr ich
auch Verständnis für wirtschaftliche Not habe. In diesen Fragen, das sage
ich ganz offen, spüre ich, wie schwer politische Verantwortung auch sein
kann. Ich sehe die individuellen Schicksale – aber ich muss auch ordnen,
steuern und darauf achten, dass Illegalität nicht noch gefördert wird. Das
würde niemandem helfen.
Sie haben Afrika angesprochen. Um Flüchtlinge dort aufzuhalten, paktieren
Sie mit dem verbrecherischen Regime im Sudan. Das bekommt sogar 100
Millionen Euro von der EU, die deutsche Gesellschaft für Internationale
Zusammenarbeit schult sudanesische Polizisten. Ist das „ihr Land“, ein Land
also, das mit dieser weltweit geächteten Diktatur zusammenarbeitet?
Wenn in Deutschland über Afrika und Migration gesprochen wird, geht es
meist um die Menschen, die von Libyen nach Italien kommen. Was oft zu wenig
gesehen wird: Auf dem Kontinent selbst gibt es enorme
Binnenfluchtbewegungen. Wir legitimieren natürlich überhaupt nicht das
Regime im Sudan. Wir gehören zu denen, die den dortigen Präsidenten
al-Baschir boykottieren. Dennoch stellt sich die Frage, welche und wie viel
Entwicklungszusammenarbeit trotzdem sinnvoll ist und wie man Staatlichkeit
dort festigt.
Der ehemalige Sudan-Ermittler der UN, Jérôme Tubiana, sagt, es sei „eine
Schande“, dass die GIZ sich auf so eine Zusammenarbeit einlasse. Es sei bei
solchen Trainings unklar, wer ein Scherge sei, egal welche Uniform er
gerade trage.
Sehen Sie, der Sudan ist ein wichtiges Transit-, Herkunfts- und
Aufnahmeland von Flüchtlingen am Horn von Afrika. Fast 400.000 Flüchtlinge
haben dort Zuflucht gefunden, vor allem aus Südsudan und Eritrea. Sudan ist
somit ein Schlüsselland für die Bewältigung der Migration am Horn von
Afrika. Wir wollen gezielt gegen Schleusertum, Menschenhandel und illegale
Migration vorgehen. Dazu arbeiten wir mit der EU, den Vereinten Nationen
und internationalen Organisationen wie IOM an der Verbesserung der
Lebensbedingungen von Flüchtlingen, Verbesserung des Grenzschutzes, bei der
Rückkehr und bei Informationskampagnen eng zusammen.
Grenzmanagement-Maßnahmen werden dabei als Teilbereich des so genannten
Migrationsmanagements durchgeführt. Dabei soll etwa erreicht werden, dass
Beamte des Grenzmanagements Schutzbedürftige, also zum Beispiel Betroffene
des Menschenhandels, erkennen und sie unter Beachtung aller internationalen
Standards an die zuständigen staatlichen beziehungsweise
zivilgesellschaftlichen Stellen weitervermitteln. Dabei prüfen wir sehr
sorgfältig, mit wem wir zusammenarbeiten.
Nach Deutschland darf man allein aus politischen, aus humanitären Gründen.
Es fehlt die zweite Tür. Würde ein viertes Kabinett Merkel ein
Einwanderungsgesetz schaffen?
Wir haben in unser Regierungsprogramm geschrieben, dass kein freier
Arbeitsplatz unbesetzt bleiben darf, und wir haben uns in dem Zusammenhang
erstmals ausdrücklich auch zu einem Fachkräfte-Zuwanderungsgesetz bekannt.
Es gibt ja heute schon Mechanismen, etwa die Blue Card. Zum Teil haben wir
aber auch noch eher komplizierte Prozeduren.
Nirgendwo steht ganz oben: Einwanderung nach Deutschland ist möglich.
Einwanderung nach Deutschland ist eine Realität. Wir haben den europäischen
Binnenmarkt und damit die Freizügigkeit für jeden Europäer. Im
Regierungsprogramm bekennen wir uns dazu, dass wir Zuwanderung brauchen.
Ich kann mir sehr gut vorstellen, dass wir mit afrikanischen Ländern
Kontingente vereinbaren, wonach eine bestimmte Anzahl von Menschen hier
studieren oder arbeiten kann. So würden wir Anreize dafür schaffen, legale
Wege zu finden. Nur zu sagen, Illegalität geht nicht, und gar nichts
anzubieten, ist falsch.
Geht es Ihnen da also um „nützliche“ Flüchtlinge?
Nutzen finde ich im Zusammenhang mit Menschen einen falschen Begriff.
Flüchtlingen, die nach Deutschland gekommen sind, müssen wir Schutz vor
Krieg und politischer Verfolgung gewähren. Bei Menschen, die zu uns aus
wirtschaftlichen Gründen kommen wollen, geht es natürlich darum, dass
diejenigen kommen, die wir brauchen, Pflegekräfte beispielsweise. Aber eine
Einwanderung in ein Studium oder eine Arbeitsmöglichkeit ist auch im
Interesse der Migranten und eröffnet ihm oder ihr neue Chancen.
Zu einem anderen Thema: Sie haben viele Jahre eng mit der Autoindustrie
zusammengearbeitet. Die Vorstandsvorsitzenden durften oft hierher zu Ihnen
ins Kanzleramt kommen und ihre Sorgen vortragen …
… Herr Zetsche war auch schon auf dem Grünen-Parteitag.
… Und jetzt schlagen Sie neue Töne gegenüber der Autoindustrie an: Es sei
betrogen worden. Schonungslose Aufklärung sei nötig. Ist das wieder so ein
Rollenwechsel Marke Merkel? Von der Freundin der Autobosse zur Anklägerin
der Autobosse?
Weder noch. Die Automobilindustrie ist eine eminent wichtige Säule unserer
Wirtschaft. Sie beschäftigt 800.000 bis 900.000 Menschen, und das sind sehr
gute Arbeitsplätze. Diese Industrie ist in einem starken Umbruch: durch die
Digitalisierung, durch neue Antriebstechnologien. Jetzt ist es in unser
aller Interesse, dass dieser Wirtschaftszweig die Zeichen der Zeit nicht
verschläft. Nun sind aber gravierende Vorkommnisse passiert, die uns alle
zu Recht empören. Damit setze ich mich auseinander.
Warum haben Sie nicht viel früher auf ein schnelleres Umdenken Richtung
Zukunft gedrängt?
Ich habe mich immer wieder damit befasst, ob die Automobilindustrie mit der
Entwicklung auch wirklich mitgeht. Da war das Tempo nicht so hoch, aber man
hat ja inzwischen auch einiges getan. Die Automobilfirmen stecken besonders
viel in Forschung und Entwicklung. Die Frage ist nur, ob sie sich immer auf
die richtigen Schwerpunkte konzentriert haben. Nun muss die Politik
schonungslos benennen, wo etwas falsch gelaufen ist. Da Maß und Mitte zu
finden, das ist die Aufgabe.
Im Klimaschutz versagt die Autoindustrie völlig. Aus deutschen Autos kommen
heute praktisch so viele Co2-Emissionen wie 1990. Ist diese Industrie so
veränderungsresistent, dass sie untergehen könnte?
Dass sie im Klimaschutz völlig versagt, sehe ich nicht so. Unsere
europäischen Co2-Vorgaben für die Flotten der einzelnen Hersteller sind
durchaus ambitioniert. Die Zahl der Autos ist ja seit 1990 auch erheblich
gestiegen. Aber wir sind uns einig: Wenn dieses Jahrhundert weitgehend
Co2-frei enden soll, dann muss sich im Verkehr massiv etwas ändern. Auf
diese Veränderung, ob sie nun in der E-Mobilität liegt oder in der
Wasserstoff-Brennstoffzelle, muss sich die Industrie vorbereiten.
Verbrennungsmotoren bleiben für längere Zeit noch als Brückentechnologie
wichtig. Deshalb müssen wir aufpassen, dass wir nicht auch moderne und
insbesondere die sauberen Diesel verteufeln, sonst werden wir die
Co2-Vorgaben kaum einhalten können.
Alle Welt streitet über Fahrverbote für Diesel in Innenstädten. Aber das
Problem kommt vor allem daher, dass sich der Bund weigert, eine
einheitliche Regelung zu treffen. Eine blaue Plakette für neuere
Dieselwagen würde schon helfen. Warum verweigert der Bund die?
Die Grenzwerte für Stickoxide werden überschritten, und daran müssen wir
etwas ändern. Jetzt könnte man mit Fahrverboten für bestimmte Autotypen
antworten, dafür gäbe es die blaue Plakette. Wir wollen aber Fahrverbote
verhindern. Wir haben politisch die Menschen animiert, Dieselfahrzeuge zu
kaufen, weil die Co2-ärmer sind. Wir würden also gerade die mit
Fahrverboten bestrafen, die sich klimaschonend verhalten haben.
Haben Sie sich geärgert, dass die Umweltministerin und das Umweltbundesamt
die Ergebnisse Ihres Dieselgipfels zerschossen haben? Das Amt hat
ausgerechnet, dass Software-Updates und Umtauschaktionen nicht reichen, um
Fahrverbote in den meisten relevanten Städten zu verhindern.
Dass der Gipfel im August nicht ausreicht, die verschiedenen Probleme zu
lösen, war immer klar. Ich habe von einem ersten Schritt gesprochen, dem
weitere folgen müssen. Es wurden Arbeitsgruppen beschlossen, die man nun
auch arbeiten lassen sollte. Unbestritten ist, dass mit dem reinen
Software-Update die Grenzwerte nicht eingehalten werden. Wir haben zwei
weitere Bausteine. Das eine sind die Umtauschprämien, die ja gerade erst
angelaufen sind, es ist also noch offen, wie viele Menschen davon Gebrauch
machen und was das für die Emissionen bedeutet. Der zweite ist die Frage,
was man im Verkehrsmanagement der Städte noch verändern kann, zum Beispiel
über den öffentlichen Personennahverkehr.
Jetzt schieben Sie die Sache zu den Kommunen.
Ich habe für den 4. September die Vertreter der am stärksten betroffenen
Kommunen und die Ministerpräsidenten zur Beratung ins Kanzleramt
eingeladen. Wir müssen jede Kommune individuell betrachten. In Kiel sind
die Stickoxid-Emissionen auch deshalb so hoch, weil Schiffe betankt werden.
In Stuttgart spielt die besondere geografische Lage eine Rolle. Ich will,
dass wir gerade aus diesen Städten die fortschrittlichsten machen, was
Mobilität anbelangt, Städte mit intelligenten Lösungen für die neuen
Mobilitätsbedürfnisse. Arbeitgeber könnten zum Beispiel mehr Ladestellen
für E-Mobilität einrichten, oder man könnte das verstärkt in Parkhäusern
anbieten.
Warum wird nicht die Hardware in alten Dieselfahrzeugen nachgerüstet?
Wenn ich in alte Technologie pro Auto noch mal 1.000 bis 2.000 Euro stecke
und die Wirtschaft dafür zwischen 10 und 20 Milliarden Euro aufwenden muss,
die sie nicht in die Entwicklung neuer Technologien stecken kann – ist das
eine Investition, die der Staat befördern sollte? Da müssen wir erst alle
anderen Wege prüfen, bevor wir dazu ein abschließendes Urteil fällen. Ich
möchte keine Lösung, die zwar Millionen Dieselfahrer betrifft, aber
gleichzeitig dazu führt, dass die Autoindustrie sich nicht ausreichend um
eine ressourcenschonende Zukunft kümmern kann. Die taz ist doch jetzt schon
der Meinung, dass das nicht ausreichend geschieht, und hat dafür auch
einige gute Argumente.
Noch eine Frage, die uns wichtig ist. Unser Kollege Deniz Yücel sitzt immer
noch in der Türkei in Haft. Warum konnten Sie bisher nicht erreichen, dass
er freikommt?
Wir setzen uns auf allen Kanälen für ihn ein. Das ist leider sehr
kompliziert, weil Deniz Yücel Doppelstaatler ist und wir da konsularisch
nicht so viele Rechte haben. Trotzdem tun wir alles in unserer Macht
Stehende für ihn, öffentlich, aber vor allem auch in unseren Kontakten mit
türkischen Behörden. Wir sorgen uns auch um Mesale Tolu und Peter Steudtner
und die weiteren Inhaftierten. Wir haben die Reisehinweise für die Türkei
verändert und gehen weit restriktiver an wirtschaftliche Kontakte heran.
All das hat leider bisher noch nicht zur Freilassung Ihres Kollegen
geführt, aber nichts würde ich mir mehr wünschen als das.
28 Aug 2017
## AUTOREN
Georg Löwisch
Anja Maier
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