| # taz.de -- Wahlverhalten in Deutschland: Die Kanzlerin der Erschöpften | |
| > Die Deutschen sind so zufrieden wie lange nicht mehr. Sie wollen Merkel. | |
| > Doch viele verarmen, sie leiden häufig an Depressionen und Burn-Outs. | |
| Bild: Vor lauter Arbeit schon ganz lull und lall: die Deutschen | |
| Den Deutschen geht es gut im Sommer 2017, glaubt man Umfragen und Daten. | |
| Die Arbeitslosigkeit ist gesunken, sogar die Reallöhne sind, nachdem sie | |
| zwei Jahrzehnte schrumpften, leicht gestiegen. Die Deutschen, so die | |
| Botschaft der meisten Leitmedien, können zufrieden sein. Die Wiederwahl von | |
| Angela Merkel erscheint da als logische Konsequenz. | |
| Doch dieses Bild ist nur halb wahr. Die Mittelschicht profitiert zwar vom | |
| Boom. Während die oberen 60 Prozent teilweise kräftig mehr verdienen, sieht | |
| es bei den unteren 40 Prozent anders aus. Sie haben, laut Armuts- und | |
| Reichtumsbericht der Bundesregierung, real weniger als vor zwanzig Jahren. | |
| Doch die Bürger malen ein rosafarbenes Bild der Lage, wohl auch mit Blick | |
| auf die Krisen in Südeuropa. Laut einer Umfrage der Forschungsgruppe Wahlen | |
| halten zwei Drittel der Deutschen ihre [1][wirtschaftliche Situation] für | |
| gut und nur 10 Prozent für schlecht – was angesichts der vermischten Fakten | |
| doch ein wenig autosuggestiv anmutet. Einer DIW-Studie zufolge sind die | |
| Bürger zufrieden wie seit 1984 nicht mehr. | |
| Die Stimmung ist besser als die Lage, die Deutschen scheinen selbstbewusst | |
| und unverzagt. Doch an den Rändern dieses optimistischen Gemäldes erkennt | |
| man ein irritierendes Flackern. Denn ebenso steil wie die Zahlen in den | |
| Glücksindexen nach oben weisen, so steil steigen auch der Konsum von | |
| Antidepressiva (doppelt so viel wie vor zehn Jahren) und die | |
| Krankschreibungen wegen psychischer Störungen an. Burn-out-Diagnosen haben | |
| sich in den letzten zehn Jahren fast verzwanzigfacht. Derzeit leiden rund | |
| vier Millionen Bürger an einer Depression, der typischen Krankheit der | |
| überforderten Ich-Gesellschaft. | |
| ## Die Nachtseite des flexiblen Kapitalismus | |
| Für die Demokratie ist die Zunahme der Depression, die in allen westlichen | |
| Gesellschaften zu beobachten ist, so der französische Soziologe Alain | |
| Ehrenberg, ein bedenkliches Phänomen. Demokratie beruht auf Streit. Es gibt | |
| sie nicht ohne den Bürger, der souverän, konflikt- und entscheidungsfähig | |
| ist. Wer am Rand der Depression steht, ist das kaum noch. | |
| Die Depression ist, so Ehrenbergs Analyse in der 1998 verfassten Studie | |
| „Das erschöpfte Selbst“, die Nachtseite des flexiblen Kapitalismus. Die | |
| Depression ist die Krankheit der liberalisierten Gesellschaft, die viele | |
| Zwänge und autoritäre Einengungen abgestreift hat und den Individuen | |
| mannigfache Chancen öffnet, sich selbst zu verwirklichen. Das Ideal im | |
| flexiblen, hedonistischen Kapitalismus ist nicht mehr der pflichtbewusste | |
| Angestellte, der um fünf Uhr nach Hause geht, sondern der Kreative, der | |
| sich in seinem Job selbst verwirklichen will und allzeit erreichbar ist. | |
| Job und Privates verschwimmen, das Ich wird selbst zur Arbeit. „Die | |
| Dichotomie erlaubt/verboten hat ihre Wirkung verloren. An ihre Stelle ist | |
| die Unterscheidung zwischen möglich/unmöglich getreten. Nicht mehr | |
| Unterwerfung unter die Normen ist seither gefragt, sondern die Entwicklung | |
| einer ‚reichen Persönlichkeit‘, die Arbeit am Selbst“, so Ehrenberg. | |
| Und die kann schön, aber auch mehr als anstrengend sein. Die schier | |
| unendlichen Möglichkeiten der Selbstexpression schaffen subtilen Druck, sie | |
| erzeugen ein schwelendes, diffuses Gefühl, überfordert zu sein. Dass die | |
| Grenzen zwischen Selbstverwirklichung, Selbstoptimierung und | |
| Selbstüberforderung verwischen, kann man nicht nur in den Castingshows im | |
| TV sehen. | |
| Der leise Zwang, nicht nur erfolgreich, sondern auch glücklich zu sein, | |
| gebiert mitunter das nagende Gefühl, alldem nicht zu genügen, irgendwie | |
| minderwertig zu sein. Man muss im Job flexibel verwendbar sein, für die | |
| Familie da sein und eine brauchbare Work-Life-Balance vorweisen. Der Mensch | |
| leidet im digitalen Kapitalismus, so Ehrenberg, an der „fatigue d’être soi… | |
| – der Mühe, man selbst zu sein. „Sei du selbst“ ist beides: Versprechen … | |
| Joch. | |
| ## Widerspruch zur Alltagspraxis | |
| Das Selbstbild der Deutschen steht in Sachen Arbeit in auffälligem | |
| Widerspruch zu ihrer Alltagspraxis. So rangieren in Umfragen Karriere, | |
| Arbeit und Geld weit hinter Familie und sozialen Kontakten. 85 Prozent | |
| halten es für das Wichtigste, Zeit für Freunde zu haben, nur ein Drittel | |
| strebt nach Aufstieg, Geld , Wohlstand. Vor vierzig Jahren war das noch | |
| umgekehrt. | |
| Die Deutschen sind postmateriell eingestellt – und von erstaunlich | |
| ungebrochenem Arbeitseifer. Im letzten Jahr wurde fast 60 Milliarden | |
| Stunden gearbeitet, so viel wie seit 25 Jahren nicht mehr. Noch nie gab es | |
| so viele sozialversicherungspflichtige Beschäftigte in Deutschland. Die | |
| Arbeit in Krankenhäusern, Büros, Callcentern und IT-Jobs ist dichter, | |
| schneller, komplexer geworden. Bei Umfragen bekundet fast die Hälfte der | |
| Berufstätigen, gern mal eine Auszeit, ein Sabbatical, zu nehmen. Doch nur | |
| eine verschwindende Minderheit tut dies auch. Zwischen dem Selbstbild der | |
| Deutschen, die sich als entspannte Postmaterialisten sehen, und ihrem | |
| Alltag, in dem sie hartnäckig ihrer Arbeit nachgehen, gibt es eine Kluft. | |
| Das ist die Folie für das Phänomen Merkel. Ihr robuster Erfolg verdankt | |
| sich dem Image, dass sie Probleme – von Trump bis Putin – irgendwie regelt. | |
| Wer sowieso Job, Familie, Freizeit kaum unter einen Hut bringt, empfindet | |
| das als Entlastung. Die Figur Merkel beschwichtigt die diffusen, schwer | |
| fassbaren Ängste, nicht indem sie die Befürchtungen, etwa im Job nicht mehr | |
| mitzukommen, zur Sprache bringt – sondern indem sie die Botschaft sendet, | |
| das Publikum wenigstens nicht mit noch mehr Problemen zu behelligen. | |
| Merkel redet kaum über sich. In einer Gesellschaft der ununterbrochenen | |
| Ausstellung des eigenen Ichs, in der gestandene Politiker in Talkshows ihre | |
| Krankheiten ausbreiten, ist das ungewöhnlich. Das Auffälligste an Merkel | |
| als Person ist ihre beruhigende Unauffälligkeit. | |
| Und: Sie fordert nichts von den Bürgern. Als sie das 2015 in der | |
| Flüchtlingskrise tat, verdampfte ihre Popularität prompt. Im Normalmodus | |
| entwirft sie keine Pläne und verkündet keine weit gesteckten Ziele. Ende | |
| des Verbrennungsmotors? Ja, irgendwann. | |
| Die Kanzlerin streitet nicht. Sie dämpft, leise und effektiv, Konflikte und | |
| plündert das Waffenarsenal der politischen Konkurrenz, indem sie deren | |
| Forderungen übernimmt, wo es nur geht. Damit entspricht sie nicht nur der | |
| tief sitzenden Neigung der Deutschen zu Mitte und Konsens, sondern auch der | |
| Harmoniesehnsucht einer Gesellschaft am Rande der Erschöpfung. | |
| ## Bei Merkel gibt es keine Zukunft | |
| Die Kanzlerin verkörpert, so der Psychologe Stephan Grünewald, eine Art | |
| „permanente Gegenwart“. Bei Merkel gibt es keine Zukunft, die von uns | |
| grundlegende Änderungen fordert. Damit kommt sie einem paradox anmutenden | |
| Verhältnis der Gesellschaft zum Fortschritt entgegen. Gerade weil sich | |
| Arbeiten, Medien, Kommunikation rasend schnell verändern und von uns | |
| dauernde Anpassungsleistungen verlangen, wirkt das Versprechen, dass alles | |
| irgendwie so bleibt, wie es ist, wie Kräutertee: besänftigend. Im | |
| SPD-Wahlprogramm ist Fortschritt Schlüsselbegriff und Anforderung, im | |
| CDU-Programm spielt er kaum eine Rolle. Die Weigerung, die Zukunft in den | |
| Blick zu nehmen, wirkt derzeit attraktiver, als sie zu problematisieren. | |
| Irgendwann, so die dunkle Ahnung des Publikums, wird der Fortschritt | |
| ohnehin wie ein Orkan über uns hinwegfegen. | |
| Die eiserne Neigung, immer wieder Merkel zu wählen, ist weniger ein | |
| automatischer Reflex von Haushaltsüberschuss und Exportrekord. Das Phänomen | |
| Merkel ist auch nur zum Teil Ausdruck einer Gesellschaft, die zu | |
| selbstzufrieden für grundsätzlichen Dissens ist und die glaubt, Politik nur | |
| als pragmatische Verwaltung des Nötigen zu brauchen. Das Prinzip Merkel ist | |
| die ideale Projektionsfläche einer Gesellschaft, die irgendwo zwischen | |
| „Alles ist so gut wie noch nie“ und Erschöpfungszustand oszilliert. | |
| Als Martin Schulz im Frühjahr durch Deutschland reiste, machte er eine | |
| interessante Beobachtung: Die Sandwich-Generation, jene 30- bis | |
| 50-Jährigen, die sich gleichzeitig um Karriere, Kinder und | |
| pflegebedürftigen Eltern kümmern, sind überlastet. Schulz benannte, was | |
| viele umtreibt – das Gefühl, trotz aller Erfolge, Freiheiten und | |
| Fortschritte, ausgelaugt zu sein. Doch als Lösung bot die SPD, außer | |
| kostenfreien Kitas, nicht viel an. Schulz wirkte wie jemand, der eine | |
| zutreffende Diagnose stellt und zu Aspirin rät. Kein Grund, den Arzt zu | |
| wechseln. | |
| 2 Sep 2017 | |
| ## LINKS | |
| [1] http://www.forschungsgruppe.de/Umfragen/Politbarometer/Langzeitentwicklung_… | |
| ## AUTOREN | |
| Stefan Reinecke | |
| ## TAGS | |
| Lesestück Meinung und Analyse | |
| Schwerpunkt Bundestagswahl 2025 | |
| Schwerpunkt Angela Merkel | |
| Depression | |
| Burnout | |
| Arbeit | |
| Depression | |
| Schwerpunkt Bundestagswahl 2025 | |
| Schwerpunkt Bundestagswahl 2025 | |
| TV-Duell | |
| Schwerpunkt Bundestagswahl 2025 | |
| TV-Duell | |
| Schwerpunkt Angela Merkel | |
| Schwerpunkt Angela Merkel | |
| taz.leicht | |
| ## ARTIKEL ZUM THEMA | |
| Ausgleich zum Arbeits-Alltag: SPD träumt von Auszeit | |
| SPD Generalsekretär Lars Klingbeil schlägt ein bezahltes Sabbatical-Jahr | |
| alle zwölf Jahre vor. Das klingt gut, schließt aber viele Menschen aus. | |
| Wirkung von Antidepressiva: Wenn die Welt verschwindet | |
| Die Verordnungszahlen von Antidepressiva steigen. Scheinmedikamente wirken | |
| oft genauso gut. Besonders umstritten: Langzeitbehandlungen. | |
| Reaktionen auf das Fernsehduell: Keine Dynamik für Veränderung | |
| Im TV-Duell zwischen Merkel und Schulz fehlten wichtige Fragen, bemängeln | |
| Zuschauer. Die wirklichen Gewinner seien die Rechtspopulisten, meint | |
| Linken-Chefin Kipping. | |
| Kommentar TV-Duell Merkel vs. Schulz: Kein Wunder, dass viele abschalten | |
| Nur fünf Minuten für Sozialpolitik: Das ist zu wenig. Das Vertrauen in die | |
| großen Parteien ist nach diesem Fernsehduell gewiss nicht gestiegen. | |
| TV-Duell zur Bundestagswahl 2017: Merkel routiniert, Schulz angespannt | |
| Merkel entdeckt das Dankeschön, Schulz trifft nicht und manche Frage wirkt | |
| wie von der AfD aufgeschrieben. Das TV-Duell im Überblick. | |
| Debatte Ausgang der Bundestagswahl: Die Quadratur der Merkel | |
| Sieben Gründe, warum die Kanzlerin wahrscheinlich wieder klar gewinnen wird | |
| – und wieso wir trotzdem wählen gehen müssen. | |
| TV-Duell Merkel gegen Schulz: Sie gegen ihn | |
| Kanzlerin Angela Merkel trifft auf Herausforderer Martin Schulz. Wer macht | |
| die bessere Figur? | |
| Fragestunde mit Angela Merkel: Immer im Dienst | |
| Pflichtbewusst und bescheiden: So präsentiert sich Angela Merkel. Auf | |
| Nachfragen reagiert sie professionell – außer bei einem Thema. | |
| Angela Merkel im taz-Interview: „Ja, dies ist mein Land“ | |
| Man kann afghanische Flüchtlinge auch mit freundlichem Gesicht abschieben, | |
| sagt die Kanzlerin – und erklärt, was an ihr grün und links ist. | |
| Leichte Sprache: Wie Angela Merkel Wahl-Kampf macht | |
| Angela Merkel muss endlich sagen, welche Themen ihr bei der Bundestags-Wahl | |
| wichtig sind. |