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# taz.de -- Wirkung von Antidepressiva: Wenn die Welt verschwindet
> Die Verordnungszahlen von Antidepressiva steigen. Scheinmedikamente
> wirken oft genauso gut. Besonders umstritten: Langzeitbehandlungen.
Bild: Nichts sehen, nichts hören – wenn das da draußen alles zu viel ist
Berlin taz | Siglinde F. ist 55 Jahre alt und Mitglied einer
Selbsthilfegruppe in Berlin-Charlottenburg. „Ich glaube schon, dass mir die
Pillen geholfen haben“, sagt die Pädagogin, die Citalopram schluckt, ein
verbreitetes Antidepressivum. Vor drei Jahren war sie nach einer Trennung
in ein Loch gefallen, hatte sich zu Hause verkrochen, war lange
krankgeschrieben. „Die Welt war verschwunden“, erzählt F.
Sie arbeitete sich aus dem Tief, machte eine Psychotherapie. Die Pillen
blieben. Die Stimmungsschwankungen auch. „Ich habe das Gefühl, die
Tabletten bringen nichts mehr“, sagt F., „aber ohne das Zeug wäre
vielleicht alles schlimmer“.
So wie F. geht es vielen depressiven Patienten. Sie geraten in eine Krise,
bemühen sich um eine Psychotherapie. Psychotherapien haben sich als wirksam
erwiesen, aber die Wartezeiten können lang sein und jede Therapie endet
mal. Für viele PatientInnen stellt sich die Frage: Soll ich anfangen mit
den Pillen? Und wie geht es dann weiter?
„Länger als ein Jahr sollte man Antidepressiva nicht nehmen“, sagt Peter
Ansari, Neurobiologe, Pharmakritiker und Mitglied im Ausschuss
Psychopharmaka der Deutschen Gesellschaft für Soziale Psychiatrie (DGSP).
Die DGSP rügt die steigenden Verordnungszahlen. Die Medikamente hätten
„keine spezifisch antidepressive Wirkung“, heißt es in einer Erklärung. D…
DGSP plant im Januar ein Hearing zur Wirksamkeit der Pillen. An der Charité
Berlin läuft derzeit eine „Absetzstudie“ zur Frage, was passiert, wenn man
die Einnahme nach längerer Zeit beendet.
Der Optimismus, der vor einigen Jahren aufkam, als neue Generationen der
Stimmungsaufheller auf dem Markt erschienen, ist in der Fachwelt verflogen.
Trotzdem klettern die Verordnungszahlen beständig in die Höhe. Laut der
Techniker Krankenkasse hat sich die Zahl der Verordnungen von
Antidepressiva in den vergangenen zehn Jahren verdoppelt, oft verschreiben
Hausärzte die Medikamente. Rein rechnerisch erhält jeder Versicherte pro
Jahr 14 Tagesdosen. „Das große Problem ist, dass Hausärzte die
Antidepressiva nicht kritischer sehen“, sagt Ansari.
## Große Placeboeffekte
Dabei gilt in der Fachwelt als gesichert, dass ein großer Teil der
positiven Effekte des Pillenschluckens allein auf dem Glauben an deren
Wirksamkeit beruhen. In der Behandlungsleitlinie S3 für Depressionen, die
von renommierten Experten erarbeitet wurde, räumen die AutorInnen große
Placeboeffekte ein. In Therapiestudien mit einer Dauer bis zu zwölf Wochen
betrage die „Response-Rate“ für Antidepressiva „meist zwischen 50 bis 60
Prozent, bei Placeboresponse-Raten von circa 25 bis 35 Prozent“, heißt es
in der Leitlinie. Das würde bedeuten, dass Antidepressiva bei 60 Prozent
der Betroffenen eine Besserung bewirken, Placebos aber immerhin noch bei
bis zu 35 Prozent der Patienten.
Die Psychologen Jürgen Margraf und Silvia Schneider kommen in der
Zeitschrift EMBO Molecular Medicine zu dem Schluss, dass neuere Studien nur
noch eine Wirksamkeit von 40 Prozent bei Antidepressiva und 30 Prozent bei
Scheinmedikamenten belegen. Bei leichteren Depressionen ist ein Unterschied
zu Scheinmedikamenten nicht mehr nachweisbar, räumen die Autoren der
S3-Leitlinie ein.
Im klinischen Alltag sehe man die „klarste Überlegenheit“ der Medikamente
bei schwer Depressiven, berichtet Tom Bschor, Chefarzt für Psychiatrie an
der Schlosspark-Klinik Berlin und Sprecher der Arbeitsgemeinschaft
Psychiatrie in der Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft.
Bschor rät zum sorgsamen Umgang mit Antidepressiva, „denn eine Sorge
besteht darin, dass man nach einer längeren Verordnungszeit von den
Medikamenten nicht mehr gut wegkommt“, meint er. Werden die Medikamente
abgesetzt, kommt es mitunter zu unangenehmen Absetz- und
„Rebound“-Effekten, etwa vorübergehenden Missempfindungen, als würde man
leichte Stromschläge erleiden. Außerdem ist das Rückfallrisiko für
depressive Patienten vermutlich höher, wenn sie nach längerer Zeit die
Medikation beenden, sagt Bschor.
## Nicht ohne Nebenwirkungen
Eine lebenslange Einnahme ist aber schon allein wegen der Nebenwirkungen
problematisch. Selektive Serotonin-Rückaufnahme-Inhibitoren, die
sogenannten SSRI, gehören zur neueren Generation, dazu zählt auch
Citalopram. Von den PatientInnen, die Citalopram nehmen, „haben 80 Prozent
sexuelle Funktionsstörungen“, sagt Ansari. Die SSRI verstärken zudem die
Wirkung von Gerinnungshemmern, die ältere Menschen oft nehmen müssen. Das
Risiko für Herzrhythmusstörungen steigt. „Diese Risiken spielen bei den
Verordnungen für ältere Menschen eine Rolle“, berichtet Tom Bschor.
Anstatt vorschnell in die Medikation einzusteigen, denken manche Ärzte
darüber nach, wie man den Placeboeffekt nutzen könnte. Placeboeffekt
bedeutet ja nicht, dass die Medikamente nicht wirken, sondern nur dass die
Chemie in der Pille nicht relevant ist für deren Effekte. Die positive
Erwartungshaltung, der Kontakt zum Arzt, die Substanzeinnahme haben zur
Folge, dass sich viele Patienten besser fühlen, wenn ein Arzt oder eine
Ärztin ihnen das Gefühl von Hoffnung vermittelt. Die Medizin in vielen
Kulturen der Welt funktioniert nach diesem Prinzip: Scheinmedikament plus
etwas Brimborium drum herum. „Man müsste eine Debatte darüber führen“, s…
Bschor, „ob es okay ist, sich ausschließlich Placeboeffekte zunutze zu
machen“.
Viele Ärzte arbeiten schon mit Schein und Glauben, ohne das offen zu sagen.
So erzählt eine niedergelassene Psychiaterin in Berlin: „Bei leichteren
Depressionen empfehle ich erst mal was Pflanzliches und eine bessere
Ernährung.“ Die Wirksamkeit von Johanniskraut zum Beispiel ist umstritten,
aber die Pillen aus dem Drogeriemarkt geben das Gefühl, etwas zu tun gegen
die Depression. Wird das eingebettet in eine Ernährung mit heißem
Ingwerwasser am Morgen, Omega-3-Fettsäuren, Sport oder Meditation, entsteht
bei manchen Patienten das Gefühl, sich in einer Art antidepressivem
Kontinuum zu bewegen – auch ohne SSRI-Pillen. „Alles, was nicht nur auf
Medikamenten beruht, ist besser“, sagt Ansari.
## Ein Gefühl von Selbstwirksamkeit
Apps und Onlineprogramme, wie sie etwa die Techniker Krankenkasse
offeriert, bieten Übungen an, mit denen sich destruktives Verhalten und
Denken vermindern lässt. Auch Psychotherapeuten arbeiten daran, ihren
Patienten ein Gefühl von Selbstwirksamkeit zu vermitteln. Das ist
entscheidend für den Weg aus der Depression.
Menschen in einer schweren Depression kann man allerdings nicht mit
Sporttipps kommen und auch nicht allein mit einer Gesundheits-App. Für
Patienten in einer schweren Depression steht die Welt still, als wäre sie
tot. Diese Wahrnehmung gehört zum Krankheitsbild. Doch es gibt den
Zeitfaktor. „Die schwere Phase einer Depression ist nach sechs bis acht
Wochen vorbei“, sagt Ansari. Danach, in der leichteren Phase, könnte man
mit einem Selbsthilfeprogramm anfangen. Theoretisch.
„Jeder muss seinen Weg finden“, sagt Siglinde F.. Sie hat eine
Psychotherapie gemacht, liest Ratgeberbücher, hat sich nach
Ayurveda-Prinzipien ernährt und auch schon mal der Telefonseelsorge
gemailt. An eine vollständige Heilung ihrer Depressionen glaubt sie nicht
mehr. „In der Selbsthilfegruppe arbeiten wir daran, die Depression auch mal
akzeptieren zu können“, meint sie. Sie will die Dosis Citalopram halbieren.
Versuchsweise.
6 Dec 2017
## AUTOREN
Barbara Dribbusch
## TAGS
Depression
Nebenwirkungen
Psychotherapie
Lesestück Meinung und Analyse
Alten- und Pflegeheime
Psychopharmaka
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