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# taz.de -- Migration nach Deutschland: Willkommen in der deutschen Realität
> Gern gesehen hierzulande war immer nur, wer sich anpasst und nützlich
> ist. Das galt für die Gastarbeitergeneration wie für die Geflüchteten
> nach 2015.
Bild: Frühstückspause bei Ford 1980: Gastarbeiter unter sich in der Werkshalle
Wenn heute von „Willkommenskultur“ die Rede ist, denkt man unweigerlich an
2015 – an Merkels [1][„Wir schaffen das!“], an Applaus in überfüllten
Bahnhöfen, wo Menschen ankommende Geflüchtete mit Teddybären und selbst
gemachtem Essen empfingen. Bilder, die zu Ikonen wurden, fast wie
Werbeplakate eines neuen Deutschlands.
Doch die Willkommenskultur war selten bedingungslos. Sie zeigte stets ein
instrumentelles Verhältnis: Willkommen war fast immer, wer gebraucht wurde
– und willkommen blieb nur, wer nützlich erschien. Der Aufstieg der AfD hat
diesen Widerspruch nicht geschaffen, aber sichtbar gemacht.
Schon 1955, mitten im Wirtschaftswunder, unterschrieb die Bundesrepublik
ihr erstes Anwerbeabkommen mit Italien. Bald folgten Spanien, Griechenland
und die Türkei. Und schon damals war klar: Willkommen galt nur unter
Vorbehalt. Gebraucht in der Fabrik, benötigt am Fließband – aber eben nur
als „Gastarbeiter“. Der Name allein verriet die Haltung: Gäste sollten
irgendwann wieder gehen.
1973, in der Ölkrise, stoppte die Regierung die Anwerbung. Doch die
Realität hatte sich längst geändert. Die Gastarbeiter blieben, gründeten
Familien, schickten ihre Kinder in deutsche Schulen, bauten ein Leben auf.
Die Politik aber tat so, als sei ihre Anwesenheit nur vorübergehend. Der
türkische Musiker Cem Karaca, der 1979 ins Exil nach Deutschland kam, weil
er in seiner Heimat politisch verfolgt wurde, sang dieses Paradox 1984 in
einer ARD-Sendung: „Es wurden Arbeiter gerufen, doch es kamen Menschen.“
Und so klingt sein Satz bis heute wie ein Echo: Erinnerung daran, dass
jedes „Welcome“ mehr meint als eine Lücke im Arbeitsmarkt. Und doch dauerte
es Jahrzehnte, bis diese Realität offen anerkannt wurde. Erst 2015 sprach
Angela Merkel aus, was längst offensichtlich war: „Wir sind im Grunde
genommen schon ein Einwanderungsland.“ Eine Feststellung, schlicht,
überfällig – und doch grotesk verspätet.
Schon in den 1980er und frühen 90er Jahren zeigte sich, wohin die
Verdrängung führte. Seit 1949 garantierte das Grundgesetz: „Politisch
Verfolgte genießen Asylrecht.“ Doch als die Zahl der Schutzsuchenden stieg
– aus dem Libanon, Kurdistan, Jugoslawien – kippte die Stimmung. Die
Umbrüche nach der DDR verschärften die Lage: Arbeitslosigkeit,
Perspektivlosigkeit und ein Machtvakuum, in dem rassistische Gewalt offen
eskalieren konnte.
Im August 1992 brannte in [2][Rostock-Lichterhagen] das Sonnenblumenhaus,
ein Wohnheim für Asylbewerber:innen und vietnamesische
Vertragsarbeiter:innen. Tagelang belagerten rechte Gruppen das Gebäude,
warfen Steine, schleuderten Molotowcocktails. Auf den Balkonen schrien
Menschen um ihr Leben, während unten Hunderte Anwohner:innen Beifall
klatschten. Die Bilder gingen um die Welt – ein Land, das seine Schwächsten
nicht schützte.
Zwar regte sich im Nachgang Protest: Zehntausende gingen bundesweit gegen
rechte Gewalt auf die Straße, lokale Initiativen gründeten sich,
Nachbarschaften organisierten Solidarität. Doch Rostock war nur der
bekannteste Schauplatz einer Gewaltwelle: [3][Hoyerswerda], Mölln, Solingen
– Orte, die bis heute für Brandanschläge und Pogrome stehen, für einen
Hass, der ganze Straßenzüge elektrisierte.
Der Schock führte nicht zu mehr Schutz, sondern zu weniger Recht. Schon
1993 einigten sich CDU/CSU, SPD und FDP auf den sogenannten Asylkompromiss.
Artikel 16, bis dahin der klarste Satz der Nachkriegsverfassung –
„Politisch Verfolgte genießen Asylrecht“ –, wurde entkernt. Wer über
„sichere Drittstaaten“ kam – praktisch jede:r, der Deutschland auf dem
Landweg erreichte –, verlor sein Recht auf Asyl. Zugleich definierte man
„sichere Herkunftsstaaten“, aus denen Anträge pauschal abgelehnt wurden.
Willkommen war nun kein offenes Versprechen mehr, sondern ein
verschlossener Korridor mit wenigen Durchlässen: erlaubt war, wer
unauffällig blieb, sich anpasste – und eben wirtschaftlich nützlich war.
Damit verschob sich die Debatte: weg von der Frage, wer überhaupt einreisen
darf, hin zu der, wie die bleiben sollen, die schon hier sind. Das
Willkommen hatte wieder eine Bedingung: Du darfst bleiben – aber nur, wenn
du dich anpasst.
Zu Beginn der 2000er Jahre bekam die Debatte über Zugehörigkeit einen neuen
Namen: „Leitkultur“. Ursprünglich hatte der Politikwissenschaftler Bassam
Tibi damit ein europäisches Wertefundament gemeint – Demokratie,
Menschenrechte, Pluralismus. Doch CDU-Politiker Friedrich Merz, damals
Fraktionsvorsitzender der Union im Bundestag, machte daraus die Forderung
nach einer spezifisch „deutschen Leitkultur“, an der sich Einwanderer zu
orientieren hätten. Nach den Anschlägen vom 11. September verschärfte sich
der Ton: Integration wurde nicht mehr als wechselseitiger Prozess
verstanden, sondern als einseitige Pflicht.
Währenddessen zeigte sich, wie brüchig das deutsche Willkommensnarrativ in
Wahrheit immer noch war. Zwischen 2000 und 2007 ermordete die rechtsextreme
Terrorgruppe NSU zehn Menschen, fast alle mit Migrationshintergrund. Doch
anstatt die Opfer zu schützen und den Terror klar zu benennen,
verdächtigten die Ermittlungsbehörden jahrelang die Familien selbst.
Willkommen hieß hier nicht Anerkennung, sondern Misstrauen – selbst im
Angesicht von Mord.
Als 2015 schließlich Hunderttausende syrische Geflüchtete nach Deutschland
kamen, brach all das hervor, was lange verdrängt worden war. Auf der einen
Seite eine beeindruckende Bewegung: Die Zivilgesellschaft gründete Vereine,
schuf Netzwerke, organisierte Sprachkurse, Wohnraum, Hilfe im Alltag.
Politik und Verwaltung hinkten oft hinterher, während Bahnhöfe zu Symbolen
einer spontanen Solidarität wurden, die weltweit Aufsehen erregte. Für
einen Moment schien Willkommenskultur mehr zu sein als ein Schlagwort – sie
wurde gelebte Praxis.
Doch die Euphorie der einen konnte die Ressentiments der anderen nicht in
Luft auflösen. Die Silvesternacht 2015/16 in Köln, mit Berichten über
Übergriffe und der Formel „Ihr belästigt unsere Frauen“, wurde zum
Kristallisationspunkt der neuen rechten Verachtung gegenüber Geflüchteten
und Angela Merkels „Wir schaffen das“-Politik.
Plötzlich verschob sich die Perspektive: Aus Schutzbedürftigen wurden
Bedrohungen, aus Geflüchteten Täter. Die AfD griff die Ängste auf, forderte
Grenzschließungen und Obergrenzen und wuchs von einer kleinen
Anti-Euro-Partei zur dominanten Stimme der neuen Rechten. Der Straßenrand
mit johlenden Randalierern war zum Parlamentsplatz geworden. Willkommen
hieß jetzt: Willkommen in einer Debatte, die das Wort in sein Gegenteil
verkehrte.
## „refugees“ als Hype für Links-Liberale
Auch die Willkommenskultur blieb ambivalent. Aus der Welle der Solidarität
wurde mancherorts geradezu ein Hype, bei dem es darum zu gehen schien, sich
für das eigene Engagement für und Interesse an Geflüchteten auf die
Schulter zu klopfen. Heute kaum vorstellbar, war in links-liberalen und
sogar liberal-konservativen Kreisen alles, was mit „refugees“ zu tun hatte,
gefragt. Museen inszenierten Ausstellungen mit „syrischer Kunst“,
Literaturhäuser starteten Reihen mit „Flüchtlingsliteratur“, Klubs luden
„Refugee-Rockbands“ ein und Oriental Techno durfte bei keiner guten Party
mehr fehlen.
Was erst einmal nach einer netten Umarmung neuer Kultur klang, hatte auch
Schattenseiten. Aktivist:innen wie Mariana Karkoutly erinnern sich
daran, dass sich das Rampenlicht fast ausschließlich auf Syrer:innen
richtete, während viele andere Geflüchtete unsichtbar blieben. Künstler wie
Anas Maghrebi berichteten, dass der Applaus nicht ihrer Musik galt, sondern
ihrer Rolle als „Flüchtlingsband“.
Der syrisch-palästinensische Dichter Ramy al-Asheq beklagte, dass er nicht
einfach Literatur machen durfte, sondern Erwartungen bedienen musste:
Krieg, Flucht vor dem Assad-Regime, Trauma – genau das, was das deutsche
Publikum hören wollte. Solidarität verwandelte sich so in
Selbstinszenierung, ein Spiegel, in dem Deutschland sich selbst gefiel.
Die Willkommenskultur brachte einen „neuen deutschen Orientalismus“ hervor,
der aus Geflüchteten eine Projektionsfläche machte: romantisiert als
„authentische Stimme aus dem Krieg“ oder „bereichernde Exotik“, reduzie…
zu hilflosen Opfern, die erst durch deutsche Hilfe sichtbar und
handlungsfähig würden. Die beiden Extreme der damaligen Zeit – das
Fetischisieren von Geflüchteten durch Anhänger der Willkommenskultur und
die rassistische Abwertung durch ihre Gegner – können durchaus als zwei
Seiten einer Medaille verstanden werden. Für beide Seiten dienten
Geflüchtete als identitätsstiftende „andere“.
Als das Thema Syrien medial in den Hintergrund rückte, nahm auch langsam
der Willkommenskultur-Hype ab und mit ihm die Solidarität. Im Januar 2021
hob der damalige Innenminister Horst Seehofer den Abschiebestopp für Syrien
auf. Zur Demonstration dagegen in Berlin tauchten nicht mehr als 50
Menschen auf – etwa die Hälfte von ihnen waren Syrer:innen.
Gerade hier zeigt sich die Brüchigkeit der deutschen Willkommenskultur.
Solidarität erwies sich als Stimmung, nicht als Haltung – und verschwand,
sobald der öffentliche Blick weiterzog. Das „andere Deutschland“ der
Hilfsbereitschaft mag sichtbar bleiben, doch es ändert nichts an der
Grundlogik: Willkommen ist in Deutschland fast nie eine Haltung, sondern
ein Vorbehalt. Darin liegt die eigentliche Konstante der deutschen
Willkommenskultur: kein Versprechen, sondern ein Vertrag auf Zeit.
17 Sep 2025
## LINKS
[1] /10-Jahre-Wir-schaffen-das/!6102317
[2] /30-Jahre-Rostock-Lichtenhagen/!5873707
[3] /30-Jahre-Pogrome-in-Hoyerswerda/!5799570
## AUTOREN
Pauline Jäckels
Derya Türkmen
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