| # taz.de -- 10 Jahre 2015: Sommer der Sündenböcke | |
| > 2015 weckte bei unserer Autorin jenseits aller Hoffnung auch eine große | |
| > Sorge: dass die Migration als Scheinproblem benutzt werden könnte. | |
| Bild: Ankunft im Ungewissen: Flüchtende im September 2015 am Hauptbahnhof Mün… | |
| Berlin taz | Aus dem Autoradio auf dem Hafenparkplatz der ostfriesischen | |
| Stadt Norden tönt die Stimme des Nachrichtensprechers: In München am | |
| Hauptbahnhof kämen Stunde um Stunde Tausende Geflüchtete an und viele | |
| Münchner*innen seien gekommen, um zu helfen. Mit Wasser und Broten, mit | |
| Kleidung und Schlafplätzen. Dass eine so [1][große Welle der Solidarität | |
| Anfang September 2015] möglich war, so ein Willkommenheißen, vielleicht | |
| habe ich das Deutschland erst nicht zugetraut. | |
| Aber Hunderte Kilometer entfernt an der Nordseeküste, als ich das mit | |
| meiner Mama und Tante höre, mischt sich zwischen unsere Freude und | |
| Erleichterung über eine humanitäre Politik, nachdem den Geflüchteten | |
| bereits so viel Leid und Tod widerfahren war, ein weiteres Gefühl in unser | |
| Gespräch: Sorge. | |
| Darüber, dass diese Willkommensstimmung womöglich bald kippt und Rassismus | |
| zunehmen könnte – auch für mich und meine Familie. Weil die Angst vorm | |
| „Fremden“ vielleicht doch überwiegt, und die Taten des einen auf alle | |
| projiziert werden, mit einem achselzuckenden „so sind sie halt“. Weil | |
| Häuser, die zu Flüchtlingsheimen werden sollten, schon vor der Ankunft der | |
| vollen Züge aus Ungarn brannten. Weil schon sehr früh manche derer, die | |
| Geflüchtete aufnahmen, Drohbriefe erhielten. | |
| Die Sorge würde sich als gerechtfertigt erweisen und sie würde auch mein | |
| Verhalten im Alltag beeinflussen. Wie sehr sich die Lage aber zuspitzt, | |
| damit hätte ich damals nicht gerechnet. Zwar ist bei Deutschen – ob mit | |
| oder ohne Migrationshintergrund – das Bewusstsein für den eigenen und | |
| strukturellen Rassismus in Deutschland so hoch wie wohl nie zuvor, nachdem | |
| es durch Halle, Hanau und Black Lives Matter Raum bekam. | |
| ## Rassistisch motivierte Gewalt | |
| Statistiken weisen aber darauf hin, dass rassistisch motivierte Gewalttaten | |
| keineswegs abgenommen haben, eher das Gegenteil. Das betrifft insbesondere | |
| antimuslimischen Rassismus. Laut der Meldestelle Claim gab es 2024 über | |
| 3.000 Fälle, bei denen Muslim*innen in Deutschland diskriminiert, | |
| beleidigt und angegriffen wurden – ein Anstieg von 60 Prozent zum Vorjahr. | |
| Deutschland hat in den zehn Jahren nach dem sogenannten Sommer der | |
| Migration einen Rechtsruck erlebt, die AfD führt seit Wochen im | |
| Trendbarometer. Rechtsextreme und völkisch-rassistische Ideologien haben | |
| sich weiter normalisiert. Und Migration wird als Scheinproblem für alles | |
| Mögliche zurate gezogen. | |
| Zum Beispiel für das Versagen einer gerechten Sozialpolitik und stattdessen | |
| einer Politik der Prekarisierung. 2023 war jede:r Fünfte unter 18 von | |
| Armut bedroht oder betroffen, schreibt der [2][„Jugendarmutsmonitor“ der | |
| Bundesarbeitsgemeinschaft Katholische Jugendsozialarbeit], auf dem | |
| Wohnungsmarkt in den Städten wird es zunehmend enger und ärmere Stadtteile | |
| werden strukturell vernachlässigt. | |
| Schön anzuschauen ist das nicht. Mit Armut korrelieren Kriminalität, | |
| Suchtprobleme und etwa Vermüllung. Aber statt mit mehr Teilhabe und einer | |
| stabilisierenden Sozialpolitik, antwortet die deutsche Politik mit Härte | |
| gegen die Schwächsten: Bezahlkarten für Geflüchtete und schnelleren | |
| Sanktionen für Bürgergeldempfänger*innen. | |
| Die vertane Sozialpolitik wird nicht mal anerkannt. [3][Wenn Bundeskanzler | |
| Friedrich Merz in Stammtischmanier von Problemen im deutschen Stadtbild | |
| spricht,] das sich durch mehr Rückführungen verbessern ließe, geht es nicht | |
| um diese Prekarisierung – die Anwesenheit von Migrant*innen im | |
| öffentlichen Raum soll das Problem sein. | |
| Dabei muss ich insbesondere an meine Brüder denken, denen besonders viel | |
| Gewalt angetan wird und die immer wieder auch durch Polizei und rechte | |
| Gewalt sterben müssen. Genau diese Assoziation lässt das deutsche | |
| Regierungsoberhaupt, das eigentlich das gesamte deutsche Volk vertreten | |
| soll, zumindest zu. Und umso schlimmer: nicht wenige teilen sie. | |
| Neu sind solche Aussprüche nicht, nur ein besonders lauter Ausspruch von | |
| einer Politik, die rechte Standpunkte übernimmt und sich zunehmend gegen | |
| Asylsuchende richtet, den Familiennachzug ausgesetzt hat und zumindest den | |
| Vorschlag diskutieren möchte, Doppelstaatlern bei Straftaten den deutschen | |
| Pass zu entziehen. | |
| ## Diskriminierung ein Mal im Monat | |
| Begriffe wie Remigration, die die AfD versucht umzudeuten, wurden nicht | |
| wirklich geächtet – sie haben einen Platz im Diskurs gefunden. Die | |
| Bundesregierung hat es eben bis heute nicht geschafft, Menschen mit | |
| Migrations- und Fluchtgeschichte in Deutschland das Gefühl zu geben, dass | |
| ihre Anwesenheit wertvoll ist – nicht nur dann, wenn sie Leistung | |
| erbringen. | |
| Was macht das mit jungen Menschen, die hier aufwachsen? Die sich | |
| ausgeschlossen fühlen, deren Sprache und deren Slang nicht passen. Die | |
| beäugt werden, weil ihnen zugesagt wird, sie könnten kriminell oder | |
| gefährlich sein – dabei haben sie selbst Angst. Auch sie wollen einfach ein | |
| gutes Leben führen. | |
| Im diesjährigen Monitoringbericht des Nationalen Diskriminierungs- und | |
| Rassismusmonitors gibt jede zweite rassistisch markierte Person an, | |
| mindestens einmal im Monat Diskriminierung zu erfahren. Dazu verträten 22 | |
| Prozent in Deutschland den Glaubenssatz, ethnische und religiöse | |
| Minderheiten hätten in den letzten Jahren mehr wirtschaftlich profitiert, | |
| als ihnen zustünde. | |
| Bitter-süß schmeckt der Baldrian, der Betroffene beruhigen soll: Keine | |
| Sorge, als gute integrierte Migrant*in sei man ja nicht gemeint. Ob hier | |
| geboren und aufgewachsen oder vor wenigen Jahren als Geflüchtete*r in | |
| Deutschland angekommen, ob Deutsche Staatsbürgerin, | |
| Doppelstaatler*innen oder erst kürzlich eingebürgert, bleibt sekundär. | |
| Der Druck, sich anzupassen, ist für alle rassistisch markierten Personen in | |
| den letzten zehn Jahren gestiegen. | |
| In der Forschung zeige sich, dass in krisenhaften Zeiten populistische | |
| Narrative an Einfluss gewinnen. Eines ihrer zentralen Elemente sei die | |
| Zuschreibung vermeintlicher Verantwortlichkeiten – bestimmte Gruppen werden | |
| zum Sündenbock für gesellschaftliche Krisen erklärt. Rassismus und | |
| Antisemitismus treten dann besonders zutage. So nahmen während der | |
| Coronapandemie antiasiatischer Rassismus und antisemitische | |
| Verschwörungsmythen zu. Hinzu kamen in den vergangenen Jahren der Krieg in | |
| der Ukraine und neue geopolitische Spannungen, die grassierende Wohnungsnot | |
| in Europa sowie der menschenverachtende Krieg, den Israel und die Hamas in | |
| Gaza nun unterbrochen haben. Und auch 2015 war eine Zäsur. | |
| Das eigentlich historische und strukturelle Problem Rassismus werde heute | |
| stark an die Migrationsfrage gekoppelt, sagt Rosa Burç, Soziologin am | |
| Deutschen Zentrum für Integrations- und Migrationsforschung (DeZIM), im | |
| Nationalen Diskriminierungs- und Rassismusmonitor. Es gebe die Erzählung, | |
| das Rassismusproblem existiere in der deutschen Gesellschaft nur, weil es | |
| Migration gebe. Weil so über die Angst und das Gefühl der Bedrohung vor | |
| Neuen, die ankommen, bestehende rassistische Strukturen fortgeschrieben und | |
| ihre historischen Grundlagen unsichtbar gemacht werden. „Das entspricht | |
| auch einem sehr homogenen Verständnis einer deutschen Nation. Alles, was in | |
| diese nationale Vorstellung und Norm nicht reinpasst, wird dann auch | |
| wahrgenommen als etwas Hineingetragenes, ob durch Migration oder | |
| Fluchtbewegungen.“ Gefährlich sei dieses Homogenitätsbestreben auch für | |
| andere Gruppen, ob Menschen mit Behinderung oder queere Menschen. | |
| Das Spiel von guten und schlechten Migrant*innen sollten wir aber | |
| tunlichst vermeiden, mitzuspielen. Das beginnt schon im Kleinen. | |
| In den Folgemonaten nach September 2015 wappnete ich mich innerlich. Ich | |
| wollte solidarisch sein. Zugleich wollte ich nach außen nicht, dass Leute | |
| dachten, ich wäre geflüchtet. Schließlich bin ich in Deutschland geboren, | |
| und ich sah, wie Menschen, die nicht flüssig Deutsch sprachen, von oben | |
| herab behandelt wurden. Aus Angst, schlechter behandelt zu werden, mit | |
| neugierigen Fragen gelöchert zu werden und mit rassistischen Stereotypen | |
| beladen zu werden, versuchte ich mich abgrenzen und noch stärker ein | |
| Deutschsein nach außen zu kehren. Ich sprach Hochdeutsch mit vielen | |
| Fachwörtern, und im Finden meines eigenen Modegeschmacks war mir ein | |
| gewisser europäischer Stil wichtig. Heute empfinde ich bei dem | |
| Abgrenzungsverhalten Scham. Auch wenn ich verstehe, dass ich mich vor allem | |
| schützen wollte. | |
| 22 Oct 2025 | |
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