# taz.de -- Ankommen in Deutschland: /vɪlˈkɔmənskʊlˌtuːɐ̯/ | |
> Für manche ist sie ein leerer Begriff aus politischen Reden. Für andere | |
> viel mehr. Drei Journalistinnen mit Fluchtgeschichte über | |
> „Willkommenskultur“: | |
Bild: Alles klar? Alles klar! | |
## „Unsere Regierung“ und Kippen | |
Meine Geschichte von Willkommenskultur begann nicht mit großen Gesten, | |
sondern mit einer weggeworfenen Zigarette. Es war im Sommer 2018, als ich | |
sah, wie jemand eine brennende Kippe auf den Boden schnippte, obwohl der | |
Mülleimer kaum einen Meter entfernt stand. Ich konnte nicht anders und | |
sprach ihn an. | |
Seine Reaktion überraschte mich. Er drehte sich um und sagte: „Mensch, die | |
Deutschen meckern viel.“ Ich musste schmunzeln. In diesem kleinen, absurden | |
Moment wurde ich auf einmal zu einer von „den Deutschen“. Genau da, mit | |
dieser simplen Einordnung, entstand in mir das erste Gefühl von | |
Zugehörigkeit. | |
Ein ähnliches Erlebnis hatte ich, als jemand in einer Kneipe über [1][die | |
damalige Merkel-Regierung] sprach und sagte: „unsere Regierung.“ Ich | |
schaute mich suchend um, fragte mich, wer wohl mit „uns“ gemeint sein | |
könnte. Die Leute hinter mir? Am anderen Ende des Raumes? Er aber deutete | |
mit dem Finger auf mich. | |
Oft wird von Menschen, die nicht hier geboren sind, erwartet, dass sie als | |
„leuchtende Beispiele für gelungene Integration“ dienen – sei es für | |
Fördermittel, Statistiken oder einfach, um ein bestimmtes Bild zu erfüllen. | |
Doch für mich war Willkommenskultur in diesen Momenten keine Frage von | |
offiziellen Reden, Feiern oder großen Worten. Es ging auch nicht darum, | |
mich als Vorbild darzustellen. Für mich war ein einziges Wort, eine kleine | |
Geste genug, um mich als Teil der Gemeinschaft zu fühlen – nicht als | |
Fremde. | |
Salma Kral | |
## Eine Umarmung grenzenloser Menschlichkeit | |
Nach monatelanger, beschwerlicher Reise über Berge, Klippen und das | |
unerbittliche Mittelmeer erreichten wir am 19. Oktober 2015 schließlich | |
Deutschland. Der erste Tag war lang und anstrengend: Anmeldung und | |
ärztliche Untersuchungen im Erstaufnahmelager, überfüllte Flure und | |
endloses Warten. Mit meinem einjährigen Kind auf dem Arm suchte ich nur | |
einen ruhigen Platz zum Ausruhen, doch jeder Schritt und jede Szene | |
konfrontierte mich stärker mit der Realität des Neuanfangs. | |
Am frühen Abend betraten zwei Mitarbeiter mit Listen den Flur. Die müden | |
Gesichter der Geflüchteten hellten sich sofort auf, viele wurden in eine | |
andere Unterkunft verlegt. Unser Name war jedoch nicht dabei. Ich ging auf | |
einen Mitarbeiter zu und sagte: „Ich habe ein Kleinkind und kann hier nicht | |
länger warten.“ | |
Unerwartet wurde mein Anliegen angehört, und wir erhielten drei | |
Bescheinigungen – für mich, meinen Mann und unser Kind. Im Bus schlief ich | |
vor Erschöpfung ein. Gegen 22.30 Uhr erreichten wir die neue Unterkunft. | |
Sofort fiel mir die menschliche Aufnahme durch die Mitarbeiter auf. Sie | |
standen auf beiden Seiten des Tores, als würden sie uns schon kennen. Nach | |
warmer Begrüßung und mit weichen Decken auf unseren Schultern führten sie | |
uns in den Speisesaal, der bereits für das Abendessen vorbereitet war. | |
Der große, warme und einladende Saal vermittelte mir erstmals ein echtes | |
Sicherheitsgefühl und Geborgenheit. In diesem Moment wurde mir klar: Hier | |
wird das Leben der Menschen wertgeschätzt; wir wurden mit Herzlichkeit und | |
Respekt behandelt, obwohl wir Fremde waren. Durch diese grenzenlose | |
Fürsorge verstand ich die wahre Bedeutung von Menschlichkeit und | |
Willkommenskultur. | |
Nilab Langar | |
## Eine Zukunft jenseits der Warteräume | |
Als ich als junge Migrantin in Deutschland ankam und trug ich beides in | |
mir: Träume und Angst. Ohne Eltern oder Freunde an meiner Seite war mir | |
jede Straße fremd, und die Einsamkeit machte die Tage unerträglich lang. | |
Täglich stellte das Leben im Lager meine Geduld und Kraft auf die Probe. | |
Wir waren zu fünft bis acht in einem Raum untergebracht, jeder trug seine | |
eigenen stillen Kämpfe aus. Privatsphäre gab es kaum, das Essen war | |
eintönig, und schwer fühlte sich die Zeit an in den schier endlosen | |
Schlangen für Mahlzeiten oder Termine. Ich hielt jedoch an der Hoffnung | |
fest, dass jenseits dieser überfüllten Hallen und Warteräume eine Zukunft | |
der Stabilität und Zugehörigkeit möglich ist. | |
Als ich in ein Heim verlegt wurde, hatte ich Angst, in der kleinen Stadt, | |
in die ich geschickt wurde, abgelehnt zu werden. Zu meiner Überraschung | |
nahm mich jedoch einer Freiwilligengruppe herzlich auf. Sie schufen sichere | |
Räume, in denen ich lernte, mich kulturell austauschen und mich wieder als | |
Mensch fühlen konnte. Später, während meines härtesten Kampfes gegen die | |
drohende Abschiebung, fand ich Kraft in Gruppen etwa für die Rechte von | |
Migranten. [2][Welcome United (WCU)] bot mir durch Kirchenasyl Schutz und | |
hob mich aus meiner Angst heraus in Sicherheit. | |
Dort traf ich auf eine Gemeinschaft, die mich nicht nur beschützte, sondern | |
mir auch bewusst machte, dass meine Geschichte wichtig ist. Ich erkannte, | |
dass Deutschlands „Willkommenskultur“ mehr als nur ein Wort ist, dass sie | |
täglich in Mitgefühl und in Solidarität gelebt wird und in dem Glauben, | |
dass Neuankömmlinge Würde verdienen. | |
Ich, die aus einem Umfeld mit wenig bürgerschaftlichem Engagement stammt, | |
war zutiefst inspiriert. Von dem Moment an, als ich vor der Abschiebung | |
bewahrt wurde, versprach ich mir, etwas zurückzugeben. Solidarität hat mich | |
gerettet. Nun widme ich dieser Solidarität als aktives Mitglied der WCU | |
meine eigene Stimme und Energie. Ich bin stolz darauf, dieses Jahr Teil des | |
Teams zu sein, das die „Caravan“ organisiert, einer Aktionswoche für | |
Freizügigkeit überall in Deutschland im September. | |
Muna | |
19 Sep 2025 | |
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[2] https://www.welcome-united.org/de/ | |
## AUTOREN | |
Nilab Langar | |
Salma Kral | |
Muna | |
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