# taz.de -- Singapurs Integrationskonzept: Multikulti wird zur Norm werden | |
> Ein Blick nach Singapur zeigt, wie Integration funktionieren kann. Neben | |
> Wohnung und Arbeit spielt die interkulturelle Begegnung eine wichtige | |
> Rolle. | |
Bild: Ein volles Boot als Vorbild: In Singapur wird Gemeinschaft aktiv gelebt | |
Seien wir einfach mal realistisch und erinnern uns an Goethes | |
Zauberlehrling, der mit Schrecken erkennt: „Die ich rief, die Geister, | |
werd’ ich nun nicht los.“ Pauschal jemanden loswerden, abgesehen von den | |
Kriminellen, kann ohnehin nicht funktionieren, denn die demografische | |
Entwicklung Europas ist eindeutig und konstant negativ. Die Geburtenraten | |
sinken, die alteingesessene Bevölkerung schrumpft, die Alten werden immer | |
älter, die Babyboomer gehen in Rente, aus [1][Fachkräftemangel] wird | |
Arbeitskräftemangel. Schmutzige Jobs will ohnehin niemand mehr machen, die | |
Wirtschaft stagniert. | |
Mit der Integration seiner Migranten tut sich Europa schwerer als | |
klassische Einwanderungsländer wie die USA. Aus dem „Schmelztiegel“ ist | |
dort längst eine allgemein akzeptierte „Salatschüssel“ geworden, oft mit | |
ethnischen und sprachlichen Parallelgesellschaften. Auch wenn US-Präsident | |
Donald [2][Trump aktuell versucht, illegale Einwanderer auszuweisen], | |
zeigen gerade die amerikanischen Erfahrungen, dass eine selektive | |
Einwanderungspolitik schwer durchzuhalten ist. | |
Schon bei den riesigen Migrantenströmen des 19. Jahrhunderts waren | |
bestimmte Gruppen alles andere als willkommen. Mafiosi aus Italien, | |
Sozialisten aus Deutschland, verarmte Iren und später auch Juden waren | |
suspekt, und Chinesen waren von 1882 bis 1943 per Gesetz ganz | |
ausgeschlossen. Vor allem durch den massiven Zustrom von Asylbewerbern sind | |
inzwischen die meisten Länder Westeuropas bei einer Migrantenquote zwischen | |
15 und 20 Prozent angekommen, die Schweiz sogar bei fast 30 Prozent. | |
Allerdings haben die Eidgenossen die Einwanderung deutlich pragmatischer | |
organisiert als Deutschland. Eine Ghettobildung wurde gezielt vermieden, | |
die Asylverfahren wurden beschleunigt, die „Asylsozialhilfe“ ist knapp | |
bemessen und besteht weitgehend aus Sachleistungen. Durch eine „Vorlehre“ | |
wird die Aufnahme in den Arbeitsmarkt und in die duale Berufsausbildung | |
erleichtert, und durch eine Reihe von Migrationspartnerschaften mit den | |
Herkunftsländern wurde die Rückführung abgelehnter Asylbewerber | |
erfolgreicher – um nur die wichtigsten Elemente zu nennen. | |
## Chancengleichheit für alle Gruppen | |
Im Rest Europas hat der Stimmungsumschwung von [3][anfänglich auch großer | |
privater Hilfsbereitschaft] zu Angst vor Überfremdung und Kriminalität das | |
politische Klima deutlich nach rechts verschoben. Mittel- und langfristig | |
haben wir aber alle das gleiche Problem, nämlich wie wir den Übergang von | |
einer historisch fast homogenen zu einer multikulturellen Gesellschaft | |
organisieren können. | |
Wie sehr dabei Integration und soziale Balance eine Daueraufgabe sind, | |
zeigt das Beispiel der multiethnischen, multilinguistischen und | |
multireligiösen Gesellschaft des Stadtstaates Singapur. Als Singapur 1965 | |
unerwartet von der Malaysischen Föderation in die Unabhängigkeit gestoßen | |
wurde, stand neben dem wirtschaftlichen Überleben vor allem die Frage im | |
Raum, wie die große chinesische Mehrheit von 75 Prozent mit den malaiischen | |
und indischen Minderheiten in Frieden auskommen könnte. | |
Denn in den 1960er Jahren kam es mehrmals zu Rassenunruhen zwischen | |
Chinesen und Malaien mit Toten und Verletzten. Singapur beschloss damals | |
bewusst, eine multiethnische Gesellschaft aufzubauen, die allen Gruppen | |
gleichermaßen faire Chancen bieten sollte. Ein nationales Gelöbnis, das | |
schon in den Schulen jeden Morgen gemeinsam rezitiert wird, beginnt mit der | |
Formel „Wir, die Bürger Singapurs, geloben vereint zusammenzustehen, | |
unabhängig von Rasse, Sprache und Religion.“ | |
Die sprachliche Vielfalt wurde auf Malaiisch, Mandarin, Tamil und Englisch | |
als Verwaltungssprache reduziert, amtliche Dokumente sind viersprachig. Für | |
die chinesische Mehrheit bedeutete das einen massiven Einschnitt, weil | |
viele auch in der dritten oder vierten Generation noch chinesische Dialekte | |
sprachen und sich kaum untereinander verständigen konnten. [4][Lee Kuan | |
Yew], der erste Ministerpräsident, der so gut Englisch sprach wie seinen | |
Dialekt, ging mit gutem Beispiel voran. | |
## Gemeinschaftsbildende Maßnahmen | |
Er lernte Mandarin und Malaiisch und konnte seine Reden in allen drei | |
Sprachen halten. Insgesamt hat sich Englisch als Umgangssprache weitgehend | |
durchgesetzt, bei vielen auch mit einem „Singlish“ genannten Unterton. | |
[5][Der Inselstaat] ist in diesem Monat 60 Jahre alt geworden und feierte | |
am Unabhängigkeitstag, dem 9. August, seine wirtschaftlichen Erfolge und | |
seine multikulturelle Integration. | |
Deshalb dürfte Singapur auch für Europa Anschauungsmaterial und Anregungen | |
liefern, wie wir von den ideologischen Grabenkämpfen gegen oder für | |
Multikulti zu einer zielführenden Debatte kommen könnten. Denn ein Zurück | |
zu ethnisch-kulturell homogenen Gesellschaften wird es nicht geben. | |
Singapur war von Anfang an klar, dass der Zusammenhalt einer | |
multikulturellen Gesellschaft gefördert und immer wieder nachjustiert | |
werden muss. | |
Zu den drei Säulen gehören Gesetze und Sanktionen gegen Missbrauch sowie | |
Leitlinien für die Gleichberechtigung aller Gruppen in der Praxis. Dazu | |
kommen klar definierte Integrationsinstrumente im Verwaltungsvollzug sowie | |
die Förderung gemeinschaftsbildender zivilgesellschaftlicher Aktivitäten. | |
Im Februar hat das Parlament diese Instrumente zusammengefasst und als | |
„[6][Maintenance of Racial Harmony Bill]“ verabschiedet. Rassismus und | |
Hetze sind im Strafgesetz klar definiert und werden von den Gerichten | |
entsprechend sanktioniert. | |
Ein prominenter Fall erregte kürzlich Aufsehen, als ein chinesischer | |
Singapurer auf einer Einkaufsstraße in der Innenstadt einem gemischten | |
Pärchen vorwarf, dass die Liaison zwischen einem Inder und einer Chinesin | |
eine Schande sei. Der Mann wurde zu fünf Wochen Gefängnis und einer hohen | |
Geldstrafe verurteilt und verlor seinen Job als Dozent. Die Gesellschaft | |
wird indessen immer offener, die Zahl ethnischer Mischehen hat sich in den | |
letzten Jahrzehnten mehr als verdreifacht. | |
## Per Gesetz gegen Rassismus | |
Doch die Mehrheit der Eheschließungen bleibt innerhalb der ethnischen | |
Gruppierung. Im religiösen Bereich ist Prävention besonders wichtig, weil | |
die malaiische Minderheit ausnahmslos islamisch ist und etwa die Konflikte | |
im Nahen Osten intensiver wahrnimmt als andere Gruppen. Auch wegen der | |
Islamisierungstendenzen in der regionalen Nachbarschaft nimmt die Politik | |
dieses Thema besonders ernst. Im Kabinett wird es durch einen Minister für | |
muslimische Angelegenheiten vertreten. | |
Die Selbstradikalisierung von Jugendlichen im Internet hat mehrfach Alarm | |
und Verhaftungen ausgelöst. Aggressiven Predigern aus dem Ausland wird die | |
Einreise verweigert. Interreligiöse Kontakte werden dagegen gefördert, die | |
Geistlichen der zahlreichen in Singapur praktizierten Religionen kommen | |
regelmäßig zusammen und organisieren Begegnungsprogramme mit ihren | |
Gemeinden. Ethnische Enklaven wurden durch Quotierung vermieden. | |
Eine beim Präsidenten angesiedelte Kommission überprüft alle neuen Gesetze, | |
ob sie diskriminieren könnten oder Minderheitenrechte verletzen. Mit der | |
„[7][People’s Association]“ (PA) unterstützt die Regierung massiv die | |
sogenannte Graswurzelarbeit, die sozialen Zusammenhalt und ethnische | |
Harmonie fördert und als Bindeglied zwischen der Regierung und der | |
Bevölkerung dient. Die Aktivitäten der PA in rund 2.000 | |
Graswurzelorganisationen und über 100 Community Clubs erreichen einen | |
großen Teil der Bevölkerung dort, wo es am bequemsten ist: in der Nähe | |
ihrer Wohnung. | |
Damit bieten sie den Parlamentariern, die ohnehin durch wöchentliche | |
Bürgersprechstunden nah am Puls ihrer Wähler sind, einen Austausch in beide | |
Richtungen. Völlig „farbenblind“ ist die Singapurer Bevölkerung trotzdem | |
nicht. Teilweise stammen die Vorurteile noch aus der Kolonialzeit, als die | |
Briten chinesische und indische Arbeiter ins Land holten, weil sie die | |
Malaien für schwere körperliche Arbeit in den Plantagen und Zinnminen | |
Malaysias für ungeeignet hielten. | |
## Berührungsängste abbauen | |
Es gibt auch immer wieder neue Vorurteile, die hinter vorgehaltener Hand | |
kommuniziert werden. Nur wehe, wenn solche Bemerkungen an die | |
Öffentlichkeit geraten, dann schreiten Polizei und Justiz ein. Aus | |
historischen und administrativen Gründen hält Singapur an der | |
Klassifizierung seiner Bürger als chinesisch, malaiisch, indisch und andere | |
(Eurasier und Europäer) fest. So steht es auch im Personalausweis. | |
Das klingt rassistischer als es ist, denn gerade auf den verschiedenen | |
Interaktionsebenen der Gruppen wird deutlich, dass religiöse und kulturelle | |
Werte und Gewohnheiten weit schwerer wiegen als die ethnische Abstammung. | |
In immer komplexeren Gesellschaften geht es um die Begegnung von Mensch zu | |
Mensch, möglichst ohne Berührungsangst. Durch die Ghettobildung, die | |
Überforderung der Gemeinden und die daraus erwachsenen Vorurteile auf | |
beiden Seiten hapert es leider gerade damit in Europa. | |
Singapur zeigt, wie ein umfassendes Integrationskonzept geholfen hat, die | |
notwendigen Maßnahmen zu planen und umzusetzen. Es zeigt auch, dass Wohnung | |
und Arbeit allein für eine wirkliche Integration nicht ausreichen, sondern | |
dass Kultur und Religion einbezogen werden müssen. Andere Parameter passen | |
schwer in den Vergleich, etwa die heute extrem selektive | |
Einwanderungspolitik Singapurs. Für Deutschland und Europa gibt es aber | |
keine Alternative. | |
Multikulti wird bleiben und zur Norm werden. Der Übergang erfordert ein | |
politisches Konzept und einen umfassenden Kraftakt, der nicht durch | |
parteipolitische Grabenkämpfe sabotiert werden darf. Wir müssen aber auch | |
darauf vorbereitet sein, dass es Jahrzehnte dauern wird. Die Problematik | |
ist für Deutschland existenziell, steht allerdings nicht hoch genug auf der | |
politischen Prioritätenliste der amtierenden Bundesregierung. | |
2 Oct 2025 | |
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[6] https://sso.agc.gov.sg/Act/MRHA2025/Uncommenced/20250820172036?DocDate=2025… | |
[7] https://www.pa.gov.sg/ | |
## AUTOREN | |
Wolfgang Sachsenröder | |
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