# taz.de -- Film über Brandanschlag in Mölln: Den Opfern eine Plattform bieten | |
> Der Dokumentarfilm „Die Möllner Briefe“ erzählt leise von | |
> rechtsextremistischer Gewalt. Und von Behörden, deren Verhalten | |
> rätselhaft erscheint. | |
Bild: Aufbewahrt und noch einmal gelesen: die Briefe zum Brandanschlag in Mölln | |
Das schleswig-holsteinische Mölln gehört, wie Hoyerswerda, Solingen, die | |
verschiedenen NSU-Tatorte, München, Halle oder Hanau zur immer | |
weiterwachsenden Landkarte mit Epizentren rassistischer oder | |
antisemitischer Gewalttaten. Am 23. November 1992 warfen zwei | |
Rechtsextremisten in Mölln Molotowcocktails auf zwei von türkischen | |
Familien bewohnte Häuser. | |
Die Bewohner:innen in der Ratzeburger Straße 13 konnten sich alle vor | |
den Flammen retten, im Wohnhaus der Familie Arslan in der Mühlenstraße 9 | |
kam drei Menschen um, neun weitere überlebten teils schwer verletzt. | |
İbrahim Arslan, Hauptprotagonist von [1][Martina Priessners auf der | |
Berlinale uraufgeführtem Dokumentarfilm „Die Möllner Briefe“], war als | |
Siebenjähriger in dem Haus in der Mühlenstraße und hat dort Unvorstellbares | |
erlebt. Er habe, erzählt er recht zu Beginn des Films, den Brandanschlag | |
auf das Wohnhaus überlebt, weil seine Großmutter Bahide ihn in nasse | |
Bettlaken gehüllt unter dem Küchentisch in Sicherheit gebracht habe. | |
Seine Oma kam bei dem Versuch, weitere zu retten, um. Auch seine | |
zehnjährige Schwester Yeliz und seine vierzehnjährige Cousine Ayşe Yılmaz | |
kamen ums Leben. | |
## Die Familie lange begleitet | |
Wenn er heute etwas Verbranntes rieche, erzählt İbrahim mit wachen Augen, | |
komme alles wieder hoch. Dass es nie weg war, nie weg sein wird, das zeigt | |
Priessners Film mit leiser Wucht. Über Jahre hinweg hat die Regisseurin den | |
Mann und seine Familie beim Kampf um die den Opferfamilien vorenthaltene | |
Solidarität begleitet. | |
Unvorstellbar, aber wahr: Hunderte Menschen schrieben den Familien in der | |
Mühlenstraße und auch der Ratzeburger Straße nach den Anschlägen, doch die | |
Briefe kamen nie bei den Betroffenen an. Entdeckt wurden sie erst 2019 | |
durch Zufall von der Studentin Nora Zirkelbach während einer Recherche zu | |
den Mordanschlägen im Möllner Stadtarchiv. | |
Sie informierte İbrahim, der die Briefe abholte und einen unvorstellbaren | |
Schatz in den Händen hielt: Solidaritätsbekundungen von Privatpersonen, | |
Kindern oder Vereinen, die in Auszügen im Film zu sehen sind. „Eine | |
beschämte, eine zornige, eine unter tausend Deutschen“ ist ein Brief | |
unterschrieben. „Es gibt auch andere Deutsche, und wir sind die Mehrheit, | |
und wir werden nicht schweigen“, heißt es in einem anderen. | |
Warum kamen die Briefe nie an? An dieser Frage und der Aufarbeitung der | |
Ereignisse hangelt sich „Die Möllner Briefe“ entlang und entwirft dabei das | |
Porträt von Menschen im andauernden Ausnahmezustand. Für İbrahim ist seine | |
akribische Aufklärungsarbeit auch eine selbsttherapeutische Maßnahme. | |
## Kampf um Aufklärung | |
Er erzählt in Schulen seine Geschichte, trifft im Film Urheber:innen | |
der Briefe, die diese teils als Kinder verfasst hatten. Er organisiert | |
jährlich eine eigene Gedenkveranstaltung, weil jene der Stadt Mölln, wie er | |
erzählt, die Betroffenen nur als „Statisten“ einlade. Und er trifft sich | |
mehrfach mit dem Stadtarchivar, der Anfang der 1990er bereits im Dienst war | |
und die Briefe gesammelt hat, und mit dem Bürgermeister, von dem er sich | |
Solidarität auf Augenhöhe wünscht, in nicht wenigen Filmszenen allerdings | |
leere Versprechen und politische Floskeln zu hören bekommt. | |
Ganz anders ergeht es İbrahims Bruder Namık, in dessen Körper sich der | |
Schrecken aus der Vergangenheit buchstäblich hineingefressen hat. Er leide | |
seit jeher an Stress und Angstzuständen und habe sich, wie er erzählt, | |
„hinter dem Essen versteckt“. Weil Namık sich den Magen verkleinern lässt, | |
verändert er sich im Laufe des Films radikal – ein Spiegel seiner | |
Auseinandersetzung mit dem Trauma, das sich durch ein Tattoo mit einem | |
brennenden Haus auch auf seinen Körper schreibt. | |
Martina Priessners Film erzählt konzentriert vom Kampf für Aufklärung und | |
von strukturellem Rassismus. Wäre İbrahim Arslan nicht drangeblieben, | |
würden die Briefe wohl immer noch ungesehen im Stadtarchiv verstauben – | |
dass einige von ihnen, wie den Schreiber:innen damals mitgeteilt wurde, | |
den Familien übergeben wurden, scheint schlicht gelogen. Mittlerweile | |
wurden die Briefe an das DOMiD in Köln, das Dokumentationszentrum und | |
Museum über Migration in Deutschland, übergeben. | |
## Ein leiser Film | |
Priessner zeigt sich solidarisch mit den Familien, mehr noch: Sie bieten | |
ihnen eine Plattform für ihre Geschichte. In dieser einseitigen | |
Perspektivierung spiegelt sich eine gegenwärtig öfter anzutreffende | |
dokumentarfilmische Haltung wider, auch [2][„No Other Land“] über die | |
israelische Siedlungspolitik im Westjordanland oder [3][„Das Deutsche | |
Volk“], der den Hinterbliebenen des Anschlags von Hanau eine Stimme gibt, | |
solidarisieren sich vorbehaltlos und suchen keine Objektivität. | |
Dass dabei die Grenze zwischen Aktivismus und Dokumentation schmaler wird, | |
liegt in der Natur der Sache. Von Ersterem ist die „Die Möllner Briefe“ | |
allerdings weit entfernt. Es ist ein leiser Film, der aus dem Damals direkt | |
in unsere immer weiter ins Rechtsnationale kippende Gegenwart sticht. Wie | |
sagt einmal jemand: „Erinnern heißt handeln.“ | |
28 Sep 2025 | |
## LINKS | |
[1] /Film-zu-Moelln-Anschlag-auf-der-Berlinale/!6066604 | |
[2] /Dokumentarfilm-No-Other-Land/!6055395 | |
[3] /Dokumentarfilm-zum-Anschlag-von-Hanau/!6108024 | |
## AUTOREN | |
Jens Balkenborg | |
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