| # taz.de -- Regisseurin über Debütfilm zu Missbrauch: „Die Geschichte ist s… | |
| > In ihrem Spielfilmdebüt „Karla“ erzählt die Regisseurin Christina | |
| > Tournatzes von einem wahren Kindesmissbrauchsfall und der Würde der | |
| > Figuren. | |
| Bild: Ein unwahrscheinlicher Fall: Karla (Elise Krieps) | |
| taz: Frau Tournatzẽ s, Ihr Film „Karla“ erzählt die Geschichte der | |
| 12-jährigen Karla Ebel, die 1962 ihren Vater wegen sexuellen Missbrauchs | |
| anzeigt. Der Fall beruht auf einem wahren Gerichtsfall. Wie sind Sie auf | |
| die Geschichte aufmerksam geworden? | |
| Christina Tournatzẽs: Ich habe vor ungefähr fünf Jahren eine E-Mail von der | |
| Autorin Yvonne Görlach erhalten. Sie hat mich gefragt, ob ich nicht | |
| Interesse hätte, ihr Drehbuch, das auf dem Leben einer ihr nahestehenden | |
| Person basiert, als meinen Debütfilm zu inszenieren. Ich habe es gelesen | |
| und sofort zugesagt, weil die Geschichte gleichzeitig so unwahrscheinlich | |
| wie stark ist. | |
| taz: Was ist an dem Fall so unwahrscheinlich? | |
| Tournatzẽs: Dass ein Kind, das von sexueller Gewalt betroffen ist, gegen | |
| alle Widerstände ganz alleine vor Gericht geht und am Ende tatsächlich | |
| recht bekommt, ist statistisch gesehen einfach unwahrscheinlich. Karla hat | |
| es geschafft, diesen Weg zu gehen, in der Hoffnung, dass man ihr glaubt. | |
| taz: Konnten Sie für die Vorbereitung mit Karla, die im echten Leben anders | |
| heißt, sprechen? | |
| Tournatzẽs: Für die Vorbereitung nicht, aber ich habe sie im Nachhinein | |
| kennengelernt. Sie möchte jedoch nicht an die Öffentlichkeit. Sie findet es | |
| wichtig, dass es diesen Film gibt, weil er anderen Menschen Mut und | |
| Hoffnung geben kann. Mit ihrer Vergangenheit hat sie aber abgeschlossen. | |
| Das respektiere ich. | |
| taz: Für den Film haben Yvonne Görlach und Sie das Drehbuch noch mal | |
| umgeschrieben. Inwiefern? | |
| Tournatzẽs: Yvonne Görlach hatte ein sehr komplexes Drehbuch geschrieben, | |
| das mit den Budgets für Debütfilme einfach nicht finanzierbar gewesen wäre. | |
| Deswegen haben wir uns für die Erzählung als Kammerspiel entschieden und | |
| uns auf die Essenz der Geschichte konzentriert. In der Ursprungsfassung gab | |
| es noch sehr viele Rückblenden, in denen es um die Familienzusammenhänge | |
| ging. | |
| taz: Karla wird nie als Opfer gezeigt, es gibt keine expliziten Bilder der | |
| Taten. Die wenigen Rückblenden sind nur assoziative Andeutungen und vage | |
| Erinnerungsfetzen. | |
| Tournatzẽs: Durch die Befragungen wird Karla ganz unvermittelt in ihr | |
| Trauma hineingeworfen, das sie noch mal in Rückblenden durchlebt. Aber ich | |
| wollte nichts zeigen, was in meinen Augen unzeigbar ist. Dazu gehört, | |
| sexuelle Gewalt in Zusammenhang mit Karlas Körper darzustellen. Es ist | |
| selbst für eine erwachsene Person grenzwertig, einen sexuellen Übergriff zu | |
| spielen. Ich wollte Karla nie in für sie schamvollen Momenten darstellen | |
| oder sie auf irgendeine Art und Weise durch die Bildsprache entwürdigen. | |
| Deshalb haben wir eine sensible und würdevolle Kamerasprache entwickelt, | |
| die aus der Perspektive von Karla erzählt und bewusst Lücken lässt. | |
| taz: Der Film spielt in einer Zeit, in der Kinder kaum Gehör fanden. Karlas | |
| Vorwürfe gegenüber ihrem Vater werden als grober Erziehungsstil | |
| bagatellisiert. Wie sind Sie vorgegangen, um diese Sprachlosigkeit filmisch | |
| umzusetzen? | |
| Tournatzẽs: Da die Geschichte ganz aus ihrer Perspektive gezeigt wird, | |
| heißt das auch, dass Momente der Sprachlosigkeit und des Schweigens | |
| ausgehalten werden müssen. Wenn Karla etwa nicht weiß, was sie sagen soll. | |
| Es war nicht leicht, diese Intensität zu halten, aber das Publikum soll im | |
| wahrsten Sinne des Wortes mit Karla durch diese Situationen gehen, in denen | |
| sie sich gegen ihre Familie und für die eigene Unversehrtheit entscheidet. | |
| Sie ist eine sehr starke Figur. | |
| taz: Sie verzichten komplett auf Filmmusik. Dennoch nimmt Musik eine nicht | |
| unwichtige Rolle ein. Einmal spielt Karla im Mädchenheim heimlich Gitarre, | |
| ein kurzer Moment der Freude. Ein andermal wird eine Schallplatte | |
| aufgelegt. Und im Laufe des Films erhält Karla eine Stimmgabel, die sie | |
| anschlägt, wenn es um die Taten ihres Vaters geht, über die sie nicht | |
| sprechen kann und will. | |
| Tournatzẽs: Die Geschichte ist schon emotional genug. Ich wollte sie nicht | |
| überladen. Hätte ich noch zusätzliche Musik verwendet, würde der Ton der | |
| Stimmgabel nicht diese Wirkung erzielen. Er ist wie ein Befreiungsschlag. | |
| Karla ist diejenige, die entscheidet, wann sie diese Stimmgabel schlägt. Es | |
| war mir sehr wichtig, dass sie diese Entscheidung selbstbestimmt trifft. | |
| taz: Elise Krieps, die Tochter der [1][Schauspielerin Vicky Krieps], stand | |
| zum ersten Mal für einen Langfilm vor der Kamera. Sie spielt Karla sehr | |
| still, zurückhaltend, aber kraftvoll. Wie haben Sie Elise auf den Dreh | |
| vorbereitet? | |
| Tournatzẽs: Als ich mich zur Vorbereitung mit Elise und ihren Eltern | |
| getroffen habe, sind wir schnell zu dem Schluss gekommen, dass sie das | |
| Drehbuch erst mal nicht lesen wird. Ich habe ihr aber erzählt, worum es | |
| geht und warum Karla von ihrer Familie wegläuft. Wir haben chronologisch | |
| gedreht und Elise konnte sich Drehtag für Drehtag auf die jeweiligen Szenen | |
| vorbereiten und so die Entwicklung ihrer Filmfigur Schritt für Schritt | |
| nachvollziehen. Dadurch war ihr Spiel sehr spontan, frei und authentisch. | |
| Sie musste sich der Wucht des Themas nicht auf einmal aussetzen. Irgendwann | |
| hat Elise aus Neugier doch das restliche Drehbuch gelesen. Das war auch | |
| völlig in Ordnung. Mir war es wichtig, ihr einerseits einen geschützten | |
| Raum und andererseits das Gefühl von Selbstbestimmung zu geben. | |
| taz: An Karlas Seite steht Richter Lamy, gespielt von Rainer Bock. Er | |
| bereitet mit ihr den Gerichtsprozess vor. Aber er zögert zunächst und | |
| fürchtet um sein Ansehen, da er den Fall für aussichtslos hält. | |
| Tournatzẽs: Die Begegnung mit Richter Lamy ist schicksalhaft für Karla. In | |
| ihm findet sie jemanden, der ihr glaubt. Wenn man eine Person gefunden hat, | |
| die einem glaubt, kann man versuchen, seine Würde wiederzuerlangen. Wenn | |
| dir keiner glaubt, ist das fast unmöglich. Rainer Bock war sehr früh in den | |
| Schreibprozess involviert. Er war die erste Person, die das Projekt von | |
| Anfang an mit all seiner Kraft unterstützt hat. Er hat immer wieder sein | |
| Feedback gegeben und war maßgeblich an der Figurenentwicklung beteiligt. | |
| taz: In der zweiten Hälfte des Films kommt es zum Gerichtsprozess, in dem | |
| Karla nochmals ihrem Vater gegenübersteht und gegen ihn aussagen muss. Wie | |
| sehr mussten Sie sich in den Gerichtsfall hineinarbeiten? | |
| Tournatzẽs: Wir hatten die Akten zu dem Fall. Das war unser großes Glück. | |
| Viele Sätze aus dem Film sind Originalzitate aus den Protokollen der | |
| Gerichtsverhandlungen. Tatsächlich waren es aber zwei Fälle. Die echte | |
| Karla hat es zweimal versucht. Beim ersten Mal hat sie verloren. Dann ist | |
| sie erneut von zu Hause fortgelaufen, hat es nochmal probiert und | |
| schließlich gewonnen. Aus dramaturgischen Gründen haben wir beide Fälle zu | |
| einer Handlung verwoben. | |
| taz: Anfang Juni erschien eine neue [2][Studie zur sexuellen Gewalt im | |
| Kinder- und Jugendalter], die sich mit den Angaben am Ende Ihres Films | |
| deckt. Demnach haben 12,7 Prozent der 18- bis 59-Jährigen in Deutschland | |
| solche Taten erlebt. Jede fünfte Frau war Opfer von Missbrauch in der | |
| Kindheit oder Jugend. 95 Prozent der Täter sind Männer. Man bekommt den | |
| Eindruck, es hat sich seitdem kaum etwas zum Besseren gewendet. | |
| Tournatzẽs: Das Strafmaß ist zum Glück viel höher als früher. Kinder werd… | |
| auch nicht mehr mit den Tätern konfrontiert. Sie werden in einem separaten | |
| Raum befragt. Aber grundsätzlich hat sich beim Thema nichts geändert. Diese | |
| Zahlen sind erschreckend. Es ist ein gesellschaftliches Problem unfassbaren | |
| Ausmaßes. Wir müssen darüber sprechen und hinschauen. Auch wenn es | |
| unangenehm ist und wehtut. | |
| 2 Oct 2025 | |
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| ## AUTOREN | |
| Tobias Obermeier | |
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| Christian Petzold | |
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