# taz.de -- Kinder- und Jugendbücher zum Verschenken: Starke Bilder aus Birnen… | |
> Die Neuerscheinungen dreier Autorinnen erzählen von der Kindheit in der | |
> chinesischen Provinz, von ungleichen Freundinnen und unbequemen Fragen. | |
Bild: Holzdruck von LI Xiaoguang aus WEI Jies Erzählung „Damals, im Sommer�… | |
Gehen wir noch einmal zum Fluss … Steigen wir noch einmal auf den | |
Kirschenberg … Spielen wir noch einmal das Prinzessinnenspiel“. In dem | |
chinesischen Bilderbuch „Damals, im Sommer“ nehmen drei Geschwister | |
wehmütig Abschied von ihrem Leben auf dem Land, von Onkel Liu, den Tieren | |
im Wald und den Freundinnen aus der Nachbarschaft. Ein letztes Mal | |
schlendern die Kinder über die vertrauten Pfade. Im Haus ist schon alles | |
verpackt, die Zimmer sind leer geräumt und wirken fremd. Sehr bald wird die | |
Familie umziehen. Der Vater hat in der Stadt Arbeit gefunden. | |
Der Schweizer Verlag Baobab Books hat die ausdrucksstarke Bildgeschichte in | |
deutscher Übersetzung herausgegeben. Er publiziert bereits seit dreißig | |
Jahren Kinder- und Jugendbücher aus aller Welt, inhaltlich differenziert, | |
den Dialog mit anderen Kulturen befördernd. | |
In „Damals, im Sommer“ erinnert Autorin WEI Jie, die heute in Shanghai | |
lebt, an die eigene, prägende Kindheit zwischen Bergen und Bächen in einem | |
weit entfernten kleinen Dorf in der Provinz Shaanxi. Für die Darstellung | |
dieser verschwundenen, ländlichen Welt hat Illustrator LI Xiaoguang auf | |
eine traditionelle chinesische Drucktechnik zurückgegriffen und zu WEI Jies | |
Erzählung achtzehn Bildtafeln aus Birnenholz geschnitzt. Eine große | |
Herausforderung, die Herstellung fordert viel Geduld, der Holzdruck | |
verzeiht keine Fehler. Das Ergebnis ist überwältigend, detailreich und | |
präzise. | |
Jeweils über die Breite einer Doppelseite entwickelt LI Xiaoguang | |
abwechslungsreiche Szenen. Sie zeigen Kinder beim Baden am Fluss, auf dem | |
Markt oder umgeben von einer Vielfalt von Pflanzen. „Gehen wir noch einmal | |
die Familie oben auf dem Berg besuchen. Dort gibt es die schönen | |
Dampfbrötchen. Wenn man den Dampfkorb öffnet, kommen farbige Hasen, | |
Wasserbüffel, Vögel oder Fische zum Vorschein.“ | |
Einfühlsam schildert die Autorin in knappen Sätzen die letzten Tage in dem | |
idyllischen Dorf – aus der Perspektive der Schwester zwischen | |
Ausgelassenheit und banger Erwartung. Lebendig illustrieren die von LI | |
Xiaoguang monochrom schwarz gestalteten Panoramaseiten WEI Jies Erzählung | |
und erweitern diese kunstvoll um eine weitere narrative Dimension. | |
## Guerilla Crochet | |
Bunt umhäkelte Laternenmasten, Geländer oder Baumstämme. Zuweilen begegnen | |
einem diese aus Wolle gearbeiteten Interventionen im Stadtbild. Wer hat | |
sich bloß so viel Mühe gemacht? In „Luftmaschentage“, dem jüngsten Roman | |
von Anne Becker, ist es Matea, die in nächtlichen Guerilla-Aktionen Bäume | |
farbenfroh umhäkelt. Eigentlich ist das dreizehnjährige Mädchen nicht für | |
ihren Mut bekannt. Nur zu Hause mit der Familie oder einzelnen Vertrauten | |
wie der alten Frau Lose spricht sie. Da kann sie aber sehr schlagfertig | |
sein. | |
In der Öffentlichkeit bleibt Matea stumm, möglichst unsichtbar. In der | |
Klasse ist sie so eine Außenseiterin. Nur Riccarda, die neue Mitschülerin, | |
findet Mats auf Anhieb interessant. Mit ihrer großen Klappe, roten | |
Haarsträhnen und einem Glitzerstein auf dem Schneidezahn ist [1][die im | |
Stadtpark herumstreunende „Ricci“ das genaue Gegenteil] der behüteten | |
Pfarrerstochter. | |
Schon in „Die beste Bahn meines Lebens“, ihrem Debüt 2019, lässt die | |
Autorin und Sonderpädagogin den dreizehnjährigen Jan mit dem Handicap einer | |
schweren Lese-Rechtschreib-Störung ringen. Erst durch die Freundschaft mit | |
der eigenwilligen Floh lernt der hervorragende Schwimmer seine Schwächen zu | |
akzeptieren. Und seinen Stärken zu vertrauen. | |
In „Luftmaschentage“, Beckers jüngstem Roman, ahnt die schüchterne | |
Erzählerin Matea bald, wie dringend die so selbstbewusste neue Freundin | |
selber Hilfe benötigt, obwohl sie die prekäre Lebenssituation zu | |
verheimlichen sucht. Mats, die von ihrer eigenen inneren Krake ausgebremst | |
wird – oder von „Fräulein Schüchtern“, wie es die alte Frau Lose | |
formuliert, gelingt in dieser Situation ein vorsichtiger Rollenwechsel. | |
Anne Becker findet für die Gefühle und Ereignisse, die ihre | |
Protagonistinnen ereilen, [2][eine altersgerechte Sprache und glaubwürdige | |
Setzungen]. Zusätzliche Fahrt nimmt Mats und Riccis Geschichte dann nachts | |
auf dem Schulhof auf. Während einer spektakulären Häkel-Aktion bekommen die | |
beiden Outsiderinnen überraschend Unterstützung von ihren Mitschülern | |
Yasser und Leon. | |
## “King Kong“ | |
Auch in „Weiße Tränen“, dem temporeichen [3][Roman von Kathrin Schrocke], | |
wird Schule zum zentralen Schauplatz einer spannungsreichen | |
Auseinandersetzung. Auf dem „Kant“, dem Gymnasium einer Kleinstadt im | |
Schwarzwald, geht es recht entspannt zu. Rektor Regenmacher ist stolz auf | |
die Anerkennung als „Schule ohne Rassismus“. Gerne sendet er über den | |
Instagram-Account @KantSchuleFürVielfalt Grußbotschaften an die | |
Schülerschaft. | |
Seit kurzem gibt es dort eine queere Cheerleadergruppe und Herr Prasch | |
leitet seit Jahren erfolgreich die Theater-AG. Bevor sich der beliebte | |
Lehrer in den Ruhestand verabschiedet, will er in einer letzten großen | |
Inszenierung das Musical „King Kong“ mit der Gruppe auf die Bühne bringen. | |
Doch dabei wird es überraschend ungemütlich. | |
Als Prasch für die Hauptrolle Alex, den bekifften Sohn des Bürgermeisters, | |
auswählt und Serkan, der talentierteste Sänger der AG, stattdessen den | |
stummen Gorilla spielen soll, wirken einige Schüler überrascht von dieser | |
Entscheidung. Doch nur Benjamin platzt der Kragen: „Sie geben dem einzigen | |
Schüler, der nicht weiß ist, ernsthaft die Rolle des Affen?“ Seit Kurzem | |
geht er als neuer Mitschüler mit Lenni und seinem besten Freund Serkan in | |
die Klasse. Benjamin kommt aus Leipzig und er ist schwarz. | |
„Wir hockten wie vom Blitz getroffen da. Es war absolut unüblich, dass | |
jemand Praschs Entscheidungen in Frage stellte. Und noch nie war jemand in | |
der Theater-AG derart ausgeflippt.“ Wirkungsvoll entwickelt Kathrin | |
Schrocke ihre sorgfältig dargestellte Geschichte über Alltagsrassismus aus | |
Lennis Perspektive. Der mittelmäßige Schüler, dessen junge Eltern das | |
Bestattungsunternehmen am Ort führen, kommt eigentlich mit allen gut klar. | |
Auch mit Lehrer Prasch, der ihn mit seiner lockeren Art oft wieder für die | |
Schule motivieren konnte. | |
Wie auch Luisa, Alex oder Marcel aus der Theater-AG findet Lenni Benjamins | |
Vorwürfe zunächst übertrieben. Zu abwegig und unbequem erscheint ihm die | |
Vorstellung, sogar sein eigenes Verhalten könnte diskriminierend sein. Doch | |
spätestens als sich der Teenager in Serkans Schwester Elif verliebt und er | |
an ihrer Seite etwas anders erlebt, dämmert es ihm, wovon Benjamin spricht. | |
8 Dec 2023 | |
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## AUTOREN | |
Eva-Christina Meier | |
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