# taz.de -- Berliner Schriftsteller Klaus Kordon: „Talent ist Interesse“ | |
> Ein Pionier des modernen Kinder- und Jugendbuchs wird 80. Klaus Kordon | |
> über Literatur, die Eckkneipe seiner Mutter und Verhöre im | |
> Stasi-Gefängnis. | |
Bild: Autor Klaus Kordon in seiner Wohnung in Berlin | |
taz: Herr Kordon, zu Ihrem 70. Geburtstag sagten Sie: „Jetzt ist Schluss | |
mit Historie.“ Damals beendeten Sie gerade Ihren Roman „Joss oder der Preis | |
der Freiheit“. Er handelt von einem 16-jährigen Bauernsohn zur Zeit der | |
Leipziger Völkerschlacht. Doch 2021 veröffentlichten Sie das Jugendbuch | |
„Und alles neu macht der Mai“ über die letzten Tage des Zweiten Weltkriegs. | |
Wirklich Schluss war dann also doch nicht? | |
Klaus Kordon: Na ja, manchmal sagt man, jetzt ist Schluss. Aber dann habe | |
ich an die Familie meiner Frau gedacht und was sie erlebt hat. Die mussten | |
damals als Flüchtlinge weg. Man hat ja manchmal von der Stunde null | |
gesprochen, aber es gab keine Stunde null. Das waren dieselben Menschen, | |
die haben zum Teil mitgemacht oder waren Mitläufer oder haben sich geduckt. | |
Und wie war das gerade für junge Leute, die plötzlich feststellen müssen, | |
wie alles Lüge, alles falsch war, und furchtbare Verbrechen geschehen sind? | |
Da hab ich mich doch noch mal hingesetzt und wirklich den letzten Roman | |
über die deutsche Geschichte geschrieben. | |
Ein Jahr später, im Februar 2022, beginnt in Europa der Krieg gegen die | |
Ukraine, der Ihren Romanen eine überraschende Aktualität beschert. [1][In | |
Büchern wie „Und alles neu macht der Mai“] erzählen Sie von den Menschen, | |
die Kriege und krisenhafte Momente in der Geschichte erlebt haben. Was | |
fasziniert Sie als Schriftsteller an dieser Thematik? | |
Ich glaube, es hat damit zu tun, dass ich es einfach kapieren will. Mein | |
Großvater ist im Ersten Weltkrieg gefallen und mein Vater ist im Zweiten | |
Weltkrieg gefallen. Ich bin 1943 geboren. Als der Krieg vorbei war, war ich | |
anderthalb Jahre alt. Berlin war eine Ruinenwüste. Und immer, wenn | |
irgendetwas geschah oder erzählt wurde, dann hatte das mit dem Krieg zu | |
tun. Mit Großvater und Vater in einer heilen Stadt Berlin, da hätte ich | |
eine andere Kindheit gehabt. Ich wollte immer wissen, was da passiert ist. | |
Brecht hat mal gesagt, Talent ist Interesse. Das kann man bei mir wirklich | |
sagen, mein Interesse an dieser Zeit ist einfach da. Und wahrscheinlich | |
habe ich deshalb auch das Talent, mich in diese Zeit hineinzubegeben. | |
Wie haben Sie sich den historischen Stoffen angenähert? | |
Heutzutage könnte ich natürlich anders recherchieren. Aber ich wusste, da | |
gibt’s jede Menge Historiker, die darüber geschrieben haben, aus den | |
verschiedensten politischen Richtungen. Das ist wichtig, dass man nicht nur | |
in eine Richtung schaut. Doch 1980 gab es auch eine Menge Leute, die noch | |
erzählen konnten. Für „Die roten Matrosen oder Ein vergessener Winter“, d… | |
erste Buch dieser Trilogie der Wendepunkte, habe ich Menschen getroffen, | |
die den Ersten Weltkrieg und die Revolution bewusst erlebt hatten – die zum | |
Teil dafür waren, zum Teil dagegen. | |
Sie sind in Berlin-Prenzlauer Berg aufgewachsen, in der Raumerstraße Ecke | |
Prenzlauer Allee. Ihre Mutter hatte dort eine Kneipe. Wie war das für Sie? | |
Ja, die Kneipe war meine erste Universität. Man muss sich vorstellen, die | |
Kneipen in der Nachkriegszeit waren voll. Es war nicht viel Geld da, aber | |
die Menschen haben immer getrunken. Viele Frauen waren durch den Krieg | |
allein geblieben. Die wollten auch nicht zu Hause rumsitzen. Fernsehen | |
gab’s noch nicht. Es war fast immer gerammelt voll. Da mein Vater im Krieg | |
gefallen war, hat meine Mutter die Kneipe allein betrieben, mit drei | |
Söhnen. Ich war der jüngste. Manchmal hab ich Bier gezapft und dann beim | |
Stammtisch gesessen. Da waren die unterschiedlichsten Leute. Bei uns im | |
selben Haus, auf der anderen Seite des Hauseingangs, war eine | |
Schneiderwerkstatt. Der Schneider war ein Jude, der sich drei Jahre im | |
Keller versteckt hatte. Der hat auch am Stammtisch gesessen. Der brauchte | |
gar nicht die Schuhe anzuziehen, wenn er zu uns kommen wollte. Und der | |
Schuhladenbesitzer. Da wussten alle, das war ein SA-Mann gewesen. Die | |
beiden haben am selben Tisch gesessen. Der eine hat sein Leid verdrängt und | |
der andere sein schlechtes Gewissen, wenn er eins hatte. | |
In der Erstausgabe von „Die roten Matrosen“ fiel mir auf, dass Ihr Leben in | |
der DDR in den Autorenangaben gar nicht erwähnt wird. Warum? | |
Als ich 1973 im Westen ankam, wusste ich, jetzt wirst du versuchen zu | |
schreiben. Da habe ich gedacht, wenn du jetzt sagst, du kommst aus dem | |
Osten, hast im Gefängnis gesessen, dann wird alles daran aufgezogen. Das | |
wollte ich nicht. Später, als dann die Mauer gefallen war und weitere | |
Bücher erschienen sind, da konnte ich es gar nicht mehr verbergen, wollte | |
es auch nicht. Hinzu kam, dass ich wusste, irgendwann will ich über diese | |
Zeit schreiben. | |
2001 ist Ihr [2][biografischer Roman „Krokodil im Nacken“] erschienen. | |
Warum brauchte es so viele Jahre, um über die Erfahrungen in der DDR, Ihre | |
gescheiterte Flucht und die anschließende Haft in Hohenschönhausen zu | |
schreiben? | |
Als ich Ende der 1980er Jahre dachte, ich könnte mich an das Thema wagen, | |
fiel die Mauer. Alles war wieder ganz frisch. Ich konnte meine Zelle, in | |
der ich damals gesessen habe, wieder betreten. Das musste ich sinken | |
lassen. 1989, 90, 91 – das wäre zu früh gewesen. Aber Ende der 1990er Jahre | |
habe ich das Thema aufgegriffen. | |
Sind Sie mit „Krokodil im Nacken“ 2001 auf Lesereise gegangen? | |
Ja, auch im Osten. Da gab es natürlich immer Leute, die mir applaudiert | |
haben, weil sie Ähnliches erlebt haben oder weil ich ein bisschen das | |
getroffen habe, was sie empfunden haben. Aber natürlich gab es auch andere | |
Reaktionen. Ich habe mal irgendwo in Brandenburg in einer Abiturklasse aus | |
dem „Krokodil“ gelesen. Dann sagte die Lehrerin hinterher: „Na ja, man ka… | |
die DDR auch ganz anders sehen.“ Da habe ich gesagt: „Man kann sie sehen, | |
wie man will. Nur, was ich da geschrieben habe, war eben so, das kann man | |
nicht anders sehen, das war so.“ | |
Das ehemalige Gefängnis Hohenschönhausen ist inzwischen eine Gedenkstätte. | |
Die Archive der Stasi sind ebenfalls zugänglich. Warum fällt es einigen | |
Menschen trotzdem so schwer, das Regime der DDR als Diktatur zu bezeichnen? | |
Das steckt wohl leider in den Köpfen von vielen – dieses Beharren: Früher | |
war aber nicht alles schlecht. Ich habe doch damals gelebt und habe da auch | |
schöne Zeiten erlebt. Ich war jung und verliebt. Wir waren in den Ferien | |
und haben im Meer gebadet … Es ist so, dass Menschen in allen Zeiten Ecken | |
finden, in denen sie es sich gemütlich machen können. Aber was ist denn ein | |
Rechtsstaat und was ist ein Unrechtsstaat? Als ich damals verhaftet wurde, | |
war ich bereit, alles auszusagen, aber mit einem Rechtsanwalt. Das habe ich | |
meinem Vernehmer gesagt. Der hat mich ausgelacht. „Sie haben wohl zu viel | |
amerikanische Filme gesehen. Bei uns sehen Sie erst dann einen | |
Rechtsanwalt, wenn wir mit Ihnen fertig sind.“ „Dann sage ich nicht aus.“ | |
„Gut, dann kommen Sie jetzt in Ihre Zelle zurück, und wenn Sie vernünftig | |
geworden sind und kooperieren wollen, können wir ja nochmal reden.“ Man | |
sitzt dann in seiner Einzelzelle, 14 Tage, drei Wochen, und irgendwann sagt | |
man sich, die sitzen am längeren Hebel. | |
Nach Ihrer Ausreise aus der DDR haben Sie zunächst weiter als | |
Exportkaufmann gearbeitet. Wann entschlossen Sie sich, ausschließlich | |
Schriftsteller zu sein? | |
Ich bin 1973 in den Westen gekommen, und 1977 lag mein erstes Buch vor. | |
Damit hatte ich Blut geleckt und habe das nächste Buch und noch eins und | |
noch eins geschrieben. Anfang der 80er Jahre gab es schon vier, fünf Bücher | |
von mir, alle nicht sehr dick, nicht sehr umfangreich, aber eben doch vier, | |
fünf Titel. Da habe ich mit meiner Frau überlegt, was machen wir jetzt? Sie | |
wusste natürlich, dass ich gerne schreibe, und meine Frau arbeitete wegen | |
der Kinder nur halbtags. Das hat ihr nicht so gepasst. Dann haben wir | |
gedacht, wir probieren es aus. Und mein Verleger hat gesagt: „Du schaffst | |
es.“ | |
Das war damals Hans-Joachim Gelberg? | |
Ja, das war Jochen Gelberg. Meine Frau war auch froh, jetzt wieder voll zu | |
arbeiten. Ich blieb ganztags zu Hause und habe nur noch geschrieben. | |
Wenn man Ihre Kindheit betrachtet, dann überrascht der spätere Lebensweg. | |
Ich glaube, dass ich eigentlich von Anfang an in eine künstlerische | |
Richtung tendiert habe. Natürlich denkt man nicht daran, Schriftsteller zu | |
werden, aber ich habe als Kind unwahrscheinlich viel gelesen, oftmals bis | |
nachts um zwölf. Es war alles nicht so einfach damals, aber [3][die Bücher | |
und die Autoren, die sie geschrieben haben, die haben mich ein bisschen | |
gerettet.] Denn die Leute, die in der Kneipe verkehrt haben, das waren | |
nicht alles Leute, die man so ins Herz schließen konnte. Ich bin auch viel | |
ins Kino gegangen und weiß noch, wie ich als Kind „Fahrraddiebe“ von | |
Vittorio De Sica gesehen habe, einen neorealistischen Film aus Italien. Da | |
muss ich acht oder neun Jahre alt gewesen sein. Warum hat mich gerade | |
dieser Film, der das wahre Leben gezeigt hat, so sehr bewegt? Das ist eben | |
das berühmte Interesse: Wie leben die Menschen? | |
20 Sep 2023 | |
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## AUTOREN | |
Eva-Christina Meier | |
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