| # taz.de -- Kinder- und Jugendbücher: Von Geschichte erzählen | |
| > Neues von A. E. Hotchner, Klaus Kordon und Rose Lagercrantz: Junge | |
| > Protagonisten verhandeln Flucht, Witschaftskrise und Deportation. | |
| Bild: Abbildung aus Rose Lagercrantz (Text) und Rebecka Lagercrantz (Bild) „Z… | |
| Mit hundert Jahren schrieb der Hemingway-Biograf Aaron Edward Hotchner | |
| seinen bemerkenswerten Jugendroman: „Die erstaunlichen Abenteuer des Aaron | |
| Broom“. In der spannenden Kriminalgeschichte erzählt der US-amerikanische | |
| Journalist und Autor von sozialem Abstieg, von Armut und Hoffnungslosigkeit | |
| während der Weltwirtschaftskrise – von Erfahrungen, die er selbst als Kind | |
| in den frühen 1930er Jahre sammeln musste. | |
| Sein Erzähler, der junge Aaron Broom wird zufällig Zeuge eines bewaffneten | |
| Raubüberfalls auf ein Juweliergeschäft. Kurz zuvor hatte sein Vater, ein | |
| recht erfolgloser Handlungsreisender, mit seinem Uhrensortiment den Laden | |
| im Stadtzentrum von St. Louis betreten. Der Sohn sollte im Auto auf ihn | |
| warten. | |
| Doch nun musste Aaron aus der Ferne mitansehen, wie dieser in Handschellen | |
| von der Polizei abgeführt wurde. Damit war das Unglück perfekt. Aarons | |
| Mutter lag schon seit Monaten mit Tuberkulose in einem Sanatorium, in | |
| seiner Hosentasche befanden sich noch 47 Cent, der Vater steckte unschuldig | |
| hinter Gittern und in ihrer alten Pension würde ihn die Fürsorge bald | |
| aufspüren. Könnte er doch als findiger Detektiv den Vater aus dem Gefängnis | |
| befreien? | |
| Das nun folgende Abenteuer schildert Hotchner äußerst lebendig in 38 | |
| Ereignissen vor dem Hintergrund der historischen Wirtschaftskrise und | |
| Massenarbeitslosigkeit. Dabei verleihen die realistischen Illustrationen | |
| und Porträts von Tim Köhler der Geschichte zusätzliche Anschaulichkeit. | |
| Wie schon Erich Kästners Emil kann sich auch Aaron bei der Suche nach dem | |
| wahren Schmuckdieb unterwegs in den Straßen St. Louis bald auf zuverlässige | |
| Freunde verlassen – auf Vernon, den Ex-Boxer, oder Augie, den | |
| Zeitungsjungen. Die drei Jahre ältere Ella und ihre Mutter helfen Aaron | |
| ebenfalls mit etwas Essen und einem notdürftigen Schlafplatz in ihrem | |
| Verschlag aus. | |
| Sie alle eint der Verlust ihres früheren Lebens mit einer gesicherten | |
| Existenz. Unverschuldet stehen sie nun vor dem Abgrund. Doch anders als | |
| ihre Eltern geben Aaron und seine Freunde nicht auf. | |
| ## Eine Familie aus dem Warthegau | |
| Seit 1980 schon erzählt der vielfach ausgezeichnete Berliner | |
| Jugendbuchautor Klaus Kordon spannend und bewegend von deutscher Geschichte | |
| im 19. und 20. Jahrhundert. Sein jüngster Roman handelt von den | |
| einschneidenden letzten Kriegswochen in Deutschland im Frühjahr 1945. | |
| In „Und alles neu macht der Mai“ gelingt es der sechzehnjährigen Rena mit | |
| ihrer deutschen Familie in einem der letzten Züge aus dem seit 1939 | |
| besetzten „Warthegau“ aus Polen zu fliehen. Während der Vater als Soldat | |
| der Wehrmacht kämpft, will die Mutter mit den vier Kindern erst einmal bei | |
| Verwandten in Berlin unterkommen. | |
| Doch die Hauptstadt erwartet sie in Trümmern. Die Familie beschließt, | |
| weiter Richtung Westen zu ziehen, um den Bombenangriffen und dem Hunger zu | |
| entkommen. Auf einem Hof in Norddeutschland werden sie zwangseinquartiert. | |
| Willkommen sind sie dort nicht. Die Erlebnisse erschüttern Renas vertraute | |
| Gewissheiten und ihr vom Nationalsozialismus geprägtes Weltbild. Ihre | |
| aufkommenden Zweifel und Gedanken hält die Heranwachsende für sich in ihrem | |
| Tagebuch fest. | |
| Überzeugend gelingt es Kordon in seinem Roman, komplexe Figuren mit | |
| widersprüchlichen Facetten zu entwickeln. Rena verliebt sich in Klaas. | |
| Durch seine Erfahrungen und Berichte mit den Verbrechen der Deutschen | |
| konfrontiert, kostet es auch sie viel Kraft, sich dieser Wahrheit zu | |
| stellen, bedeutet es für sie doch, das Handeln der eigenen Eltern in Frage | |
| zu stellen. Besonders ihr Vater, Parteimitglied der ersten Stunde, ist nach | |
| seiner Rückkehr aus dem Krieg nicht bereit, seine Teilhabe am | |
| Nationalsozialismus zu reflektieren, und relativiert stattdessen lieber die | |
| historische Verantwortung der Deutschen für den Zweiten Weltkrieg. „Immer | |
| gab’s Grausamkeiten. Erst bekriegen sich die Stämme, später die Völker und | |
| dann die Nationen.“ | |
| Nach dem 8. Mai 1945 gilt dann nicht nur für ihn: „Schuld oder Nichtschuld | |
| – wir haben überlebt und müssen weiterleben. Nur das ist jetzt noch | |
| wichtig.“ Besonders durch Kordons aufmerksame Beschreibung des Übergangs | |
| macht Renas fiktive Familiengeschichte deutlich, wie sehr Kontinuität und | |
| Verdrängung die deutsche Nachkriegsgesellschaft geprägt haben. | |
| Anlässlich des 75. Jahrestages der Befreiung des Vernichtungslagers | |
| Auschwitz sendete das schwedische Radio 2020 ein Märchen von Rose | |
| Lagercrantz über eine unzertrennliche Freundschaft, die lange vor der | |
| Deportation der jüdischen Bevölkerung in einem Städtchen irgendwo in | |
| Siebenbürgen beginnt. Aus dem Radiobeitrag entwickelte die schwedische | |
| Schriftstellerin das Kinderbuch „Zwei von jedem“, das von ihrer Tochter, | |
| Rebecka Lagercrantz, farbig illustriert wurde und nun im Moritz Verlag | |
| erschienen ist. | |
| Darin berichtet Eli von dem jüdisch geprägten Alltag seiner Kindheit im | |
| heutigen Rumänien, seiner besten Freundin Luli, die als Neunjährige genauso | |
| schnell rennen konnte wie er und ebenfalls als Halbwaise aufwuchs. Doch als | |
| ihr nach New York ausgewanderter Vater eines Tages zwei Schiffspassagen für | |
| die zwei Töchter schickt, trennen sich die Wege für Eli und Luli. | |
| Jahre vergehen und der Zweite Weltkrieg rückt näher, aber aus Amerika | |
| trifft keine Nachricht von der Freundin ein. Dann werden Elis Familie und | |
| die jüdischen Nachbarn von den Deutschen deportiert. | |
| Rose Lagercrantz hat in dieser Erzählung die Kindheitserinnerungen ihrer | |
| jüdischen Mutter Ella Kallos verarbeitet. Sie überlebte mit ihrer Schwester | |
| Rosalia Auschwitz und Bergen-Belsen. Auch in „Zwei von jedem“ werden Eli | |
| und sein Bruder Adam durch die Befreiung des Konzentrationslagers nur knapp | |
| gerettet und danach vom Roten Kreuz nach Schweden gebracht. Wie in einem | |
| Märchen, in dem grausame Dinge, aber eben auch Wunder geschehen, lässt die | |
| Autorin Eli und Luli in New York glücklich wieder zusammentreffen, ein | |
| neues Leben beginnen und eine Familie gründen. | |
| Nur von den „schrecklichen Sachen“, die er erlebt hat, will Eli nicht | |
| sprechen und auch seiner Tochter nichts erzählen, doch Luli ist sich ganz | |
| sicher: „[1][Kinder verstehen es. Und Kinder wollen es wissen!] | |
| 17 Dec 2021 | |
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| ## AUTOREN | |
| Eva-Christina Meier | |
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