# taz.de -- Kinder- und Jugendbuch im Frühjahr: Rebellion aus dem Abseits | |
> Neuerscheinungen von Lika Nüssli, Cornelia Franz und Xavier-Laurent Petit | |
> erzählen von glücklichen Momenten in schwierigen Zeiten. | |
Bild: Szene aus der Graphic Novel „Starkes Ding“ von Lika Nüssli | |
Noch bis in die 1970er Jahre wurden in der Schweiz sogenannte Verdingkinder | |
als günstige Arbeitskräfte auf Bauernhöfen untergebracht. Auch [1][Lika | |
Nüsslis] Vater Ernst ereilte dieses Schicksal im ländlichen Toggenburg | |
1949. Gegen Zahlung von 50 Rappen pro Tag überließen die Eltern ihren | |
zwölfjährigen Sohn einem fremden Bauern. | |
In ihrer Graphic Novel „Starkes Ding“ hat die Schweizer Künstlerin und | |
Illustratorin diese Kindheit in Bildern und Texten festgehalten. Aus der | |
Perspektive des Jungen erzählt Nüssli vom arbeitsreichen Alltag auf dem | |
kleinen Hof der Familie in den Bergen. Während des Zweiten Weltkriegs wird | |
sein Vater an die Grenze zum Militärdienst eingezogen. | |
In seiner Abwesenheit übernehmen Ernst und seine sechs Geschwister mit der | |
Mutter das Melken und Heuen. Sie versorgen die Schweine und Hühner. Ein | |
ganzes Spiegelei gibt es für die Kinder allein am Geburtstag. Nur die Stube | |
wird im Winter warm und der hohe Schnee schneidet den Weg ab hinunter ins | |
Dorf. | |
In frechen Schwarzweißzeichnungen mit grobem Strich und kontrastiert durch | |
präzise Skizzen von Tieren und Pflanzen fängt die Illustratorin die | |
bescheidene, naturverbundene Jugend ihres Vaters ein. Besonders die enge | |
Beziehung zu den ihm anvertrauten Tieren scheint den fröhlichen Jungen | |
oftmals über Armut und Strafen hinwegzutrösten. | |
## Einsamkeit und Herzlosigkeit | |
Doch die folgenden Jahre im Haus des älteren Bauernehepaars werden für den | |
robusten Verdingburschen zur reinsten Qual. Endlose Arbeitstage, Einsamkeit | |
und die Herzlosigkeit seiner Arbeitgeber machen ihm das Leben unerträglich | |
schwer. Mit fratzenhaft verzerrten Gesichtern kommandieren sie ihn herum. | |
Doch die kostbaren Vormittagsstunden in der Schule und das ausgelassene | |
Spiel mit den Mitschülern, von denen einige ein ähnliches Los teilen, kann | |
Ernst immer wieder unbeschwert genießen. In einfühlsam und gleichzeitig | |
humorvoll komponierten Szenen nähert sich Lika Nüssli der Vergangenheit | |
ihres Vaters und lenkt dabei den Blick auf eine bemerkenswerte Fähigkeit – | |
durch Momente des Miteinanders und im Kontakt mit der Natur schwierige | |
Lebenssituationen zu überstehen. | |
*** | |
Auch Henri, der sechzehnjährige Erzähler in dem Roman „Swing High“ sucht | |
mit seinen unangepassten Freunden nach Nischen im repressiven | |
nationalsozialistischen Alltag. Mit einem tragbaren Koffergrammofon | |
ausgerüstet, treffen sich die Hamburger „Swing-Heinis“ nach der Schule im | |
Eppendorfer Park, am Elbstrand oder im Freibad. | |
Begeistert hört die Clique die Musik von Louis Armstrong, Artie Shaw oder | |
Benny Goodman. Zu Songs wie „The Flat Foot Floogie with a Floy, Floy“ | |
hotten Henri, Fritz, Konrad, Hanna und die anderen Swing-Kids auf privaten | |
Partys ab. Doch mit Kriegsbeginn 1939 geraten die britisch gestylten, | |
individualistischen Jugendlichen zusehend ins Visier von Polizei und | |
Gestapo. | |
## Liebe im Faschismus | |
Für ihre Erzählung hat die Hamburger [2][Schriftstellerin Cornelia Franz] | |
die Geschichte dieser frühen Subkulturszene in ihrer Heimatstadt | |
detailreich und lebendig recherchiert. Ganz gegenwärtig erzählt Cornelia | |
Franz in „Swing High. Tanzen gegen den Sturm“ von Identitätssuche, | |
jugendlichem Überschwang und erster Liebe im faschistischen Deutschland. | |
1939 hatte Henri die Sommerferien noch bei Jonny und seiner Familie in | |
Winchester verbracht. Doch als im August 1939 ein Kriegsausbruch immer | |
wahrscheinlicher wird, muss er England Hals über Kopf verlassen. Mit dem | |
neuen britischen Jacket und der Louis-Armstrong-Schallplatte im Koffer | |
kehrt er vorzeitig zu seinen Eltern zurück nach Hamburg. | |
Nach dem Einmarsch der deutschen Wehrmacht in Polen am 1. September wird | |
die Stimmung auch an der Schule für Henri und seine Swing-Freunde immer | |
unerträglicher. Die Ober-Nazi-Lehrer haben dort das Heft übernommen. | |
Rassenlehre und Wehrertüchtigung stehen auf dem Lehrplan, während das | |
jüdische Gymnasium von Hanna und ihrem Bruder Edu mit dem Krieg geschlossen | |
wurde. | |
Für Juden gelten strenge Ausgangsbeschränkungen. Trotzdem riskiert Hanna | |
noch ein heimliches Treffen mit den Freunden. Doch ein paar Typen von der | |
Hitlerjugend lauern wieder einmal der Gruppe auf. Nur knapp kann das | |
Mädchen unerkannt entkommen. Im Dezember sieht Henri die jüdische Freundin | |
ein letztes Mal. | |
## Kommunist und Swing-Heini | |
Wann immer es geht, versucht der Sechzehnjährige sich vor dem | |
obligatorischen HJ-Dienst zu drücken. Lieber trifft sich Henri mit | |
Gleichgesinnten auf der Eisbahn im Planten un Blomen. Dort lernt er eines | |
Nachmittags Inge kennen und verliebt sich unsterblich in sie. | |
Doch diese Geschichte kann nicht gut ausgehen. Schon auf den ersten | |
Buchseiten greift die Autorin mit einem parallelen Erzählstrang, schwarz | |
abgesetzt, den Ereignissen voraus: 1941 begegnen sich Robert, der | |
Kommunist, und Henri, der Swing-Heini, nach Folter und Verhören in einer | |
stinkenden, dunklen Zelle im Stadthaus, dem Hauptquartier der Gestapo | |
Hamburg. | |
*** | |
Der fesselnde Roman „Der Sohn des Ursars“ erzählt von den Abenteuern eines | |
hochbegabten Roma-Jungen und seiner Familie. Im Wohnwagen ziehen sie, einen | |
Bären mit dabei, durchs Land. Denn Ciprians Vater Daddu ist ein Ursari, ein | |
Bärenführer, der seine Kunst auf den Märktplätzen der Provinz zur Schau | |
stellt. [3][Niemand von ihnen hat jemals eine Schule besucht.] | |
In Tãmãsciu wird die Familie von der Polizei bedroht. So geraten sie Zslot | |
und Lazlo in die Hände. Die zwielichtigen Schlepper organisieren ihre | |
Flucht nach Paris. Doch für die Reise und auch für den windigen Verschlag | |
neben den Bahngleisen in der Banlieue müssen die Ursaris nun teuer | |
bezahlen. | |
## Klauen in der Pariser Metro | |
Ciprian und sein großer Bruder Dimetriu werden von dem fiesen Karoly | |
gezwungen, in der Pariser Metro mit Taschendiebstählen die Schulden der | |
Familie zu begleichen, während ihre Schwester Vera zum Betteln geschickt | |
wird. Niemals war es irgendwo leicht für sie. | |
Mit Ciprians Augen, ohne Sentimentalität, aber mit verschmitztem Humor | |
schildert der französische Kinderbuchautor Xavier-Laurent Petit die | |
hoffnungslose Situation der Familie. Aufmerksam versucht der Ich-Erzähler | |
bald die fremde Stadt, die Bewohner und ihre Sprache mit seinem eigenen | |
System abzugleichen und zu entschlüsseln. Seine eigenwilligen Schlüsse und | |
Interpretationen dieser fremden Lebenswelt verleihen der Erzählung eine | |
überraschende Perspektive. | |
Als die sympathische ältere Dame „Madame Walfisch“ im Jardin du Luxembourg | |
seine außerordentliche Begabung für das Schachspiel entdeckt, wendet sich | |
für Ciprian plötzlich das Blatt und ihm eröffnet sich eine neue Welt, in | |
der er gewinnen kann. | |
14 Apr 2022 | |
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## AUTOREN | |
Eva-Christina Meier | |
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