# taz.de -- Verfassungsschutz hielt NS-Akten zurück: Quellenschutz für NS-Sch… | |
> Jahrzehntelang hielt der Verfassungsschutz eine Akte zum flüchtigen | |
> NS-Verbrecher Alois Brunner unter Verschluss. Der taz liegt sie nun vor. | |
Bild: Alois Brunner im Kurort Semmering bei Wien, undatiert | |
BERLIN taz | Hans-Georg [1][Maaßen] sperrte sich vehement. Sollte sein | |
Bundesamt für Verfassungsschutz von Gerichten verpflichtet werden, seine | |
Akten zu Alois Brunner herauszugeben, werde man dafür sorgen, dass das | |
Bundesarchivgesetz geändert werde, soll der damalige Präsident des | |
Verfassungsschutzes im Jahr 2018 intern erklärt haben. Damals befand sich | |
Maaßens Amt in einem Rechtsstreit mit der Bild-Zeitung über die | |
Brunner-Akte. Und tatsächlich wehrte sich das Bundesamt acht Jahre lang, um | |
die Akte nicht rauszurücken. | |
Dabei geht es bei Alois Brunner um einen der schlimmsten NS-Verbrecher. Der | |
Österreicher und einstige SS-Hauptsturmführer war die rechte Hand des | |
[2][Holocaust-Organisators Adolf Eichmann], er soll an der Ermordung von | |
Zehntausenden Jüd*innen beteiligt gewesen sein – und konnte sich bis zu | |
seinem Tod verstecken. Als die Bild-Zeitung 2019 schließlich gegen den | |
Verfassungsschutz vor Gericht siegte, bekam sie nur einen Teil der | |
Brunner-Akte – 129 Seiten, teils geschwärzt und nur ab dem Jahr 1984. | |
Später reichte das Amt weitere Teile nach. | |
Nun aber liegt [3][die komplette Akte der taz und fragdenstaat vor, 396 | |
Seiten,] beschafft über das Bundesarchivgesetz. Und sie zeigt: Der | |
Verfassungsschutz war nach dem Krieg frühzeitig über den Verbleib des | |
NS-Schergen im Bilde – behielt aber einige Informationen für sich. | |
In der NS-Diktatur hatte Brunner [4][die Verschleppung von Juden in | |
Vernichtungslager] maßgeblich mitorganisiert. Spätere Ermittler warfen ihm | |
eine „regelrechte Jagd auf Juden“ vor, Eichmann soll ihn seinen „besten | |
Mann“ genannt haben. Nach dem Krieg lebte Brunner zunächst unter falschem | |
Namen in Deutschland, floh um 1954 über Kairo ins syrische Damaskus. Ab | |
1961 suchte ihn das Frankfurter Amtsgericht mit einem Haftbefehl, in | |
Frankreich wurde er in Abwesenheit zum Tode verurteilt. Obwohl irgendwann | |
klar war, dass Brunner in Syrien ist, stellte Deutschland erst 1984 ein | |
Auslieferungsersuchen. Es blieb erfolglos – Syrien leugnete, dass der | |
Altnazi dort lebte. Dies tat Brunner dort indes unbehelligt bis zu seinem | |
Tod vor einigen Jahren. | |
## Sogar Adresse bekannt | |
Die Akte des Verfassungsschutzes zeigt nun: Der Geheimdienst wusste schon | |
ab 1960 über den Verbleib von Brunner Bescheid. Dieser lebe in Damaskus und | |
werde dort in Kürze die syrische Staatsbürgerschaft erhalten, heißt es etwa | |
in einem Vermerk vom Februar 1960. Festgehalten ist auch Brunners Tarnname: | |
Georg Fischer. Zudem habe Brunner noch im Dezember 1959 Eichmann in Kuwait | |
getroffen und Waffengeschäfte besprochen. Im selben Jahr wird auch die | |
Straße vermerkt, in der Brunner lebt: die Rue George Haddad. | |
Auch zu deutschen Waffenhändlern halte Brunner Kontakt, vermerkt der | |
Verfassungsschutz. Darunter zum berüchtigten Wehrmachtoffizier Otto Ernst | |
Remer, der den [5][Putsch gegen Hitler am 20. Juli 1944] mit niederschlug. | |
Doch eine Anfrage der Generalstaatsanwaltschaft Frankfurt/Main im Jahr 1960 | |
beantwortete der Verfassungsschutz nur knapp: Brunner solle in Damaskus an | |
der Firma „Orient Trading Company“ beteiligt sein und den Alias „Dr. | |
Fischer“ tragen. Benannt werden auch der Kontakt zu Remer und dem deutschen | |
Waffenhändler Wilhelm S. | |
Dann aber heißt es: „Weitere Erkenntnisse“ über eine Tätigkeit Brunners … | |
Damaskus „stehen unter Quellenschutz und können leider nicht mitgeteilt | |
werden“. Auch 1984 noch werden in einem Vermerk zu Brunner dessen | |
Aufenthaltsort in Damaskus und seine genutzten Tarnnamen festgehalten: Man | |
müsse „eine breitere Streuung der Meldung verhindern“. | |
In einem Vermerk von 1961 ist dagegen die Rede von eigenen | |
„Nachforschungen“ des Geheimdienstes. Festgehalten wird etwa, dass Brunner | |
laut eines Zeugen „sehr eng“ mit dem damaligen CDU-Bundestagsabgeordneten | |
Rudolf Vogel zusammengearbeitet habe. Dieser soll ihm auch 100 Mark für | |
seine Flucht nach Syrien gegeben haben. Vogel, der 1991 verstarb, bestritt | |
dies laut den Unterlagen: Er habe nur Brunners Ehefrau helfen wollen, die | |
in „sehr traurigen Umständen“ gelebt habe. | |
Auch als 1961 eine Briefbombe bei Brunner in Damaskus explodierte und seine | |
Hände und ein Auge verletzte, wusste der Verfassungsschutz schnell | |
Bescheid. Ein Hinweisgeber erklärte, der israelische Geheimdienst stecke | |
dahinter: Da auch dieser es nicht geschafft habe, Brunner in Syrien | |
festzunehmen, sei er „dazu übergegangen, dieses Attentat auf ihn zu | |
verüben“. Und als nach der [6][Entführung Eichmanns] im Mai 1960 das | |
Gerücht aufkam, Brunner plane mit anderen, den damaligen Präsidenten des | |
Jüdischen Weltkongresses zu entführen, um Eichmann freizupressen, vermerkte | |
der Verfassungsschutz: „Derartige Pläne sind nicht bekannt geworden.“ | |
Eichmann wurde schließlich 1962 in Israel zum Tode verurteilt und | |
hingerichtet. | |
Der Verfassungsschutz blieb auch in den Folgejahren an Brunner dran, | |
notierte weitere Tarnnamen von ihm. 1984 heißt es in einem Vermerk, Brunner | |
habe eine Schule für den syrischen Sicherheitsdienst geleitet und „genießt | |
das Wohlwollen auch der jetzigen syrischen Regierung“. Er stehe unter | |
syrischem „Polizeischutz“. | |
Im gleichen Jahr soll Brunner zudem immer noch Kontakt zu dem Altnazi Remer | |
gehalten haben. Das tat auch der Verfassungsschutz, der Remer als | |
„zuverlässige Quelle“ bezeichnet. In einer Befragung habe dieser Brunner | |
„einen seiner wichtigsten Kontaktleute“ genannt. Dem Amt gegenüber räumte | |
Remer auch ein, Brunner einst bei der Flucht geholfen zu haben: Er habe ihm | |
„vor Jahren in Kairo Asyl verschafft“, unter „schwierigen Umständen“. | |
Dieser sei weiter „gläubiger Nationalsozialist“ und arbeite in Damaskus f�… | |
den syrischen Geheimdienst – was ihm auch Kontakte zum BND und | |
Verfassungsschutz verschaffe, zu „vorwiegend jüngeren Leuten“. | |
Nachrichtendienstlich sei Brunner „stets up to date“, so Remer. Der | |
Verfassungsschutz lässt das in den Akten unkommentiert. Der BND wies 1988 | |
eine Zusammenarbeit mit Brunner in einem Schreiben an das Amt zurück: Man | |
habe „zu keiner Zeit Verbindungen zu Brunner unterhalten“. Überprüfen lä… | |
sich das nicht: Der BND löschte alle seine Akten zu Brunner in den | |
neunziger Jahren. | |
Remer blieb aber nicht Brunners einziger langjähriger Szenekontakt. 1977 | |
soll er einen rechtsextremen „Informationsbrief“ aus Deutschland empfangen | |
oder sich noch Ende 1988 mit dem österreichischen Altnazi [7][Gerd Honsik] | |
in Damaskus getroffen haben, um mit ihm dessen Buch „Freispruch für Adolf | |
Hitler“ zu besprechen. Danach indes will der Verfassungsschutz laut Akten | |
nichts mehr über Brunner herausgefunden haben. Der NS-Scherge blieb aber | |
bis mindestens Sommer 1993 noch im Personenregister des Geheimdienstes | |
abgespeichert, als „zeitgeschichtlich bedeutsame Person“. | |
Am Ende soll Brunner kärglich in einem Keller im Diplomatenviertel in | |
Damaskus gelebt haben und dort verstorben sein. Wann genau, ist bis heute | |
unklar. Hieß es zunächst, er sei 2001 mit 89 Jahren gestorben, datiert der | |
Verfassungsschutz das Todesjahr auf 2010. Das deutsche Ermittlungsverfahren | |
wurde gar erst im Sommer 2022 eingestellt, seitdem gilt er auch juristisch | |
als tot. Für seine Verbrechen musste sich Brunner damit nie verantworten. | |
30 Jun 2023 | |
## LINKS | |
[1] /Ex-Verfassungsschutzchef-Maassen/!5915210 | |
[2] /60-Jahrestag-des-Eichmann-Prozesses/!5759178 | |
[3] https://fragdenstaat.de/blog/2023/06/30/alois-brunner-gehlen-akten-verfassu… | |
[4] /Zum-80-Jahrestag-der-Wannseekonferenz/!5826036 | |
[5] /Jahrestag-des-Stauffenberg-Attentats/!5865919 | |
[6] /Trauer-um-Rafi-Eitan/!5582657 | |
[7] /Neonaziprozess-in-Oesterreich/!5163922 | |
## AUTOREN | |
Konrad Litschko | |
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