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# taz.de -- Chancengleichheit an Unis: Der lange Weg zur Parität
> Frauen fangen häufiger ein Studium an, doch nur jede vierte
> Lehrstuhlinhaber*in ist weiblich. Das Professorinnenprogramm soll
> das ändern.
Bild: Julia von Blumenthal, Präsidentin der Humboldt-Universität zu Berlin
„Meine Professur wurde damals ganz klassisch ausgeschrieben, ich habe mich
durchgesetzt“, sagt Annabella Rauscher-Scheibe. Sie studierte in den 90ern
Mathe und Physik in Augsburg, Cambridge und Heidelberg und promovierte
danach am Institut für Theoretische Hochenergiephysik. 2008 wurde sie
Professorin für angewandte Mathematik und Physik an der Hochschule für
Angewandte Wissenschaft in Hamburg.
[1][Seit April ist sie Präsidentin an der Hochschule für Technik und
Wirtschaft Berlin] (HTW Berlin). Eine wissenschaftliche Karriere wie aus
dem Lehrbuch, und dennoch ist Rauscher-Scheibe damit immer noch die
Ausnahme. Gerade mal 28 Prozent der Professuren sind laut dem Centrum für
Hochschulentwicklung (CHE) aktuell an Frauen vergeben.
Wenn man auf die Leitungsebene schaut, wird es noch enger: 23,5 Prozent der
Leitungen an staatlichen Universitäten waren im Jahr 2021 laut CHE Frauen.
An privaten Hochschulen waren es sogar nur 20,8 Prozent. Dabei haben
Mädchen in der Schule die besseren Zensuren, machen häufiger Abitur und
beginnen etwas häufiger ein Studium als männliche Klassenkameraden. Die
sogenannte „Leaky Pipeline“ beschreibt das Phänomen, dass Frauen in der
Wissenschaft zu Anfang des Studiums noch relativ paritätisch vertreten
sind, aber auf dem Weg nach oben immer weniger werden.
Bund und Länder helfen deshalb nach: Seit 2008 gibt es das sogenannte
Professorinnenprogramm, erst vergangenes Jahr wurde es zum vierten Mal
aufgelegt. 320 Millionen Euro investiert das Bundesministerium für Bildung
und Forschung (BMBF) im Zeitraum von 2023 bis 2030 in die Förderung von
Frauen. Seit 2008 wurden 846 weiblich besetzte Professuren über das
Programm gefördert, aktuell können sich Unis noch bis zum 31. August
bewerben. Dazu müssen sie ein Konzept für Parität an ihrer Hochschule beim
BMBF einreichen.
## Der Frauenanteil steigt nur langsam
Zwar bestätigen Evaluationen aus den Jahren 2012, 2017 und 2022 den Erfolg
des Programms, doch steigt der Frauenanteil bei Professuren nur langsam.
2009 waren es 18 Prozent, nun sind es gerade mal 28 Prozent.
Rauscher-Scheibe betont, dass sie keine Geschlechter-Diskriminierung in der
Uni wahrgenommen habe: „Aber man war immer ein seltenes Objekt und fiel
dadurch auf.“ Das habe Nachteile gehabt, dass so genau geguckt wurde –
einen schlechten Vortrag hätte man sich nicht erlauben können. Allerdings
sieht Rauscher-Scheibe auch Vorteile: „Es geht in der Wissenschaft auch
darum, gekannt zu werden, einen Namen zu haben“, sagt Rauscher-Scheibe. „Es
gab kaum Doktorandinnen in der theoretischen Teilchenphysik in
Deutschland, sodass mich jeder kannte.“
Wenn Rauscher-Scheibe heute in der Elektrotechnik unterrichtet, sei der
Großteil der Studierendenschaft immer noch männlich. Laut Statistischem
Bundesamt waren 36 Prozent der Bachelorabsolvent*innen im Jahr 2021
in MINT-Fächern weiblich. MINT steht für Mathematik, Informatik,
Naturwissenschaft und Technik. Damit ist Deutschland europaweit trauriges
Schlusslicht.
Im Januar 2022 wurde die dritte Phase des Professorinnenprogramms
evaluiert, die von 2018 bis 2022 lief. [2][Den Ergebnissen zufolge zeigt
das Programm positive Wirkungen], die Fortführung werde daher empfohlen.
Seit Beginn des Programms steige der Frauenanteil auf allen
Qualifikationsstufen: Auf Ebene der Promotionen habe er um 0,1
Prozentpunkte zugenommen, auf Ebene der Habilitation um 0,8 Prozentpunkte.
## Bislang hatten kleinere Hochschulen weniger Erfolg
In der Evaluation wird zudem betont, dass allein die Erstellung eines
Konzepts für die Bewerbung am Professorinnen-Programm positive Einflüsse
auf die Gleichstellung an der jeweiligen Hochschule habe. Und: „Die
zusätzliche finanzielle Ausstattung durch das Programm ermöglicht
einerseits gleichstellungsfördernde Maßnahmen, erhöhte darüber hinaus aber
auch den Stellenwert des Themas Gleichstellung und der damit befassten
Akteure innerhalb der Hochschule.“
Bemängelt wird in der Evaluation vor allem, dass das Programm komplex sei
und wenig flexibel. Gerade kleinere Hochschulen hätten eine geringere
Chance, gefördert zu werden, da die Bewerbung viel Aufwand erfordere und
die Ressourcen an kleineren Hochschulen knapp seien.
Auf taz-Anfrage, inwiefern das Programm darauf eingehe, erklärte eine
Sprecherin des Bildungsministeriums, dass die Struktur des Konzepts
erstmals klar vorgegeben sei und sich mehrere Hochschulen bei der
Erstellung eines solchen Konzepts zusammenschließen könnten. Außerdem
verlängerte das Ministerium unter Führung von Bettina Stark-Watzinger (FDP)
die Laufzeit von fünf auf acht Jahre. In dieser Zeit können sich
Hochschulen drei- statt wie bislang zweimal für eine Förderung bewerben.
All das soll zu einer größeren Flexibilität für die Hochschulen führen.
Rauscher-Scheibe, die Hochschulpräsidentin der HTW Berlin, sieht das
Professorinnenprogramm skeptisch: „Ich weiß nicht immer, ob es den Frauen
wirklich hilft. Man muss die Professur ja nicht nur bekommen, sondern
hinterher auch als gleichberechtigt wahrgenommen werden.“
## Wie divers sind die Frauen, die gefördert werden?
Der wissenschaftspolitischen Sprecherin der Linken im Bundestag, Nicole
Gohlke, geht das Programm dagegen nicht weit genug: „Ich freue mich an
sich, dass es das Programm gibt“, sagt Gohlke. „Aber es steht nicht
wirklich im Verhältnis zu dem Erfolg, wie die Ampel ihn abfeiert.“ Die
Bundesregierung ließe beispielsweise offen, wie ein besseres
Gender-Controlling im Programm umgesetzt werde. Also inwiefern Maßnahmen
der Gleichstellung nachhaltig angebracht werden.
Vor allem aber werde laut Gohlke [3][die soziale Frage] im Programm zu
wenig berücksichtigt: „Es sind vor allem Frauen mit einem akademischen
Hintergrund, die gefördert werden. Man muss also überhaupt in die Position
kommen, sich auf eine Habilitation zu bewerben.“ Laut Gohlke brauche es
deshalb eigentlich Programme, die früher ansetzen und auch mehr feste
Stellen im Mittelbau schaffen. „Das merkt man auch in der Debatte um das
[4][Wissenschaftszeitvertragsgesetz] – bestimmte Frauen, etwa diejenigen,
die einen Kinderwunsch haben, fallen raus aus dem System.“
Ein erklärtes Ziel des Professorinnenprogramms ist die
„gleichstellungsfördernde und geschlechtergerechte Struktur auf zentraler
und dezentraler Ebene“. Die Frage ist nur: Welche Frauen werden
gleichgestellt? Wie divers sind sie? Werden auch andere Geschlechter
außerhalb des binären Systems gefördert?
Dass Mütter auch jetzt schon kaum eine Rolle im Professorinnenprogramm
spielen, kritisiert Michaela Frohberg, Mitglied im [5][Netzwerk
Mutterschaft und Wissenschaft] und Leiterin der Koordinierungsstelle
Genderforschung und Chancengleichheit Sachsen-Anhalt: „Das Programm
fokussiert sich hauptsächlich auf die an den teilnehmenden Einrichtungen
umgesetzten gleichstellungsfördernden Maßnahmen.“ Anfangs habe es im
Programm auch Schwierigkeiten formaler Art gegeben. Unklar war etwa, wie
berufene Professorinnen, die in Mutterschutz oder Elternzeit gehen,
finanziert werden. Das habe sich aber nun geklärt.
## Mehr Hochschulleiter*innen aus NRW als aus dem Ausland
Bei Chancengleichheit geht es einerseits um die Chancen für jede*n
Einzelne*n, es geht andererseits aber vor allem um die Frage: Wer macht
Forschung? Wer unterrichtet? Und welche Perspektiven bringen diese Personen
mit?
So wurde in der aktuellen Evaluation des Professorinnenprogramms ebenfalls
empfohlen, dass das Professorinnenprogramm auf nicht-binäre Menschen
erweitert werde, da auch diese im Wissenschaftssystem benachteiligt werden.
Dies sei laut einer Sprecherin des BMBF umgesetzt worden – sofern
Hochschulen trans, inter und nicht-binäre Menschen nicht gesondert fördern
wollen, können diese Maßnahmen als gleichstellungsfördernd in der Bewerbung
zum Professorinnenprogramm anerkannt werden.
Bislang wurden allerdings keine Daten dazu erhoben, wie viele trans, inter
und nicht-binäre Menschen vom Professorinnenprogramm profitieren. Ebenfalls
nicht erfasst wird, wie viele der 846 geförderten Professorinnen einen
Migrationshintergrund haben. Im Jahr 2021 haben laut dem Centrum für
Hochschulentwicklung gerade mal drei Hochschulleiter*innen ihren
Geburtsort im Ausland. An privaten Hochschulen sind es immerhin zehn
Personen mit Geburtsort im Ausland.
„Schwarzes Leben sehe ich in deutschen Universitäten vornehmlich ganz früh
am Morgen oder ganz spät am Abend, wenn das Reinigungspersonal seine Arbeit
beginnt“, kritisierte Professorin Maureen Maisha Auma 2020 [6][in einem
Interview mit dem Tagesspiegel]. „Tagsüber sind das immer noch weiße
Institutionen, weitgehend homogene Milieus, die sich selbst reproduzieren.“
Die AfD startete daraufhin einen Shitstorm gegen die Wissenschaftlerin.
1 Jun 2023
## LINKS
[1] https://www.tagesspiegel.de/wissen/hochschule-fur-technik-und-wirtschaft-ne…
[2] https://www.gwk-bonn.de/fileadmin/Redaktion/Dokumente/Papers/Evaluation_des…
[3] /Nicht-Akademikerkinder-an-der-Uni/!5908925
[4] /Arbeitsbedingungen-an-Unis/!5921397
[5] /Wissenschaftlerinnen-ueber-Mutterschaft/!5867136
[6] https://www.tagesspiegel.de/wissen/nur-tagsuber-sind-universitaten-weisse-i…
## AUTOREN
Nicole Opitz
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