# taz.de -- MINT-Förderung in Potsdam: Forscher:innen wachsen draußen | |
> In Potsdam lernen Schüler:innen im Klassenraum – und im Botanischen | |
> Garten. Das soll sie für Naturwissenschaften begeistern. | |
Bild: Forschen im Grünen statt schwitzen im Klassenzimmer: Schüler:innen im B… | |
POTSDAM taz | Der Weg in den Laborraum im Botanischen Garten in Potsdam | |
führt durch einen Vorgarten, vorbei an Gewächshäusern. Es ist schon kurz | |
nach acht. Der Unterricht hat noch nicht angefangen, die wenigen | |
Schüler:innen im Raum unterhalten sich trotzdem nur leise. Einige tragen | |
weiße Laborkittel. Als sich der letzte Nachzügler hingesetzt hat, beginnt | |
die Biologiestunde dieser elften Klasse. | |
Vorne steht nicht der Biolehrer, sondern Hannah Beyersdorff: 23 Jahre, | |
Lehramts-Studentin in den Fächern Biologie und Chemie. Beyersdorff wird den | |
Oberstufenkurs dreimal unterrichten. Dies ist die erste der Einheiten, | |
Thema ist das Ökosystem Boden. | |
Die Studentin erklärt nur kurz die Fragestellung des anstehenden | |
Experiments: Die Tomaten im Garten eines Paares wollen nicht so recht | |
gedeihen. Woran könnte das liegen, wie ist der Boden, was ist mit den | |
Pflanzen neben den Sträuchern, der Sonne? | |
Dann teilen sich die Elftklässler:innen auf und strömen in kleinen | |
Gruppen raus in verschiedene Bereiche des Botanischen Gartens. Sie sollen | |
Proben sammeln an Orten, die mit dem Versuchsszenario vergleichbar sind und | |
die Anbauschwierigkeiten erklären könnten. | |
## Fächerübergreifendes Forschungsprojekt | |
Dass der Unterricht hier und nicht im Schulgebäude stattfindet und dass | |
Hannah Beyersdorff und nicht der Biolehrer des Kurses ihn leitet, ist ein | |
Kern des Projekts Nature of Science (NoS) am Potsdamer Leibniz-Gymnasium. | |
Seit Sommer 2019 kooperiert die Schule mit dem Botanischen Institut der | |
Universität Potsdam. Schüler:innen sollen Natur und Wissenschaft | |
verstehen lernen, deshalb werden sie an zwei ganzen Unterrichtstagen pro | |
Woche in den Laboren oder Gärten des Instituts unterrichtet – in den | |
[1][Naturwissenschaften Chemie, Biologie und Physik], in Mathematik, der | |
„Wissenschaftssprache“ Englisch sowie Kunst, „um künstlerisch die Natur … | |
betrachten“. | |
Während Johannes Goedings, der eigentliche Biolehrer, das erklärt, kommen | |
die Elftklässler:innen mit ihren Bodenproben nach und nach zurück ins | |
Labor. Goedings hat NoS initiiert. Schon einige Jahre vor Beginn des | |
Projekts habe er den Kontakt zum Botanischen Garten gesucht und „langsam | |
Vertrauen aufgebaut“, sagt er. Seit die Kooperation steht, gebe es für | |
Schüler:innen der Mittelstufe alle zwei Wochen naturwissenschaftliche | |
Juniorkurse am Botanischen Institut. „Herzstück des Programms ist aber | |
diese Vertiefung für die Oberstufe“, erklärt Goedings und weist mit der | |
Hand in Richtung der Jugendlichen. | |
An diesem Tag sind sie zu elft, eigentlich gehören 15 Schüler:innen zum | |
Kurs. Auf der Website des Gymnasiums steht, NoS solle „allen begabten | |
Schülerinnen und Schülern, die eine universitäre Ausbildung anstreben, die | |
Möglichkeit bieten, sich dafür in angemessenem Rahmen vorzubereiten“. | |
Abgesehen davon, dass die Fachlehrer:innen des Gymnasiums den | |
Unterricht regelmäßig an Lehramtsstudierende abtreten, arbeiten die | |
Schüler:innen über einen längeren Zeitraum hinweg an einem eigenen | |
fächerübergreifenden Forschungsprojekt. | |
Und das kommt gut an: Das wissenschaftliche Arbeiten sei cool, sagt Maya, | |
eine der Elftklässler:innen im Kurs. „Direkten Kontakt zu den Studenten | |
zu haben, ist auch total hilfreich“, fügt sie hinzu. Ob viele von ihnen | |
Lust hätten, nach der Lust ein Studium in einem der NoS-Fächer anzufangen? | |
„Einige bestimmt“, antwortet Maya. „Ich will vielleicht Biochemie | |
studieren.“ | |
## Gezielte Förderung von Frauen und Mädchen | |
Laut dem 2022 für Deutschland erschienenen Hochschulbildungsreport gehen | |
die Zahlen der Studienanfänger:innen in sogenannten MINT-Fächern – | |
also Fächern aus den Bereichen Mathematik, Informatik, Naturwissenschaft | |
und Technik – seit 2015 zurück. Das Bundesministerium für Bildung und | |
Forschung (BMBF) betonte jedoch zuletzt im März dieses Jahres, dass | |
„MINT-Bildung von zentraler Bedeutung für die Bewältigung großer globaler | |
gesellschaftlicher Herausforderungen wie der Energiewende und der digitalen | |
Transformation“ sei. | |
Deshalb hat das Ministerium im Herbst 2022 seinen MINT-Aktionsplan | |
aufgefrischt. Bis zu 45 Millionen Euro sollen in MINT-Initiativen fließen: | |
in schulische und außerschulische Projekte, in Informationsangebote für | |
Eltern und in die naturwissenschaftliche Bildung der Jüngsten in Kita, | |
Grundschule und Hort. Außerdem will das BMBF [2][gezielt Frauen und Mädchen | |
fördern]. Im Hochschulbildungsreport von 2022 steht, der Frauenanteil in | |
MINT-Studiengängen sei seit 2015 zwar gestiegen – bis 2020 allerdings auf | |
immer noch nur 37,5 Prozent, angepeilt waren 41 Prozent. Die Schwerpunkte | |
der Förderung durch das Ministerium sollen auf klischeefreier | |
Berufsorientierung, weiblichen Rollenvorbildern und Lehrkräften liegen. | |
Einige Maßnahmen zielen eher darauf ab, breite Massen für Natur und Technik | |
zu begeistern, andere bauen auf die sogenannte Spitzenförderung. | |
Silke Vorst, Koordinatorin im MINT-Netz Berlin-Brandenburg, setzt mit den | |
sogenannten Schülerlaboren auf Breitenförderung – schließlich brauche es | |
Breite, um überhaupt Spitzen fördern zu können, so Vorst. In Deutschland | |
gibt es 450 Forschungseinrichtungen, Hochschulen und Museen, die | |
Schülerlabore haben und dort Schulklassen Experimentierkurse anbieten. Das | |
Ziel, laut Vorst: MINT-Interesse zu fördern und für die gesellschaftlichen | |
Herausforderungen zu sensibilisieren, für die MINT-Bildung eine Rolle | |
spielt, zum Beispiel die Klimakrise. Im Netzwerk GenaU, das Vorst ebenfalls | |
koordiniert, haben sich die Labore aus Berlin und Brandenburg | |
zusammengeschlossen: „Vor Corona haben bei uns pro Jahr ungefähr 54.000 | |
Schülerinnen und Schüler experimentiert“, sagt Vorst. In Relation zur | |
gesamten Schüler:innenzahl – fast 350.000 allein in Berlin – sei das | |
immer noch wenig, „vielleicht kann jeder in seiner Schullaufbahn einmal ein | |
Schülerlabor besuchen“. Dennoch zeichneten sich Erfolge ab, das | |
Experimentieren außerhalb der Schule könne etwa beim MINT-Interesse den | |
Unterschied zwischen Mädchen und Jungen reduzieren. GenaU werde vom BMBF, | |
aus der Wirtschaft und vom Berliner Senat für Bildung, Jugend und Familie | |
finanziert. | |
## Langfristige Kooperation | |
„Nature of Science“ sei mit den Fächern Englisch und Kunst zwar keine reine | |
MINT-Idee. Mit den Lernorten, dem Botanischen Garten und dem Standort Golm | |
der Uni Potsdam, werde aber schon ein naturwissenschaftlicher Fokus | |
gesetzt, sagt Lehrer Johannes Goedings. Als er das Projekt ins Rollen | |
brachte, stellte er es dem Schulamt Brandenburg vor, „das | |
Bildungsministerium haben wir auch eingeladen“. NoS habe viel Lob geerntet | |
– bisher jedoch keine Förderung in Form von Geld oder Arbeitszeitausgleich | |
der Lehrer:innen. | |
Eine Sprecherin des Brandenburger Bildungsministeriums teilt auf Anfrage | |
mit, dass das Land bisher nur Schülerwettbewerbe finanziere. Darunter seien | |
nicht nur, aber vor allem Wettbewerbe im MINT-Bereich. MINT Zukunft e. V., | |
ein von Stiftungen, Verbänden und Arbeitgebern getragener Verein mit Sitz | |
in Berlin, hat 28 [3][Schulen in Brandenburg als MINT-freundlich] geehrt. | |
Das Leibniz-Gymnasium ist dort bislang nicht gelistet. | |
Goedings zufolge zeichnet NoS die direkte Kooperation mit der Uni Potsdam | |
über einen langen Zeitraum hinweg aus. Die Zusammenarbeit auch ohne | |
Förderung auf die Beine zu stellen, sei gelungen, „weil wir so eine | |
funktionierende Schule sind“. Die Schulleitung, die Stundenplanung, die | |
Fachlehrer:innen, sie alle hätten die Mehrbelastung durch das Projekt | |
einfach irgendwie geschultert. | |
Für Michael Burkart, den wissenschaftlichen Leiter des Botanischen Gartens | |
der Uni Potsdam, ist NoS weniger Extraarbeit. „Die Schule ist | |
verantwortlich für die Organisation“, erklärt er. Sein Institut sei ohnehin | |
engagiert in der Bildung von Kindern und Jugendlichen. Durch die | |
Kooperation mit dem Leibniz-Gymnasium erhoffe er sich zusätzlich „ganz | |
abstrakt: Interesse für die Natur und die Erhaltung der biologischen | |
Vielfalt“. Und: Für die Lehramtsstudierenden sei es „hervorragend, während | |
des Studiums schon vor Schülern zu stehen“. | |
Das bekräftigt auch Studentin Hannah Beyersdorff, die Arbeit mit dem | |
NoS-Kurs mache viel Spaß. Unter anderem, weil sich der Unterricht mit den | |
wenigen ausgewählten Teilnehmer:innen auf hohem Niveau gestalten lasse. | |
Goedings hat NoS bisher bewusst auf die Förderung derer ausgelegt, denen | |
der reguläre Unterricht leicht fällt. Nun versuche er, das Image der | |
Begabtenkurse aufzulockern und zu verhindern, dass sich Jugendliche von der | |
Bezeichnung „begabt“ abschrecken lassen. | |
Als die von Beyersdorff betreute Einheit endet, räumen die | |
Elftklässler:innen das Labor auf, die Bodenproben verstauen sie für die | |
nächste Woche. Jetzt müssen sie den Standort wechseln – immer noch nicht | |
zurück ans Leibniz-Gymnasium, sondern an den Uni-Campus im Potsdamer | |
Stadtteil Golm. Der Bus lässt auf sich warten, sie werden wahrscheinlich zu | |
spät kommen. | |
„Wir müssen für NoS schon sehr viel selbst machen“, sagt Schülerin Melin… | |
„Aber es fühlt sich nicht so an wie Schule.“ Schule sei mit Stress | |
assoziiert, wirft ein Mitschüler ein. Melina nickt: „Und da sitzen wir | |
meistens drinnen. Hier muss man nur die Treppe runtergehen und schon ist | |
man in der Natur, das macht was mit einem.“ | |
5 Jul 2023 | |
## LINKS | |
[1] /Zwang-zur-Koedukation-in-Papenburg/!5941463 | |
[2] /Chancengleichheit-an-Unis/!5934857 | |
[3] https://mbjs.brandenburg.de/aktuelles/pressemitteilungen.html?news=bb1.c.68… | |
## AUTOREN | |
Nanja Boenisch | |
## TAGS | |
Bildungschancen | |
MINT | |
Schwerpunkt Coronavirus | |
Bildung | |
Chemie | |
Potsdam | |
Kinderfrage | |
Wissenschaft | |
Bildungschancen | |
Schule | |
Schwerpunkt Stadtland | |
Parität | |
Wissenschaft | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Kinder fragen, die taz antwortet: Sind Blitze schneller oder Licht? | |
Wir wollen von Kindern wissen, welche Fragen sie beschäftigen. Jede Woche | |
beantworten wir eine. Diese Frage kommt von Alice, 5 Jahre alt. | |
SWR-Serie zu Frauen in der Wissenschaft: Schweißen, tüfteln, forschen | |
Die SWR-Serie „Women of Science“ will junge Frauen für MINT-Berufe | |
begeistern. Ein wenig mehr Action hätte der Produktion gutgetan. | |
Duales Modell an sächsischen Schulen: Ausbildung oder Abi? Beides! | |
Immer weniger Jugendliche machen eine Lehre. Der Trend geht zu Abi und | |
Studium. Sachsen bietet Schüler:innen ein duales Modell an, das gut | |
ankommt. | |
Lehrermangel: Die Schulabbrecher | |
Zu viel Druck im Referendariat, starre Hierarchien, Kampf mit der | |
Bürokratie. Warum jedes Jahr Hunderte angehende Lehrer ihre Ausbildung | |
aufgeben. | |
Zwang zur Koedukation in Papenburg: Klasse mit Jungs | |
Seltsam, dass in Zeiten von Safe Spaces Mädchenschulen ein Auslaufmodell | |
sind. Auch im Mariengymnasium Papenburg kommen jetzt die Jungs. | |
Chancengleichheit an Unis: Der lange Weg zur Parität | |
Frauen fangen häufiger ein Studium an, doch nur jede vierte | |
Lehrstuhlinhaber*in ist weiblich. Das Professorinnenprogramm soll das | |
ändern. | |
Wissenschaftlerinnen über Mutterschaft: Unsichtbare Mütter | |
Sarah Czerney und Lena Eckert haben ein Netzwerk für Mütter in der | |
Wissenschaft gegründet. Noch immer gibt es für Frauen mit Kindern große | |
Hürden. |