# taz.de -- Lehrermangel: Die Schulabbrecher | |
> Zu viel Druck im Referendariat, starre Hierarchien, Kampf mit der | |
> Bürokratie. Warum jedes Jahr Hunderte angehende Lehrer ihre Ausbildung | |
> aufgeben. | |
Manchmal träumt Richard Le Déon von dem Alltag, gegen den er sich selbst | |
entschieden hat. Den eines Gymnasiallehrers in Niedersachsen. Dann überlegt | |
er, wie es sein könnte, wenn er nicht alles hingeschmissen hätte. Wie es | |
wäre, heute Schulklassen in Mathe und Französisch zu unterrichten. Nur ohne | |
die Überforderung, die er als Referendar verspürte. Und ohne den Druck und | |
die Bürokratie, unter deren Last er irgendwann zusammengebrochen ist. | |
Solche Gedanken kommen dem 28-Jährigen oft mittwochs, wenn er in einer | |
Berufsschule in Hannover sitzt und sich auf seinen neuen Beruf vorbereitet: | |
Gärtner der Fachrichtung Gemüsebau. Dort hört Le Déon, warum man Tomaten | |
nicht zu früh im Jahr vorzieht, welche Fruchtfolge sich beim Ökolandbau | |
eignet – und wie Schlupfwesten Schädlinge kleinhalten. | |
An vier Tagen die Woche lernt er ganz praktisch, wie man Gemüse anbaut, auf | |
einem Feld südlich von Göttingen. Sein neuer Beruf macht Le Déon Spaß. Er | |
beschreibt ihn als „intensiv und erfüllend“. Vor allem aber fühlt er sich | |
erleichtert, nicht mehr in einem System zu stecken, das ihm „die mit | |
Abstand schlimmste Zeit“ seines Lebens beschert hat. | |
In Deutschland teilt sich die Lehrer:innenausbildung in zwei Phasen. | |
Im Studium die Theorie, danach das Referendariat, die praktische Anwendung. | |
Die Folge: Viele Lehramtsanwärter:innen stehen im Referendariat | |
erstmals vor einer Schulklasse. Zwar schreiben heute alle Bundesländer | |
während des Studiums „Praxisphasen“ an Schulen vor, einige sogar ein | |
„Praxissemester“ – in der Regel schauen die Studierenden dabei aber vor | |
allem zu. Erst im Referendariat unterrichten sie selbst. | |
Nicht alle stehen das durch. Wie viele, ist schwer zu ermitteln. Die | |
Ministerien wissen nicht immer, ob jemand abgebrochen hat oder gerade wegen | |
Krankheit oder Elternzeit pausiert. Im Schnitt kann man von einer | |
bundesweiten Abbrecherquote von 5 Prozent ausgehen; jedes Jahr verlieren | |
die Schulen um die 1.500 Lehrkräfte. Das deckt sich in etwa mit den Zahlen | |
der Kultusministerkonferenz (KMK). | |
Auch hier lassen sich wegen der unterschiedlich langen Ausbildungszeiten in | |
den Ländern keine exakten Quoten errechnen. Aber für das grobe Bild reicht | |
es. Im Jahr 2020 nahmen 30.430 Referendar:innen ihren Dienst auf. | |
Viele von ihnen müssten zwei Jahre später ihre Ausbildung abgeschlossen | |
haben – doch 2022 haben nur 27.742 ihre Staatsprüfung bestanden. | |
Warum aber schmeißen Jahr um Jahr hunderte angehende Lehrer:innen hin? | |
Menschen, die dringend gebraucht werden, um ein auf Kante genähtes | |
Schulsystem am Laufen zu halten. Bereiten Studium und Referendariat gut auf | |
den Alltag an der Schule vor? Und falls nein: Was folgt daraus? Für Schulen | |
und Ministerien? Für den Anspruch unserer Gesellschaft an den Lehrerjob? | |
Um Antworten auf diese Fragen zu finden, hat die wochentaz mit Ministerien | |
und Verbänden, Lehrkräften und Ausbilder:innen, Studierenden und | |
Referendar:innen gesprochen. Rund ein Dutzend angehender Lehrkräfte | |
haben uns von ihren Erfahrungen mit dem jetzigen System erzählt. Warum die | |
Ausbildung so stressig ist, warum sie so viel Frust erzeugt. | |
Einer von ihnen ist Paul Messall, der sein Referendariat trotz | |
abgeschlossenen Lehramtsstudiums in Hessen nicht an der Grundschule | |
absolvieren darf. Er hat sich wie Richard Le Déon einen neuen Beruf | |
gesucht. Oder Theresa Rahn, die am Ende ihres Referendariats fast einen | |
Nervenzusammenbruch erleidet, weil die Berliner Verwaltung ihr die sicher | |
geglaubte Stelle verweigert. Rahn heißt anders, ihren Namen haben wir auf | |
ihren Wunsch geändert. | |
Referendar:innen arbeiten oft bis Mitternacht, zudem stehen sie unter | |
ständiger Beobachtung und Begutachtung. Seminarleiter:innen, | |
Fachkolleg:innen, Schulleiter:innen bewerten und benoten regelmäßig | |
den Unterricht. Dieses Feedback ist wichtig, einerseits. Die | |
Referendar:innen sollen lernen, ihren Unterricht selbständig zu planen | |
und zu halten. Da braucht es eine enge Begleitung. | |
Richard Le Déon sagt: „Meine fachliche Betreuung war insgesamt echt gut, | |
sie hat mir sehr geholfen.“ Andererseits bauen die vielen Seminarstunden, | |
Unterrichtsbesuche und Lehrproben auch einen konstanten Druck auf. Der | |
Vorwurf vieler Referendar:innen: Ihre Betreuer:innen hätten sie | |
degradiert, nach dem Motto: „Das geht anders. Das kannst du noch nicht.“ | |
Mit dem Druck bleiben die Lehramtsanwärter:innen oft allein. Ein | |
Grund dafür steht in Paragraf 9 des Beamtenstatusgesetzes. Er sieht vor, | |
dass alle Personen im öffentlichen Dienst vor der Verbeamtung ihre | |
gesundheitliche Eignung nachweisen müssen. Das gilt für Lehrkräfte genauso | |
wie für Richter:innen. Sie alle müssen sich amtsärztlich prüfen lassen. | |
Eine psychotherapeutische Behandlung im Studium oder während des | |
Referendariats kann ein Ablehnungsgrund sein. Laut den Ministerien kommt | |
das zwar so gut wie nie zur Anwendung. Aber das Risiko bleibt, vom Amtsarzt | |
ausgemustert zu werden. Auch, weil es keine klaren Richtlinien gibt, wann | |
eine psychische Erkrankung, wann eine entsprechende Therapie okay sind – | |
und wann ein Grund für die Ablehnung. Wegen dieser Unsicherheit verzichten | |
viele Referendar:innen und Lehramtsstudierende lieber auf | |
professionelle Hilfe. | |
Auch Richard Le Déon hat keinen Arzt aufgesucht, als er einen Zusammenbruch | |
während seines Referendariats erlitt. Die ersten Symptome treten im März | |
2021 auf. Zu dem Zeitpunkt hat er fast die Hälfte seines Referendariats | |
hinter sich. Erst ein paar Tage zuvor attestieren ihm seine | |
Ausbilder:innen, dass er seine Sache schon ganz gut macht. Sowohl in der 7. | |
Klasse, in der er Französisch unterrichtet, als auch in der 9. Klasse, wo | |
er Mathe gibt. | |
Sie loben, wie gut er mit den Jugendlichen umgeht. Doch wie angespannt und | |
überarbeitet er ist, bemerken sie nicht. Sie fragen auch nicht danach – | |
dafür ist im Ausbildungsalltag keine Zeit. Nur einmal wird das Thema | |
Arbeitsumfang und Zeitmanagement im Seminar angesprochen, das war es. | |
Die Erziehungswissenschaftlerin Julia Košinár hat viel zur | |
Betreuungssituation deutscher Referendar:innen geforscht, sie ist | |
Leiterin des Forschungszentrums Lehrberufe und pädagogische | |
Professionalität an der Pädagogischen Hochschule Zürich. Im Jahr 2014 hat | |
sie die Ergebnisse ihrer Forschungen veröffentlicht. Ein Punkt: Wer | |
unsicher oder unerfahren ist, passt sich den Erwartungen der | |
Ausbilder:innen an oder versucht Fehler zu vermeiden. Je erfahrener und | |
selbstsicherer sie sind, desto besser können sie mit Kritik und Druck | |
umgehen. Košinár glaubt, dass eine bessere individuelle Begleitung vor | |
Überlastung schützen kann – und vor dem Abbruch. | |
Normalerweise werden Referendar:innen schrittweise an das selbständige | |
Unterrichten herangeführt. Manche Seminarleiter:innen empfehlen, mit | |
vier Schulstunden die Woche zu starten und erst im zweiten Halbjahr zu | |
steigern. Le Déons Ausbildungsschule, ein Gymnasium in Osterode am Harz, | |
teilt ihm in Rücksprache mit seinem Seminar 7 Stunden zu. Nicht | |
ungewöhnlich – aber mit mehr Aufwand verbunden. Referendar:innen | |
müssen jede Schulstunde akribisch vorbereiten. | |
In einem „Verlaufsplan“ muss jeder Unterrichtsschritt schriftlich | |
ausformuliert werden: Welcher Stoff ist an der Reihe? Was lernen die | |
Schüler:innen in dem Moment? Welche Methodik kommt zum Einsatz? Welche | |
Materialien und Medien? In der „Unterrichtsskizze“ müssen das Stundenziel, | |
die geförderten Kompetenzen und weitere Aspekte festgehalten werden. Im | |
Schnitt braucht Le Déon allein für diese Dokumentation 3 Stunden – pro | |
Unterrichtsstunde. Vielleicht spielt auch eine Rolle, dass Deutsch nicht | |
seine Muttersprache ist, sondern Französisch. | |
Doch die Arbeitsbelastung allein ist es nicht, die Le Déon zusetzt. In | |
seiner 7. Klasse sitzen 30 Teenager. Keine einfache Aufgabe für einen | |
Referendar mit wenig Unterrichtserfahrung. Als er sich daran gewöhnt, | |
schlägt die Pandemie zu. Der zweite Lockdown. Wieder schließen die Schulen. | |
Le Déon hängt sich rein, jede Schulstunde unterrichtet er nun digital. „Das | |
ist einfach alles zu viel gewesen“, sagt Le Déon heute. „Wenn man zu | |
Perfektionismus neigt wie ich, ist das tödlich“. | |
An einem Abend im März stürzt Le Déon beinahe vom Rad. Er fühlt sich | |
kraftlos – und schafft es an jenem Abend kaum mehr nach Hause. Der Hausarzt | |
stellt Erschöpfungssymptome fest, schreibt ihn für ein paar Tage krank. Le | |
Déon kommt kaum aus dem Bett. Als der Zustand anhält, macht Le Déon mehrere | |
Bluttests, doch die liefern keine Erklärung. Nach drei Wochen sucht er die | |
psychiatrische Notaufnahme der Uniklinik auf. | |
Burn-out. Eine Therapeutin verschreibt ihm Sertralin, ein Antidepressivum | |
mit schweren Nebenwirkungen. Le Déon bekommt Panikattacken, kann nicht mehr | |
schlafen. Und fühlt sich schlecht, weil er ausfällt und andere seine | |
Stunden vertreten müssen. Als dann noch das Ministerium einen Brief schickt | |
und wissen will, was mit ihm los ist, setzt sich Le Déon noch weiter unter | |
Druck: „Ich will diese Ausbildung zu Ende bringen. Ich muss schnell wieder | |
zu Kräften kommen!“, denkt er. Doch sein Körper gehorcht ihm nicht mehr. | |
Ende April unterschreibt er einen Antrag auf Entlassung aus dem | |
Vorbereitungsdienst, adressiert an das Regionale Landesamt für Schule und | |
Bildung in Braunschweig. Aufgrund einer Krankheit sehe er sich „nicht mehr | |
in der Lage, den Anforderungen des Vorbereitungsdienstes nachzukommen. Mit | |
freundlichen Grüßen“ – viel konkreter soll es der Dienstherr aus | |
Datenschutzgründen nicht wissen. Le Déon vermutet, dass es im | |
niedersächsischen Bildungsministerium aber ohnehin keinen so genau | |
interessiert. | |
Doch das sollte es. Denn gut ausgebildete Lehrkräfte werden immer knapper. | |
Vor zehn Jahren standen den Schulen bundesweit 30.206 neue voll | |
ausgebildete Lehrkräfte zur Verfügung – im vergangenen Jahr nur 27.350. | |
Allein in Niedersachsen ist die Zahl der fertigen Referendar:innen | |
zwischen 2012 und 2022 von 3.151 auf 2.372 zusammengeschmolzen. Die Lücke | |
füllen seither vor allem Quereinsteiger:innen auf. | |
Mittlerweile hat rund jeder zehnte neu eingestellte Lehrer kein Lehramt | |
mehr studiert, in Sachsen-Anhalt und Brandenburg ist es fast jeder zweite. | |
Trotzdem sind rund 50.000 Stellen zu Beginn des auslaufenden Schuljahres | |
unbesetzt geblieben, schätzt der Verband Bildung und Erziehung (VBE). | |
Le Déon ärgert dieser Trend: „Überall werden Lehrkräfte dringend gebraucht | |
und dann verheizt man uns schon im Referendariat?“ Vor allem von der | |
Seminarleiterin ist er enttäuscht. Als er das erste Mal nach dem Burn-out | |
das Gespräch sucht, um über Teilzeitmöglichkeiten oder Stundenreduzierungen | |
zu sprechen, geht sie darauf nicht ein – er werde schon wieder gesund. Als | |
er zwei Wochen später wiederkommt, um zu kündigen, druckt sie ihm | |
anstandslos den Antrag aus. Hilfe bietet sie nicht an. | |
Auch kein Abschlussgespräch, um die Entscheidung ihres gescheiterten | |
Referendars besser nachvollziehen zu können. Dabei wäre Le Déon gerne | |
losgeworden, was ihn am Referendariat so frustriert hat: wie fixiert alles | |
sei auf modellhafte Unterrichtsstunden. Aus seiner Sicht dreht sich zu viel | |
darum, in superaufwendigen Stunden „den perfekten Unterricht zu | |
simulieren“. Mit dem Schulalltag habe das wenig zu tun. | |
Auch der Erziehungswissenschaftler Till-Sebastian Idel sieht beim | |
Referendariat Handlungsbedarf. Idel leitet das Institut für Pädagogik an | |
der Uni Oldenburg. Seit fast 20 Jahren bildet er angehende Lehrer:innen | |
aus. Dabei beobachtet er, dass diejenigen, die die Studierenden und | |
Referendar:innen betreuen sollen, dafür oft nicht systematisch | |
ausgebildet sind. Weder die Mentor:innen an der Schule noch die | |
Leiter:innen in den Fachseminaren. „Es ist ein Problem, wenn die | |
Professionalisierer nicht selbst professionell ausgebildet sind“. Bis vor | |
wenigen Monaten habe es noch nicht mal ein Lehrbuch für Seminardidaktik | |
gegeben – also eine Anleitung für die Schulung von Referendar:innen. | |
Idel plädiert dafür, die Zahl der Unterrichtsbegutachtungen zu senken und | |
Coaching-Angebote auszubauen. Da lohne ein Blick ins Ausland. In der | |
Schweiz etwa werden Lehrkräfte gut für die Arbeit als Mentor:in | |
qualifiziert. | |
Drei Viertel der OECD-Staaten verzichten zumindest bei einen Teil ihrer | |
Lehrkräfte auf das Referendariat. Sie legen theoretische und praktische | |
Ausbildung zusammen. Dadurch stehen Finnland, Dänemark, Schweden oder Polen | |
fertige Lehrer:innen schon nach 4 bis 5 Jahren zur Verfügung – statt | |
nach frühestens 6,5 Jahren wie hierzulande. Bildungsforscher:innen | |
kritisieren schon lang, dass das Lehramtsstudium in Deutschland sehr lange | |
dauert – und die praktischen Anteile erst sehr spät kommen. Aus diesem | |
Grund haben einige Bundesländer duale Studiengänge auf den Weg gebracht. | |
Beim Referendariat hingegen sehen die Ministerien aktuell wenig | |
Handlungsbedarf. Einige verweisen auf Anpassungen in den vergangenen | |
Jahren. So haben beispielsweise Brandenburg, Hessen und Nordrhein-Westfalen | |
Coaching-Angebote eingeführt und Bewertungselemente reduziert – so wie es | |
Ausbilder Idel für ganz Deutschland fordert. Hessen schreibt seit | |
vergangenem Jahr zudem vor, dass bei einem Teil der Unterrichtsstunden | |
immer zwei Mentor:innen mit dabei sein müssen. Sachsen hat das Thema | |
Gesundheit in der Ausbildung gestärkt. Und Schleswig-Holstein teilt mit, | |
bestehende Beratungsangebote für Referendar:innen noch weiter ausbauen | |
zu wollen. Aber reichen diese Maßnahmen? | |
Eine im Mai veröffentlichte Langzeitstudie des Leibniz-Instituts für | |
Bildungsverläufe und des Deutschen Zentrums für Hochschul- und | |
Wissenschaftsforschung belegt, dass ein Viertel der Referendar:innen | |
von Burn-out bedroht ist. Die Bildungsministerien schätzen die Lage weniger | |
dramatisch ein. Nordrhein-Westfalen, das ein Viertel aller Lehrkräfte | |
bundesweit ausbildet, sieht „keine Anzeichen einer systematischen | |
Überlastung“ bei Referendar:innen. Ähnlich äußern sich die übrigen Länd… | |
Der Tenor: Wir wissen, dass das Referendariat stressig sein kann. Aber die | |
allermeisten bestehen am Ende ja doch. | |
Vielleicht hätte auch Paul Messall bestanden und wäre heute | |
Grundschullehrer. Stattdessen ist er PR-Berater. Monatelang hat er | |
versucht, sein Referendariat an einer Grundschule machen zu dürfen. | |
Vergebens. Dabei kann der 25-Jährige ein abgeschlossenes Lehramtsstudium | |
vorweisen. Nur: Aus Sicht der Behörden ist es das falsche. | |
Messalls berufliche Odyssee beginnt nach dem Abitur. Er möchte in Hessen | |
Grundschullehramt studieren, dafür aber reichen seine Noten nicht aus – bis | |
heute sind Lehramtsstudiengänge vielerorts zulassungsbeschränkt, weil es | |
mehr Bewerber:innen als Plätze gibt. Dann bestimmt der Numerus clausus, | |
wer studieren darf. Beim Lehramt trifft das vor allem auf die Studiengänge | |
Grundschule und Sonderpädagogik zu. | |
Messall schreibt sich deshalb für Haupt- und Realschullehramt für die | |
Fächer Deutsch und Geschichte ein. Er hofft, nach dem Studium an die | |
Grundschule wechseln zu können. Schließlich liest er ständig, dass dort | |
händeringend Personal gesucht wird. Zum Beispiel in Berlin. Im Juni 2022 | |
besteht Messall in Hessen sein Staatsexamen – und bewirbt sich für das | |
Referendariat für Grundschule in Berlin. | |
Doch sein Antrag wird abgelehnt. Sein Abschluss sei dem Berliner Lehramt an | |
Integrierten Gesamtschulen und Gymnasien gleichzusetzen. An diesen | |
Schularten könne er gerne anfangen – nicht aber an einer Grundschule. Für | |
Messall ergibt das keinen Sinn. Auch Quereinsteiger:innen, die gar kein | |
Lehramt studiert haben, können ihr Referendariat an der Grundschule machen. | |
So schnell gibt er nicht auf. Er schickt E-Mails an viele Stellen, von der | |
KMK bis zur Berliner SPD, um auf die Ungerechtigkeit aufmerksam zu machen. | |
Vor allem glaubt Messall, eine stichhaltige Begründung für seinen Wunsch | |
nachreichen zu können. Messall leidet an der Augenkrankheit Keratokonos, | |
bei der sich die Hornhaut ausdünnt und nach außen wölbt. Dadurch sieht er | |
alles sehr stark verschwommen. | |
Schon bei seinen Schulpraktika hat er gemerkt: Was hinter ihm an der Tafel | |
steht, kann er nur mit Mühe entziffern. Auch kleingedruckte Bücher zu lesen | |
fällt ihm schwer. Deutsch in einem Gymnasium zu unterrichten kann er sich | |
deshalb nicht vorstellen. „Wie soll das gehen, wenn ich die Schulbücher | |
schwer lesen kann?“ Als Grundschullehrer könne er im Unterricht viel freier | |
arbeiten, die Schriftgrößen sind deutlich angenehmer. Messall bewirbt sich | |
ein zweites Mal – und verweist auf seine Sehbehinderung. Er bietet auch an, | |
im Brennpunktviertel zu arbeiten. | |
Doch wieder kassiert er eine Absage: Erstens habe er seine | |
Schwerbehinderung nicht durch die Agentur für Arbeit anerkennen lassen. | |
Zweitens könne diese „Regelung für Nachteilsausgleich“ ohnehin nicht auf | |
seinen Fall angewendet werden. Schließlich werde er „mit allen anderen | |
Bewerbern mit gleichem oder ähnlichem Studienabschluss … gleichbehandelt“. | |
Aus diesem Grund sei „die Absolvierung des Vorbereitungsdienstes für das | |
Lehramt an Grundschulen für Sie ausgeschlossen“. | |
Die Sachbearbeiterin empfiehlt Messall, die Ausbildung in Hessen | |
abzuschließen. Doch dort darf er mit seinem Abschluss auch nicht an die | |
Grundschule. Ebenso wenig in anderen Bundesländern. Aus Frust wendet er | |
sich schließlich ganz vom Lehrerberuf ab. Heute arbeitet Paul Messall in | |
der PR-Abteilung eines Berliner Start-up-Unternehmens. | |
Ausbilder Till-Sebastian Idel von der Universität Oldenburg sieht darin ein | |
gutes Beispiel für die „Verwerfungen“ bei der Lehrkräftegewinnung. „Da | |
trifft ein seit Jahrzehnten starres Ausbildungssystem auf unter großem | |
Druck getroffene Ad-hoc-Maßnahmen.“ Dies führe dann – Stichwort | |
Quereinstieg – zu parallelen Strukturen und offensichtlicher | |
Ungleichbehandlung. Ein anderes Beispiel dafür sei die erschwerte | |
Anerkennung ausländischer Lehrkräfte, weil die in der Regel nur ein Fach | |
studiert haben und deshalb in Deutschland vielfach zurück an die Uni | |
müssten. | |
Auch bei den dualen Studiengängen, die viele Ministerien jetzt auflegen | |
wollen, um Lehrkräfte schneller und praxisnäher auszubilden, gebe es noch | |
offene Fragen – etwa ob die Absolvent:innen dann noch das Referendariat | |
machen müssen oder nicht. Idels Eindruck: Viele der Ad-hoc-Maßnahmen sind | |
nicht konsequent zu Ende gedacht. | |
Unstrittig ist: Die Ministerien müssen kreativ werden, um genügend | |
Lehrkräfte zur Verfügung zu haben. Jede dritte Lehrkraft ist über 50, die | |
Schulen müssen in den kommenden 10 bis 15 Jahren also rund 230.000 Stellen | |
nachbesetzen. Wie schwer das wird, zeigt eine andere Entwicklung: Seit 2014 | |
ist die Zahl der Lehramts-Absolvent:innen um 14 Prozent gesunken – trotzt | |
massiven Ausbaus der Studienplätze. | |
Eine aktuelle Studie der Universitäten Rostock und Greifswald zeigt, dass | |
je nach Studiengang zwischen 55 und 85 Prozent der Lehramtsstudierenden vor | |
Ende des Studiums abspringen. Offenbar schreckt die praxisferne Ausbildung | |
viele davon ab, bis zum Ende durchzuhalten. Und die, die bereits im System | |
sind, vergrault die Politik mit Maßnahmen wie verpflichtende Mehrarbeit in | |
Sachsen-Anhalt oder Zwangsversetzungen in Nordrhein-Westfalen. | |
Auch in Berlin erzeugte ein – mittlerweile zurückgenommener – Plan des | |
Senats schlechte Stimmung. Um zu verhindern, dass Schulen in | |
Brennpunktvierteln nur Quereinsteiger:innen abbekommen, schränkte die | |
damals SPD-geführte Bildungsverwaltung die Autonomie der Schulen ein. Das | |
Ziel: die voll qualifizierten Lehrkräfte in der Stadt gerechter verteilen. | |
Unter Gesichtspunkten der Chancengerechtigkeit eine legitime, vielleicht | |
sogar notwendige Maßnahme. Doch wie die Verwaltung die Steuerung anging, | |
sorgte für Frust. Zum Beispiel bei Theresa Rahn. Mehrere Monate verzweifelt | |
sie an der Bürokratie. Die Auseinandersetzung setzt ihr zu, irgendwann ist | |
sie kurz vor einem Nervenzusammenbruch. „Das war das Schlimmste, was ich je | |
erlebt habe“, sagt sie. | |
Es ist Februar, Rahn steht am Ende ihres Referendariats. In drei Monaten | |
hat sie ihre alles entscheidende Examensprüfung. Die Fristen für die | |
Neueinstellungen liegen in Berlin aber so, dass sich Referendar:innen | |
schon vor ihrer Prüfung um eine Stelle für das neue Schuljahr kümmern | |
müssen. Und da fängt Rahns Ärger an. Denn die Senatsverwaltung fordert sie | |
in einem Schreiben auf, „unverzüglich“ Kontakt zu einer Grundschule in | |
Neukölln aufzunehmen. Dort sei eine Stelle frei. | |
Rahn ist irritiert: Sie hat Lehramt für Integrierte | |
Sekundarschule/Gymnasium studiert, also für alles ab der 7. Klasse. An die | |
Grundschule möchte sie nicht. „Für die Grundschule und die Arbeit mit | |
kleinen Kindern bin ich gar nicht ausgebildet.“ Rahn antwortet der | |
Verwaltung, dass sie sich dort nicht bewerben möchte, und kümmert sich | |
selbst um einen Schulplatz. | |
Ein paar Wochen später findet sie tatsächlich eine Schule, die sie | |
anstellen möchte – an der sie auch gerne arbeiten will. Eine Integrierte | |
Sekundarschule. In zwei Gesprächen lernt sie die Schulleitung kennen und | |
hospitiert einige Stunden, um einen Eindruck von der | |
Schüler:innenschaft zu gewinnen. Außerdem liegt die Schule in dem | |
Bezirk, in dem sie lebt. „Ein perfektes Match“, findet Rahn. Die | |
Schulleitung sieht das genauso, Rahn erhält die Zusage für eine Stelle. | |
Doch der Senat möchte, dass Rahn in einem anderen Bezirk arbeitet. Damit | |
kann ihre Wunschschule sie nicht einstellen. Alle Einwände, auch vonseiten | |
der Schulleitung, laufen ins Leere. Letztlich besetzt die Schule ihre drei | |
offenen Stellen mit Lehrkräften, die die Schule nicht kennt. Und Rahn weiß | |
immer noch nicht, wie es für sie nach dem Examen weitergeht. | |
Als sie dann im Nachrückverfahren kein Jobangebot erhält, wird Rahn langsam | |
nervös. Es ist Ende April, sie hat immer noch keine Stelle – und muss sich | |
voll auf das Examen konzentrieren. Rahn wendet sich an die Schulaufsicht. | |
Dort setzt sich eine Sachbearbeiterin für eine pragmatische Lösung ein: | |
Eine offen gebliebene Stelle an Rahns Wunschschule für das Fach Chemie wird | |
so getauscht, dass Rahn noch die Stelle erhält, die ihr die Schule schon | |
zwei Monate vorher geben wollte. | |
Inzwischen steht sie kurz vor der Verbeamtung. Studium und Referendariat | |
haben sie ernüchtert. Als Referendarin habe sie vor allem gelernt, genau | |
das zu erfüllen, was der jeweilige Fachseminarleiter hören möchte – auch | |
wenn das genau das Gegenteil von dem ist, was ein anderer sagt. | |
Aus Rahns Sicht fehlt dringend eine verbindliche Supervision, und zwar für | |
Referendar:innen und für Ausbilder:innen. Sie hofft zudem auf eine | |
Enttabuisierung psychischer Selfcare. Wer sich mit seiner psychischen | |
Gesundheit auseinandersetze, werde als potenzielles Problem behandelt. Die | |
hohen Burn-out-Raten bei Lehrer:innen zeigten, dass die Ministerien das | |
Problem nicht erkannt hätten. Tatsächlich geht heute jeder fünfte | |
Ausfalltag auf psychische Erkrankungen zurück. | |
Nach den Sommerferien brauchen die Ministerien wieder frisches Personal – | |
nach jetzigem Stand um die 33.000 Lehrkräfte. So viel gibt der Markt nicht | |
her. Richard Le Déon und Paul Messall, die gerne Lehrer geworden wären, | |
stehen ihm nicht mehr zur Verfügung. Le Déon sagt, wenn er es noch mal | |
versucht, dann in seiner Heimat Frankreich. Messall sagt, er hat sich | |
zweimal beworben und wurde nicht genommen. Jetzt laufe er dem Beruf nicht | |
mehr hinterher. In seinem jetzigen Job fühlt er sich willkommen.s | |
11 Jul 2023 | |
## AUTOREN | |
Ralf Pauli | |
## TAGS | |
Schule | |
Bildung | |
KMK | |
Lesestück Recherche und Reportage | |
Lehrermangel | |
Bildungssystem | |
Bildung | |
Bildungschancen | |
Wochenkommentar | |
Schule | |
Personalmangel | |
Sommerferien | |
Schulferien | |
Bildungschancen | |
Bildungschancen | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Lehrermangel an Schulen: Neuer Master und ein kürzeres Ref | |
Ein neues Gutachten macht Vorschläge, wie die Bildungsminister:innen | |
den Unterricht in Zukunft sichern können. Was davon kommt, ist aber unklar. | |
Ein Quereinsteiger als Lehrer berichtet: Das Pochen am Hals | |
Schulen in Deutschland haben ein massives Problem: Immer mehr | |
Lehrer:innen geben auf. Können Quereinsteiger:innen die Lücken | |
füllen? | |
Lehrer*innenmangel in Berlin: Quereinsteiger füllen die Lücke | |
Der Mangel an Lehrer*innen stellt sich nicht ganz so dramatisch dar wie | |
befürchtet. Eingestellt wurden vor allem Personen ohne Lehramtsabschluss. | |
Misere der Schulen: Bildung auf Talfahrt | |
Mehr Digitalisierung ist keine Lösung in der Bildungskatastrophe. Was es | |
braucht, ist mehr Raum für Mitgestaltung und musische Fächer. | |
Bildung anders denken: Raus aus dem Dauerstress | |
Das existierende Schulsystem erzeugt Frust und Dauerstress bei Schülern wie | |
Lehrern. Höchste Zeit für einen Paradigmenwechsel! | |
Schulabschlüsse in Deutschland: Mehr Menschen ohne Qualifikation | |
Der Anteil der jungen Erwachsenen mit höherem Bildungsabschluss ist | |
gesunken. Vor allem die Zahl der Berufsausbildungen geht zurück. | |
Schulstart in Berlin: Entlastung hier, mehr Aufgaben da | |
An Berlins Schulen fehlen wieder Lehrer*innen. Die Bildungssenatorin will | |
den Beruf attraktiver machen, doch ihre Maßnahmen bringen neue Belastungen. | |
Arbeitsbelastung von Lehrer*innen: Schule mal mit Stechuhr | |
Mit einer Studie soll die Arbeitszeit von Berliner Lehrer*innen | |
minutengenau erfasst werden. Die Bildungsgewerkschaft vermutet große | |
Belastungen. | |
GEW-Landeschef zum Schulstart: „Das können wir uns nicht leisten“ | |
In Niedersachsen fehlen zum Schulstart hunderte Lehrer:innen. Stefan | |
Störmer von der GEW warnt vor einer weiteren Überlastung der Lehrkräfte. | |
Freier Eintritt mit Eins im Zeugnis: Schifffahrt für alle! | |
Das Deutsche Museum in München gewährt Einser-Schüler*innen gratis | |
Eintritt. In der bayerischen Schifffahrt ist das Tradition. Das muss sich | |
ändern! | |
Verfrühter Sommerurlaub: An berufstätige Eltern denkt niemand | |
Jetzt gehen wieder die Debatten um die Fehlzeiten kurz vor Ferienbeginn | |
los. Die wahren Schulverweigerer sind jedoch die Schulen. | |
MINT-Förderung in Potsdam: Forscher:innen wachsen draußen | |
In Potsdam lernen Schüler:innen im Klassenraum – und im Botanischen | |
Garten. Das soll sie für Naturwissenschaften begeistern. | |
Fachkräftemangel an Schulen: Hausaufgaben für die Sommerferien | |
Verzweifelte Lehrkräfte, überforderte Kinder: Für das Bildungsministerium | |
gibt es in der schulfreien Zeit viel zu tun. Ein Blick auf die To-do-Liste. |